Um das Gleichstellungsgebot aus Art. 3 GG umzusetzen, müsste auch das Steuersystem hinterfragt werden, meint Ulrike Spangenberg. Nicht nur beim Ehegattensplitting.
Für Elisabeth Selbert, eine der vier Frauen im Parlamentarischen Rat, war es selbstverständlich, dass Frauen Männern in allen Rechtsgebieten gleichgestellt werden müssen - und nicht etwa nur die gleichen "staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten" erhalten, wie es die Weimarer Reichsverfassung vorsah und auch der ursprüngliche Vorschlag für Art. 3 Abs. 2 GG.
Da es in den eigenen Reihen an Unterstützung fehlte, rief sie die Frauen der Bundesrepublik zum Protest auf, und dank der berühmt gewordenen "Waschkörbe voller Eingaben" konnte Selbert die noch heute gültige Formulierung durchsetzen.
Verfassungsrichter 1953: Art. 3 ist eine "echte Rechtsnorm"
Mit weitreichenden Folgen: Das Bundesverfassungsgericht bestätigte 1953, dass es sich bei Art. 3 Abs. 2 GG tatsächlich um eine "echte Rechtsnorm" handele, die den allgemeinen Gleichheitssatz konkretisiere. Mann und Frau seien demzufolge auch im Bereich von Ehe und Familie gleichberechtigt. Das führte dazu, dass zahlreiche Normen des Bürgerlichen Gesetzbuch geändert werden mussten.
Heute wird Art. 3 Abs. 2 GG als Gebot tatsächlicher Gleichberechtigung interpretiert, das nicht nur die formalrechtliche Gleichbehandlung meint, sondern die Lebenswirklichkeit einbezieht. Bei der Gestaltung und Prüfung rechtlicher Normen sind deshalb die sozioökonomischen Lebensrealitäten von Frauen und Männern in den Blick zu nehmen und tatsächliche Benachteiligungen zu vermeiden.
Das mit diesem Verständnis einhergehende Verbot mittelbarer Diskriminierung hat vor allem im Arbeits- und Sozialrecht dazu geführt, dass Normen gestrichen wurden, die geschlechtsneutral erscheinen, aber faktisch zulasten von Frauen wirken. So war beispielsweise der Ausschluss von Teilzeitbeschäftigten aus der betrieblichen Altersvorsorge unzulässig, da vor allem Frauen in Teilzeit arbeiten.
Traditionelle Rollenverteilung im Steuerrecht
Im Steuerrecht hat Art. 3 Abs. 2 GG in siebzig Jahren demgegenüber kaum Beachtung gefunden, obwohl hier einige Regelungen zu finden sind, die Frauen benachteiligen. Auch das EU-Parlament hat Anfang des Jahres eine Entschließung zur Gleichstellung der Geschlechter und Steuerpolitik in der EU verabschiedet, in der auf zahlreiche gleichstellungspolitisch problematische Auswirkungen des Steuersystems und den entsprechenden Reformbedarf hingewiesen wird.
Das prominenteste Beispiel in Deutschland ist die gemeinsame Einkommensbesteuerung von Eheleuten. Das bereits 1958 eingeführte Ehegattensplitting sorgt im Zusammenspiel mit der Lohnsteuerklasse V dafür, dass es sich am Ende von Elternzeit und Elterngeld finanziell oft nicht lohnt, wenn beide Eltern erwerbstätig sind.
Dazu kommt der Freibetrag für die Betreuung, Erziehung und Ausbildung eines Kindes, der die eigene Betreuung der Kinder honoriert. Da Frauen im Durchschnitt weniger verdienen, sind es oft die Mütter, die zu Hause bleiben oder allenfalls geringfügig arbeiten.
Zu Hause bleiben lohnt sich, wenn die Ehe hält
Minijobs sind steuerfrei und mindern den Splittingvorteil nicht. Auf lange Sicht ist jedoch auch der Minijob eine Falle: im Hinblick auf Qualifikation, Einkommen und Rente. Die Konstruktion funktioniert zudem nur, solange das Einkommen des Ehemanns tatsächlich ein "Haushaltseinkommen" ist und die Ehe hält. Im Fall der Scheidung gilt nämlich seit 2008 das Prinzip der eigenständigen Existenzsicherung. Damit wird während der Ehe die finanzielle Abhängigkeit vom Partner befördert und nach der Scheidung plötzlich die finanzielle Selbstständigkeit vorausgesetzt.
Die Erwerbstätigkeit nach der Familiengründung ist aber auch deshalb teuer, weil erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten im Steuerrecht nach wie vor als private Aufwendungen gelten. Die Kosten für den Kindergarten sind daher - anders als der Dienstwagen – steuerlich nur begrenzt absetzbar.
Einen Teil muss man selbst bezahlen. Hier spiegelt das Einkommensteuerrecht immer noch das Bild des vermeintlich normalen (männlichen) Steuerpflichtigen, für den die Kosten der Kinderbetreuung nicht relevant sind, weil sich seine Frau zu Hause um die Kinder kümmert. Trotz dieser Nach-teile, die faktisch überwiegend Frauen treffen, werden die Besteuerung von Ehe und Familie, vor allem aber das Ehegattensplitting als neutrale Besteuerung gerechtfertigt: Frauen müssten ja nicht zu Hause bleiben…
Geschlechtergerechte Umverteilung durch das Steuersystem?
Jenseits von Ehe und Familie werden Steuern noch seltener als Benachteiligung von Frauen diskutiert. Im Gegenteil: die progressive Besteuerung des Einkommens benachteilige – so ein häufig gehörtes Argument – einkommensbedingt eher Männer. Tatsächlich kann der progressive Steuertarif im Einkommensteuerrecht zu einer Umverteilung von oben nach unten beitragen, denn: je höher das zu versteuernde Einkommen, desto höher der Anteil, der als Steuer an den Staat abzuführen ist. Damit kann ein progressiver Steuertarif - rechtlich zulässig – den Ausgleich der Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern befördern.
Der progressive Steuertarif trägt allerdings nur begrenzt zu mehr Geschlechtergerechtigkeit bei. Zum einen ist das deutsche (Einkommens-)Steuerrecht durchsetzt von Steuervergünstigungen. Beispiele dafür sind die Steuerfreistellungen für Sonntags- und Nachtarbeit oder die steuerliche Förderung zusätzlicher Altersvorsorge. Steuervergünstigungen mindern in der Regel das zu versteuernde Einkommen und schwächen damit den Effekt der Progression, denn hier gilt: Je höher das Einkommen, desto höher die Steuerentlastung. Das mag auf den ersten Blick gerecht erscheinen, denn wer viel Steuern zahlt, kann eben viel sparen.
Steuervergünstigungen sind jedoch eigentlich staatliche Subventionen, die über das Steuerrecht vergeben werden. Vor diesen Hintergrund stellt sich die Frage, ob es (geschlechter-)gerecht ist, dass derartige Subventionen mit dem Einkommen steigen. Angesichts eines Gender Pension Gaps von 53 Prozent muss gerade die steuerliche Förderung der Altersvorsorge überdacht werden, zumal diese Art der Förderung Frauen auch aufgrund von Erwerbs- und Arbeitsmarktstrukturen seltener erreicht. Auswertungen aus Österreich belegen, dass Steuervergünstigungen Männern generell häufiger zugute kommen. Einzige Ausnahme: der Absetzbetrag für Alleinerziehende.
Niedrige Spitzensteuersätze kommen Männern zugute
Zum anderen gibt es neben der Einkommensteuer eine Vielzahl anderer Steuern, insbesondere die Umsatzsteuer. Die Steuerbelastung durch all diese Steuern – so eine Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung im Jahr 2015 – verläuft bei steigenden Einkommen nur moderat progressiv.
In unteren Einkommensgruppen wirkt das Steuersystem sogar regressiv. Menschen mit wenig Einkommen zahlen also in Relation zu ihrem Einkommen mehr Steuern als etwa Menschen mit mittleren Einkommen. Diese Verteilungswirkungen hängen u.a. mit den Steuerreformen der letzten Jahrzehnte zusammen, in denen es in erster Linie um die Förderung der Wirtschaft ging. Dafür wurden die Spitzensteuersätze der progressiven Unternehmens- und Einkommenssteuern erheblich gesenkt.
Geschlechterdifferenzierte Daten anderer Ländern zeigen, dass derartige Steuersenkungen einkommens- und vermögensbedingt überproportional Männern zugute kamen. Nicht zuletzt resultiert die zunehmende Steuerbelastung unterer Einkommensgruppen – und damit auch Frauen – aus dem steigenden Anteil der Umsatzsteuer. Hier wurden die Steuersätze angehoben, um die Ausfälle der Einkommens- und Unternehmensteuer für den Staatshaushalt zu kompensieren.
Es fehlen umfassende Studien
Inwieweit die beschriebenen Auswirkungen als mittelbare Diskriminierungen gegen Art. 3 Abs. 2 GG verstoßen, muss im Einzelfall vertieft geprüft werden. Gerade im Bereich der Steuerpolitik hat der Gesetzgeber einen erheblichen Gestaltungsspielraum.
Zudem fehlt es häufig an konkreten Zahlen, mit denen sich die tatsächlichen Auswirkungen des Steuersystems auf Frauen und Männer belegen lassen. Daher fordert das EU-Parlament nicht nur geschlechterdifferenzierte Daten, sondern Wirkungsanalysen und Forschung für die Besteuerung von Einkommen, Vermögen, und Konsum.
Nicht zuletzt heißt es seit 1994 in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." Daraus folgt zumindest die Pflicht, geschlechterdifferenzierte Daten zu erheben und gleichstellungsrelevante Verteilungs- und Anreizwirkungen von Steuern zu prüfen, um Benachteiligungen in wirklich allen Rechtsgebieten, einschließlich des Steuerrechts zu vermeiden.
Dr. Ulrike Spangenberg ist Klara Marie Faßbinder-Gastprofessorin an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer.
70 Jahre GG – Gleichstellung von Frauen Art. 3 GG: . In: Legal Tribune Online, 21.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35507 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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