Früher war ein Drückeberger, wer nicht diente. Heute ist die Wehrpflicht ausgesetzt – aber nicht abgeschafft. Als "allgemeine Dienstpflicht" könnte sie noch einmal wiederkommen.
Das Grundgesetz (GG) wird 70 Jahre alt. Das gibt Anlass, um einen Blick auf die wichtigsten Werte der deutschen Gesellschaft zu werfen. Bis zum 23. Mai stellt LTO die wichtigsten Grundrechte vor, ihre Entwicklung und ihre Bedeutung gestern und heute.
Wenn eine Norm gesondert ausgegliedert wird, wie es für die Wehrpflicht und ihre dazugehörigen Regelungen in Art. 12a GG der Fall ist, hat das einen guten Grund. Zum Beispiel, weil der Gesetzgeber eine europäische Richtlinie in nationales Recht umsetzen will, deren Regelungen sonst nirgendwo so wirklich hineinpassen, oder weil er etwas nachträglich ergänzen will.
Bei der Schaffung des Art. 12a GG im Jahr 1968 ging es indes um etwas Elementares. Wollte der Gesetzgeber die Wehrpflicht zunächst irgendwo in der Nähe des Art. 12 Abs. 2 GG (öffentliche Dienstleistungspflicht) verorten, setzte sich letztlich der damalige Rechtsausschuss mit seiner Auffassung durch, dass sich die Wehrpflicht von nichtmilitärischen Dienstleistungen ganz wesentlich unterscheide und deshalb eine eigene Norm brauche.
Er argumentierte: Der Dienst an der Waffe und damit die Pflicht der (männlichen) Bürger, sich für die Verteidigung der Grundwerte wie Freiheit und Menschenwürde einzusetzen, notfalls unter Gefährdung des eigenen Lebens, stelle mehr als eine bloße Ergänzung dar. So einigte man sich mit dem 17. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom Juni 1968 darauf, der Wehrpflicht einen eigenen Artikel im Grundgesetz zu geben.
1968: Gedient wird mit oder ohne Waffe
Dass sich die junge Bundesrepublik nach Schaffung der Bundeswehr 1955 so intensiv mit der Wehrpflicht befasste, hatte damit zu tun, dass sie ihre Armee nach den Erfahrungen aus der NS-Zeit anders aufstellen wollte. Nicht noch einmal sollte es eine rein obrigkeitsgesteuerte Streitmacht geben.
Entsprechend hatte sich die Bundeswehr das Leitbild vom "Staatsbürger in Uniform" gegeben, das dem Gedanken entsprach, dass der Staat, der seine Bevölkerung zu schützen habe, "dieser verfassungsrechtlichen Schutzverpflichtung gegenüber seinen Bürgern nur mit Hilfe eben dieser Bürger" gerecht werden könne, wie das Bundesverfassungsgericht später konstatieren sollte (BVerfG, Urt. v. 13.04.1978, Az. 2 BvF 1/77 u. a.).
Mit Art. 12a Abs. 2 GG schuf die Bundesrepublik zugleich die Möglichkeit, Kriegsdienstverweigerer zum Ersatzdienst (in der Regel Zivildienst) heranzuziehen. Das Grundgesetz garantierte zwar schon von Anfang an in Art. 4 Abs. 3 GG das Recht, den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen abzulehnen. Der Gesetzgeber wollte aber mit den weiterführenden Vorschrift die Akzeptanz der Wehrpflicht in der Bevölkerung erhöhen:
Jemand, der erfolgreich den Kriegsdienst verweigerte, sollte einem "Wugl" ("wasser- und geländegängiges Lastentier", abwertende Bezeichnung für einen Grundwehrdienstleistenden) gegenüber nicht bevorteilt sein, indem er gar keinen Dienst abzuleisten hatte.
2011: Die Wehrpflicht dankt ab
In der Folge leistete über 40 Jahre lang Jahrgang für Jahrgang den (zeitlich immer weiter verkürzten) Grundwehrdienst ab – bis die Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz vom April desselben Jahres ausgesetzt wurde. Entsprechend entfiel auch die Pflicht zum sekundären Ersatzdienst; Zivildienstleistende waren ohnehin schon ab Oktober 2010 nur noch auf eigenen Wunsch einberufen worden.
Die Gründe dafür waren vielfältig. Mit der Europäischen Union kam langanhaltender Frieden, eine große Armee kostete nur unnötig Geld. Außerdem brauchte die Bundeswehr für die Erfüllung ihrer sich ändernden Aufgaben (weg vom Einsatz im Verteidigungsfall hin zu Auslandseinsätzen und besonderen Anforderungen militärischer Bündnisse wie etwa der NATO) besonders ausgebildete (Berufs-)Soldaten, die durch den Grundwehrdienst nicht zu rekrutieren waren.
Auch aus juristischer Sicht gab es zunehmende Bedenken: Die Bundeswehr, die zahlenmäßig immer weiter schrumpfte, konnte es sich nicht (mehr) leisten, vollumfänglich zu mustern. Das führte dazu, dass ein Teil eines Jahrgangs zur Musterung beim Kreiswehrersatzamt geladen wurde, während ein anderer schon gar nicht vorstellig werden musste. Diese Praxis, so die immer lauter werdende Kritik, verstoße gegen den Grundsatz der Wehrgerechtigkeit, wonach nicht Zufall oder Willkür darüber entscheiden dürfen, wer seinen Grundwehrdienst abzuleisten hat.
Ein entsprechendes Verfahren gelangte vom Verwaltungsgericht Köln (Vorlagebeschl. v. 03.12.2008, Az. 8 K 5913/08) nach einem Abstecher zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig schließlich zum BVerfG, das die Vorlage allerdings für unzulässig erklärte (Beschl. v. 22.07.2009, Az. 2 BvL 3/09). Mit der Aussetzung der Wehrpflicht hatte sich die Frage allerdings ohnehin erledigt.
2018: "Allgemeine Dienstpflicht" statt Wehrpflicht?
Ziemlich genau sieben Jahre vergingen, bis das Thema – zumindest indirekt - im Sommer 2018 erneut hitzig diskutiert wurde. Die damalige CDU-Generalsekretärin und heutige Bundesvorsitzende der Partei, Annegret Kramp-Karrrenbauer, löste die Debatte um eine "allgemeine Dienstpflicht" aus. In zahlreichen Gesprächen mit der Parteibasis sei angeklungen, dass Grundwehr- und Zivildienst vielerorts vermisst würden.
Politiker aller Couleur beharkten sich daraufhin. Von einer "sympathischen Idee" und einem "stärkeren Bekenntnis zu unserem Land" auf der einen Seite bis hin zum Staat als unrühmlichem "Volkserzieher", der massive "Freiheitseingriffe" vornehme, auf der anderen Seite war die Rede. Dabei war man sich nicht einmal im Klaren darüber, was genau so eine allgemeine Dienstpflicht vorsehen sollte. Als Diskussionsgrundlage stand nur in etwa fest: Sie sollte für alle jungen Leute gelten und den Dienst in sozialen Bereichen dem Wehrdienst gleichstellen, ihn also nicht nur als sekundäre Ersatzpflicht begreifen.
Unter diesen Voraussetzungen waren sich dann wenigstens die Juristen einig: das bräuchte eine Verfassungsänderung. Art. 12a GG müsste nicht nur die sozialen Dienste explizit in seinen Katalog mit aufnehmen. Auch das Verbot, Frauen zum Dienst an der Waffe zu verpflichten (Abs. 4 S. 2), müsste abgeändert werden. Das dafür die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundesrat wie Bundestag zusammenkommt, ist derzeit nicht sehr wahrscheinlich.
Die Wehrpflicht in ihrer ursprünglichen Ausgestaltung wird also vorerst nicht wiederkommen. Art. 12a GG bleibt solange ein tolles Beispiel für die Idee der "lebendigen Verfassung": Über tote Normen spricht man nämlich nicht.
70 Jahre GG – die Wehrpflicht aus Art. 12a GG: . In: Legal Tribune Online, 11.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35299 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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