Im Schatten des Holocaust wurde die Konvention verhandelt. Jüngere Ereignisse und Missbräuche des Völkermordbegriffs belegen ihre Aktualität. Lars Berster, Björn Schiffbauer und Christian J. Tams mit einem Blick zurück und nach vorn.
Vor 75 Jahren, am 9. Dezember 1948, verabschiedete die UN-Generalversammlung mit Resolution 260 A (III) den Text eines fortan als Völkermordkonvention bekannten internationalen Vertrages. Die "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" – so ihre offizielle Bezeichnung – ist damit genau einen Tag älter als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Heute hat sie 153 Vertragsparteien und bildet damit ein Herzstück der konsentierten Wertegrundlage der Weltgemeinschaft. Ihre Vorgaben sind außerdem völkergewohnheitsrechtlich anerkannt.
Das in ihr manifestierte Völkermordverbot ist darüber hinaus Teil des zwingenden Völkerrechts. Es stigmatisiert das "Verbrechen aller Verbrechen" (crime of crimes), d.h. Handlungen, die darauf gerichtet sind, "eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören" (Artikel II). Flankiert wird dieses Verbot von weiteren elementaren Pflichten: Staaten müssen, so schreibt es Artikel I der Konvention fest, Völkermord in ihren nationalen Rechtsordnungen unter Strafe stellen, Straftäter verfolgen und drohende Völkermorde verhindern.
Ob der 75. "Geburtstag" der Völkermordkonvention Anlass zum Feiern gibt, ist keinesfalls ausgemacht. Völkermord ist völkerrechtlich stigmatisiert, aber findet weiterhin statt. Die furchtbaren Massaker an den Tutsi in Ruanda und an bosnischen Muslimen in Srebrenica hinterlassen auch nach gut einem Vierteljahrhundert tiefe Spuren. Im vergangenen Jahrzehnt sind – von der Weltöffentlichkeit teils kaum beachtet – die Jesiden im Nordirak Opfer genozidaler Handlungen geworden. Ob die gewaltsame Unterdrückung der Rohingya durch das Militär Myanmars ebenfalls als Völkermord einzustufen ist, prüft derzeit der Internationale Gerichtshof in Den Haag.
In einem weiteren Verfahren muss sich der Gerichtshof mit dem politischen Missbrauch des Völkermord-Vorwurfs auseinandersetzen: Die Russische Föderation versuchte Anfang 2022 ihren Angriffskrieg gegen die Ukraine unter anderem mit der (völkerrechtlich hanebüchenen) Behauptung eines Völkermordes an der ethnisch russischen Bevölkerung in der Ost-Ukraine zu rechtfertigen. Die Völkermordkonvention ist kein Allheilmittel – weder gegen Völkermord selbst noch gegen missbräuchliche Vorwürfe.
Völkerrechtliche Verträge treffen Wertentscheidungen
Abtun sollte man sie dennoch nicht. Völkerrechtliche Verträge haben auch dann eine Wirkung, wenn sie verletzt oder missbraucht werden. Sie treffen Wertentscheidungen und schreiben Standards fest, an denen das Verhalten von Staaten und Individuen gemessen wird – gerade auch wenn es die rechtlichen Vorgaben missachtet. Diese Orientierungsfunktion erfüllt die Völkermordkonvention. 153 Staaten haben sich zu ihren Werten bekannt. Schon das ist im Völkerrecht viel wert.
Viel wichtiger noch aber ist das oftmals weniger Offensichtliche – nämlich das, was sich innerstaatlich in Umsetzung der Völkermordkonvention beständig, aber geräuschlos abspielt. Die meisten Staaten der Welt haben das Verbrechen des Völkermordes unter Strafe gestellt und damit einen zentralen Auftrag der Konvention zuverlässig umgesetzt. In der justiziellen Praxis vielerorts ist der Völkermordtatbestand alles andere als ein Papiertiger, sondern eine längst etablierte, schneidige Grundlage für Strafverfolgungsbehörden und Gerichte.
Pflicht zur Verhinderung und Verfolgung von Völkermord
Nicht nur in Deutschland, sondern über den gesamten Globus verteilt gewinnt das Völkerstrafrecht, zu dem auch das Verbrechen des Völkermordes zählt, an Bedeutung. Dies verdeutlichen Verfahren wegen Völkermords vor nationalen und internationalen Gerichten – in Deutschland etwa gegen Angehörige des sogenannten "Islamischen Staats". Dieser Erfolg hängt u.a. mit dem Weltrechtsprinzip zusammen. Nach diesem Grundsatz ist auch ohne innerstaatlichen Anknüpfungspunkt eine Strafverfolgung von ausländischen Völkermördern im Einklang mit dem geltenden Völkerrecht zulässig. Die Völkermordkonvention ermöglicht dies, indem sie die Staaten zur Verfolgung von Straftätern ermächtigt.
Mit ihrer Stigmatisierung des Völkermordes als Völkerrechtsverbrechen hat sie Impulse der Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg und Tokio aufgenommen und einem Völkerstrafrecht den Weg gebahnt, das Menschen und Gruppen schützt. Hergebrachte Rechtsinstitute des allgemeinen Völkerrechts, vor allem das Interventionsverbot und dessen Ausprägungen wie u.a. das Regime der staatlichen Immunität, wurden erstmalig mit dem verbindlichen Bekenntnis der Völkermordkonvention zu einer weltweiten Verhinderungs- und Strafverfolgungspflicht. Wer an einem Völkermord beteiligt ist, soll sich nirgendwo mehr hinter einen staatlichen Souveränitätspanzer verstecken können, so die klare Botschaft. Sie ist heute aktueller denn je – und wäre ohne die Völkermordkonvention womöglich so nie entsendet worden.
Vor 75 Jahren verhandelten die Staaten den Vertragstext im Schatten des Holocaust. Nur vier Jahre vor Verabschiedung der Völkermordkonvention hatte Raphael Lemkin, ihr geistiger Vater, den Begriff "Genocide" in seinem Werk über die "Herrschaft der Achsenmächte im besetzten Europa" in die Debatten eingeführt. In Kraft trat die Konvention am 12. Januar 1951 – weniger als sechs Jahre, nachdem Truppen der Roten Armee Auschwitz befreit hatten.
Neue Herausforderungen für Völkermordkonvention
Heute muss die Konvention neuen Herausforderungen gerecht werden. Einige Schlaglichter mögen das verdeutlichen: Wie weist man Verantwortlichen nach, dass sie tatsächlich die Absicht hatten, eine "Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören"? (Nur selten ist die für das Verbrechen des Völkermords zentrale Vernichtungsabsicht so klar dokumentiert wie in den Protokollen der Wannsee-Konferenz.) Was müssen Staaten tun, um ihrer in der Konvention festgeschriebenen Pflicht, drohende Völkermorde zu verhindern, nachzukommen? Sind Proteste ausreichend? Müssen Staaten Sanktionen ergreifen? Und wenn ja, wie kann man verhindern, dass Staaten eine solche "Lizenz" missbrauchen?
Antworten auf diese Fragen müssen im modernen Völkerrecht gefunden werden; die Debatten aus den Jahren 1947 und 1948 geben allenfalls Impulse. Antworten werden auch gefunden, etwa in den Entscheidungen internationaler und nationaler Strafgerichte, die den Begriff der Vernichtungsabsicht konkretisiert haben. Aktuell sind außerdem die Verfahren zwischen der Ukraine und Russland sowie zwischen Gambia und Myanmar vor dem Internationalen Gerichtshof anhängig. Mit Spannung wird erwartet, wie die Richterinnen und Richter in Den Haag die Völkermordkonvention in diesen Verfahren auslegen und anwenden werden.
Antwort auf den Holocaust – und Auftrag für die Zukunft
Wie in anderen Bereichen des Völkerrechts gilt gleichermaßen hier: Die Völkermordkonvention ist ein "living treaty". Auch 75 Jahre nach ihrer Verabschiedung entwickelt sie sich fort. Diese rechtliche Evolution muss neuen tatsächlichen Entwicklungen gerecht werden, andererseits die Grundentscheidungen der Konvention berücksichtigen. Letzteres heißt vor allem: Die evolutive Auslegung darf das Kernanliegen der Konvention nicht aus den Augen verlieren. Das Ziel ist es, mit "Völkermord" ein spezifisches Verbrechen zu definieren, das durch die planmäßige Vernichtung von Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet ist. Dieses besondere Unrecht rechtfertigt die Bezeichnung als crime of crimes und muss erkennbar bleiben. Das war schon vor 75 Jahren so und gilt auch heute noch. Wo genozidale Handlungen erkennbar sind, darf und muss ein Völkermord dann auch als solcher benannt werden – und zwar selbst dann, wenn es um Geschehnisse aus Zeiten vor Inkrafttreten der Völkermordkonvention geht. Die Konvention war nämlich von Anfang an darauf angelegt, dass sich vergangenes Unrecht in der Zukunft nicht wiederholt.
Zwar ist die Konvention selbst nicht rückwirkend auf Sachverhalte von vor 1948 anwendbar. Aber sie erkennt ausdrücklich an, dass "Völkermord der Menschheit in allen Zeiten der Geschichte große Verluste zugefügt hat". Im Lichte dessen ist es zulässig und angemessen, die planmäßige Vernichtung von Bevölkerungsgruppen auch dann als "Völkermord" beim Namen zu nennen, wenn die Verbrechen vor Verabschiedung der Konvention verübt wurden. Dies ist für den Holocaust ganz unbestritten, aber gilt etwa auch für Verbrechen an den Herero und Nama im früheren Deutsch-Südwestafrika oder an den Armeniern im Osmanischen Reich: "naming and shaming" ist kein Ersatz für die Aufarbeitung von Verbrechen, aber kann das Leid von Opfergruppen anerkennen und mittelbar zukünftige Völkermorde zu verhindern helfen.
Die Völkermordkonvention ist Antwort auf den Holocaust – und zugleich Auftrag für die Zukunft. Sie setzt das völkerrechtliche Ausrufezeichen hinter die Forderung: "Nie wieder!" Die aufrichtigen Mitglieder der Weltgemeinschaft verpflichtet sie, sich für die friedensbasierte Völkerrechtsordnung wirkungsvoll einzusetzen, weil die "Befreiung der Menschheit von [der] verabscheuungswürdigen Geißel" des Völkermords nur durch "internationale Zusammenarbeit" gelingen kann. Das mag altmodisch klingen, ist aber seit dem 9. Dezember 1948 zeitlos aktuell.
Prof. Dr. Lars Berster ist Professor für deutsches und internationales Strafrecht an der Leuphana Universität Lüneburg, Prof. Dr. Björn Schiffbauer ist Professor für öffentliches Recht, Europäisches und Internationales Recht an der Universität Rostock, Prof. Dr. Christian J. Tams ist Professor für Völkerrecht an der University of Glasgow sowie an der Leuphana Universität Lüneburg. Zum 75-jährigen Jubiläum der Völkermordkonvention erscheint die zweite Auflage ihres englischsprachigen Kommentars "The Genocide Convention – Article-by-Article Commentary" in der Verlagsgemeinschaft Beck/Nomos/Hart. Zwei Wochen lang ist die General Introduction des Kommentars frei zugänglich.
75 Jahre nach Verabschiedung der Völkermordkonvention: . In: Legal Tribune Online, 09.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53376 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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