In 70 Jahren haben sich Deutschland und seine Gesellschaft sehr verändert. Das stellt das Schulwesen vor Herausforderungen, zeigt Felix Hanschmann anhand eines Grundgesetzartikels, der sehr fragmentarisch anmutet.
Das Grundgesetz (GG) wird 70 Jahre alt. Das gibt Anlass, einen Blick auf wichtige Normen und Werte der deutschen Verfassung zu werfen. Bis zum 23. Mai stellt LTO die wichtigsten Artikel des Grundgesetzes vor. Dieses Mal Prof. Dr. Hanschmann zu Art. 7 GG.
Art. 7 GG enthält lediglich rudimentäre und eklektisch zusammengestellte Regelungen für Teilbereiche des Schulwesens, die ganz unterschiedliche Sachverhalte betreffen. Neben an den Staat adressierten Aufgabenzuschreibungen findet sich die auf den ersten Blick vermutlich überraschende Garantie eines bestimmten Schulfaches; gleichzeitig wird festgelegt, wer für dessen inhaltliche Ausgestaltung verantwortlich ist und wer die konkrete Art und Weise des Unterrichts beaufsichtigt. Daneben sind in Art. 7 GG sektorale Grundrechte enthalten: Erziehungsberechtigte haben das Recht, über die Teilnahme ihres Kindes am Religionsunterricht zu entscheiden, Lehrkräfte dürfen nicht zur Erteilung von Religionsunterricht gezwungen werden und Bürger können Privatschulen gründen und betreiben. Für grundgesetzliche Normen vergleichsweise ausführlich und detailliert werden schließlich Anforderungen an die Genehmigung eben jener Privatschulen normiert.
Obgleich der Schulartikel vor 70 Jahren unter gänzlich anderen gesellschaftlichen Bedingungen entstanden ist und man an ihm wie an vielleicht keiner anderen Norm der deutschen Verfassung den Einfluss der beiden christlichen Kirchen auf die Entstehung des Grundgesetzes ablesen kann, kommt Art. 7 GG in einer nicht nur in religionssoziologischer Hinsicht deutlich pluralistischeren Gesellschaft heute eine nicht zu überschätzende Bedeutung zu.
Nicht nur "Aufsicht", sondern umfassendes Gestaltungsrecht
Deutlich wird dies bereits bei Absatz 1. Zwar wird dort lediglich sehr knapp festgestellt, dass das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates steht. Schon für die insoweit gleichlautende Norm in der Weimarer Reichsverfassung war jedoch anerkannt, dass daraus nicht nur die Befugnis des Staates zur Überwachung der staatlichen Schulen durch Fach-, Dienst- und Rechtsaufsicht folgt. Die Rechtsprechung und der ganz überwiegende Teil der Literatur geht davon aus, dass von dem Begriff der "Aufsicht" darüber hinaus die sogenannte Schulhoheit umfasst ist. Neben der organisatorisch-strukturellen Gestaltung des Schulwesens ermächtigt diese den Staat unabhängig von den Eltern zur Festlegung von Dauer und Ausgestaltung der Schulpflicht sowie zur inhaltlichen Gestaltung, Leitung und Planung des Schulwesens.
Die Konflikte, die in pluralistischen Gesellschaften hieraus entstehen, lassen sich an zahlreichen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen der letzten Jahre ablesen. Eltern melden ihre Tochter vom Schwimmunterricht ab, stören sich an der Vorführung des auf dem gleichnamigen Buch von Otfried Preußler beruhenden Spielfilmes "Krabat" im Unterricht, möchten nicht, dass ihre Kinder in der Schule Mandalas ausmalen oder auf Phantasiereisen gehen, verweigern die Teilnahme ihres Kindes an einem zweitägigen Theaterprojekt unter dem Titel "Mein Körper gehört mir", mit dem Schulkinder für das Thema des sexuellen Missbrauchs durch Fremde oder Familienangehörige sensibilisiert werden, stellen sich gegen die Anwesenheit ihres Kindes bei einer traditionellen Karnevalsveranstaltung in der Schule oder verhindern gar vollständig den Schulbesuch, weil sie ihre Kinder wegen schädlicher Unterrichtsinhalte zu Hause unterrichten möchten. Entsprach die Rechtsprechung solchen Anträgen der Eltern mit Ausnahme des zuletzt genannten so genannten "Homeschooling" in früheren Jahren meist noch großzügig, heben die Verwaltungsgerichte in jüngeren Entscheidungen die Integrationsfunktion der Schule in einer pluralistischen Gesellschaft hervor, was zu einer deutlich restriktiveren Befreiungspraxis führt.
Der Religionsunterricht in einer pluralistischen Gesellschaft
Am Beispiel des Religionsunterrichts, der in den Absätzen 2 und 3 geregelt wird, lassen sich Veränderungen der Gesellschaft ebenfalls wie in einem Brennglas beobachten. In einer religiös homogenen Gesellschaft, in der nahezu die gesamte Bevölkerung einer der beiden großen Kirchen angehört und christliche Inhalte, Regeln, Rituale und Veranstaltungen im Alltag der Menschen fest verankert sind, erzeugt die Garantie des Religionsunterrichts als Schulfach kaum Friktionen. Auch die Tatsache, dass es die Religionsgemeinschaften sind, die die inhaltliche und personelle Verantwortung für den bekenntnisgebundenen Unterricht tragen, weil der religiös-weltanschauliche neutrale Staat sich nicht anmaßen darf, religiöse Grundsätze zu formulieren oder solche gegenüber Schülern mit Wahrheitsanspruch gar zu propagieren, ist vergleichsweise unproblematisch, solange die Akteure bekannt sind und sich kooperative Routinen zwischen den Akteuren über ein Jahrhundert eingespielt haben.
Herausgefordert wird die grundgesetzliche Garantie des Religionsunterrichts aber, wenn neben den beiden christlichen Kirchen eine Vielzahl anderer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften Zugang zur staatlichen Schule fordern. Das beginnt, wie man bei der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts sehen kann, schon bei der Frage, wer dem Staat als Ansprechpartner gegenüber tritt, und reicht bis zu der Konkretisierung jener kooperativen Voraussetzungen, die man für notwendig erachtet, damit eine bestimmte Vereinigung überhaupt als Kooperationspartner des Staates bei der Durchführung des Religions- und Weltanschauungsunterrichts in Betracht kommt.
Selbst wenn man einen solchen Ansprechpartner hat, kann unter Umständen das Aufsichtsrecht des Staates herausgefordert sein, weil die konkreten Unterrichtsinhalte der jeweiligen Gemeinschaft zu grundgesetzlichen Bestimmungen in Widerspruch stehen. Wenn in deutschen Großstädten evangelischer, katholischer, jüdischer, islamischer, alevitischer, buddhistischer, freier christlicher und griechisch-orthodoxer Religions- sowie Weltanschauungsunterricht des Humanistischen Verbandes angeboten wird, erzeugt das nicht nur organisatorische Schwierigkeiten bei der Gestaltung des Stundenplans. Da die Schüler zumindest für die Zeit des Religions- und Weltanschauungsunterrichts in eine Vielzahl kleinerer Gruppen aufgeteilt werden und ihnen alternativ möglicherweise noch der Besuch des konfessionell nicht gebundenen staatlichen Ethikunterrichts offen steht, stellt sich durchaus die Frage, ob die grundgesetzliche Garantie des Religionsunterrichts nicht mit desintegrativen Effekten verbunden ist.
Integrationsgebote im Privatschulwesen
Integration und Desintegration stehen schließlich auch im Zentrum der Privatschulregelungen in Art. 7 Abs. 4, 5 und 6 GG. Einerseits gewährleistet das Grundgesetz dort die Privatschulfreiheit. Die Gründung und der Betrieb von Privatschulen sind grundrechtlich geschützt. Soweit es jedoch um Privatschulen geht, die als Ersatz für öffentliche Schulen dienen, statuiert das Grundgesetz ein Genehmigungserfordernis und konkretisiert die Genehmigungsvoraussetzungen, die unschwer integrationsbezogene Aspekte erkennen lassen.
So darf eine Privatschule, die von Schülern anstatt einer staatlichen Schule besucht und an der ein Schulabschluss erworben werden kann, unter anderem nur dann genehmigt werden, wenn sie der wirtschaftlichen Segregation der Schüler keinen Vorschub leistet. Im Bereich der Grundschule, die prinzipiell von allen Kindern und Jugendlichen in einem bestimmten Schulbezirk unabhängig von der jeweiligen Herkunft und den sozioökonomischen Verhältnissen ihrer Familien gemeinsam besucht werden soll, damit Differenzerfahrungen möglich sind und sich gesellschaftliche Milieus nicht voneinander abschotten, schraubt die Verfassung die Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung noch einmal nach oben. Abgesehen davon, dass Vorschulen, in denen die Kinder höherer Gesellschaftsschichten auf den Besuch höherer Schulen vorbereitet wurden, wie schon in der Weimarer Reichsverfassung ausgeschlossen sind, dürfen private Grundschulen nur zugelassen werden, wenn sie ein besonderes pädagogisches Interesse erfüllen oder eine im staatlichen Schulangebot bestehende Lücke auffüllen.
Während demnach im Bereich der übrigen Privatschulen von einem Vorrang der staatlichen Schule nicht die Rede sein kann und der Staat aufgrund der Privatschulfreiheit die Konkurrenz von Privatschulen auch gegen sich selbst gelten lassen muss, gilt dies in der Grundschule gerade nicht. Hier hat es der Staat durch das von ihm geschaffene Schulangebot selbst in der Hand, die Entstehung eines privaten Bildungsmarktes einzuschränken. Damit trägt die Verfassung, jedenfalls solange die Privatschulregelungen mit ihrem historisch gewollten und im Wortlaut klar zum Ausdruck kommenden integrativen Impetus ernst genommen werden, mit dazu bei, dass der in den letzten Jahren stattfindende Boom der Privatschulen und die dadurch bedingten Homogenisierungs- und Segregationstendenzen im Schulwesen zumindest bei Grundschulen nicht in dem gleichen Ausmaß zu verzeichnen sind wie bei den weiterführenden Schulen.
Der Autor Prof. Dr. Felix Hanschmann ist Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht, und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
70 Jahre GG – der Schulartikel, Art. 7 GG: . In: Legal Tribune Online, 17.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35449 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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