70 Jahre UN-Menschenrechtserklärung: Die größte mora­li­sche Verpf­lich­tung der Welt

Von Marion Sendker

10.12.2018

Die Menschenrechtscharta gilt als wichtigste Erklärung der Vereinten Nationen. Fast alle Staaten der Welt bekennen sich dazu - und fast alle Staaten der Welt halten sich nicht daran. Was die Charta dennoch bewirkt, erläutert Marion Sendker.

Folter in russischen Gefängnissen, Gewalt durch Staatsbeamte gegen Migranten in Amerika, Zwangsprostitution und Menschenhandel in Europa: Aktuelle Menschenrechtsberichte attestieren der Welt das Gegenteil von dem, wozu sie sich seit nun genau 70 Jahren bekennt. "Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller [...] Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet" - wie es so schön in der Präambel der UN-Menschenrechtserklärung heißt - hat die Staatengemeinschaft am 10. Dezember 1948 stolz die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" (AEMR) verkündet. Die Staatengemeinschaft – das waren vor 70 Jahren die 56 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen (UNO), darunter zum Beispiel die USA, die ehemalige Sowjetunion und die Türkei.

Von Anfang an erfuhren die UNO-Menschenrechte viel Zustimmung. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges enthielten sich bei der Abstimmung der UNO-Vollversammlung in Paris nur sechs kommunistische Staaten sowie Saudi-Arabien und Südafrika. Die übrigen 48 Staaten stimmten für die Erklärung.

Inzwischen hat die UNO 193 Mitgliedstaaten, von denen sich auch alle zur Menschenrechtserklärung bekennen. Auf dem Papier lehnt die ganze Welt also zum Beispiel Diskriminierung (Art.2) und Folter (Art.5) ab und schreibt sich stattdessen Werte wie Religionsfreiheit (Art. 18) und freie Meinungsäußerung (Art. 19) auf die Fahnen. Dass die Praxis anders aussieht, ist sowohl der Rechtsnatur der AEMR als auch dem Grundgedanken des Völkerrechts geschuldet: Vieles kann, nichts muss.

Unverbindliche Erklärung mit verbindlichen Folgen

Die Menschenrechtscharta ist zunächst einmal kein völkerrechtlicher Vertrag. Sie ist eine sogenannte Resolution der Vereinten Nationen, also eine Erklärung ohne rechtliche Folgen. Selbst wenn die AEMR zwingendes Völkerrecht wäre: Es gibt keine Weltpolizei und keinen internationalen Mechanismus, der die Einhaltung völkerrechtlicher Vorschriften zwingend durchsetzen kann.

Trotzdem sind die Menschenrechte der UNO mehr als schöne Worte auf Papier, findet der Völkerrechtler Professor Niels Petersen von der Universität Münster. "Die AEMR hat eine nicht zu unterschätzende Vorbildwirkung", sagt er. Denn sie sei Grundlage vieler Staatsverfassungen und bedeutender Verträge geworden. So gehen der Internationale Pakt über bürgerliche Rechte (UNO-Zivilpakt) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNO-Sozialpakt) auf die Menschenrechtscharta zurück. Die Abkommen binden zum Teil mehr als 160 Staaten.*

Die UN-Menschenrechtscharta wirkt auch auf anderer Ebene auf das Völkerrecht ein: Resolutionen der Generalversammlung können nämlich ein Indiz für Völkergewohnheitsrecht sein. "Das heißt, Juristen können die Menschenrechtscharta als Argument dafür nehmen, dass eine bestimmte Norm daraus rechtsverbindlich ist", erklärt der Völkerrechtler. So zitieren manche Verfassungsgerichte, wie beispielsweise das in Kanada, immer wieder Vorschriften der AEMR in ihren Urteilsbegründungen. Auch die Richter in Johannesburg verweisen inzwischen auf die UNO-Menschenrechte - und das, obwohl Südafrika sich bei der Verabschiedung der Charta 1948 noch enthalten hatte.

Die UNO-Menschenrechte: Wann und wie Völkergewohnheitsrecht entsteht

Auch wenn die Menschenrechtscharta für sich genommen niemals mehr war und sein wird als eine unverbindliche Empfehlung der UNO, so sind einzelne Vorschriften daraus inzwischen Teil des Völkergewohnheitsrechts und damit verbindlich für alle Staaten der Welt geworden - egal, ob sie die Charta anerkennen oder nicht. Denn im Völkerrecht gibt es zwei wesentliche Rechtsquellen: Das sind zum einen völkerrechtliche Verträge, die zwischen Völkerrechtssubjekten wie Staaten geschlossen werden und die Vertragspartner unmittelbar binden. Zum anderen ist es aber auch das Völkergewohnheitsrecht. "Das ist ungeschriebenes Völkerrecht mit derselben Rechtsverbindlichkeit wie völkerrechtliche Verträge", erklärt Petersen. Wann eine Norm zum Völkergewohnheitsrecht aufsteigt, hängt insbesondere von der Staatenpraxis ab, also der allgemeinen Übung (consuetudo) getragen von der gemeinsamen Rechtsüberzeugung (opinio iuris). Klare Grenzen sind hier schwer zu ziehen. Das Verbot der Sklaverei (Art. 4) oder das Folterverbot (Art. 5) sind aber gemäß der herrschenden Meinung längst verbindliches Völkerrecht.

"Je stärker die ursprüngliche Zustimmung, desto weniger wird man wohl warten müssen, bis eine Norm verbindlich wird", sagt Petersen. Angesichts der großen Zustimmung zur AEMR sei relativ schnell klar gewesen, dass einige Vorschriften daraus völkergewohnheitsrechtliche Verbindlichkeit erlangen würden. Der Völkerrechtler nennt dazu ein aktuelles Gegenbeispiel: der umstrittene UNO-Migrationspakt, der am Montag in Marrakesch angenommen wurde. In Belgien löste die Diskussion um die Erklärung am Sonntag eine Regierungskrise aus und auch im Bundestag wird seit Wochen ungewohnt laut über mögliche Auswirkungen des Paktes gestritten.

"Je mehr Staaten sich weigern, diesem zuzustimmen, desto geringer ist natürlich die Autorität des Paktes und desto geringer ist auch seine Indizwirkung, womit die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass Normen daraus als Völkergewohnheitsrecht Verbindlichkeit erlangen", sagt Petersen zur Diskussion.

Soft Law: Menschenrechte als Teil der Etikette?

Die Bedeutung des Migrationspaktes werde sich eher erst einmal auf das Gebiet des sogenannten Soft Laws beschränken, schätzt der Völkerrechtler. Das ist ein umstrittener Begriff, der Vorschriften meint, die irgendwie in die Völkerrechtsecke gestellt werden, von denen aber keine rechtliche Wirkung ausgeht und die deswegen streng genommen nicht einmal als "Recht" oder "Law" bezeichnet werden dürften. Soft Law sei nur so etwas wie eine moralische Verpflichtung, sagt Petersen. "Soft Law ist anerkannt, so wie es in unserer Gesellschaft anerkannt ist, sich die Hand zu geben. Das macht man, obwohl es nicht gesetzlich vorgeschrieben ist. Es ist eben Teil der Etikette." Auch die Menschenrechtscharta ist grundsätzlich Soft Law. So schwach dieses rechtlich ist, so wichtig ist es auf diplomatischer und politischer Ebene: "Die Staaten halten sich möglicherweise aus Eigeninteresse und aus moralischer Verpflichtung daran", meint Petersen.

Menschenrechte einzuhalten gehört also zum guten Ton. Dass dennoch so oft gegen die internationale Etikette verstoßen wird, schmälert Petersens Meinung nach nicht die Bedeutung der Menschenrechtserklärung: Einige Staaten würden sich sogar nur an einige Menschenrechte halten, weil es die AEMR gibt. "Es gibt außerdem Studien, die zeigen, dass Nichtregierungsorganisationen oft mit der Menschenrechtscharta erfolgreich Druck auf Regierungen ausüben." Die Menschenrechtserklärung der UNO sei zwar nicht perfekt, aber: "Es gibt keine hundertprozentige Durchsetzungsmöglichkeit. Also spricht doch viel dafür, dass die Welt mit der Menschenrechtscharta besser ist als ohne."

Der Vatikan bleibt dagegen

Im Laufe der vergangenen 70 Jahre hat es immer wieder Kritik an den Menschenrechten gegeben. Arabische Staaten oder Russland haben sich sogar zusätzlich eine eigene Menschenrechtserklärung geschaffen. Auch in Asien und in Afrika wurde diskutiert, ob nicht die UNO-Menschenrechte eine westliche Konzeption seien. "Das richtet sich aber eher gegen das Konzept von Menschenrechten als solches und nicht so sehr gegen die allgemeine Erklärung", schätzt Petersen.

Wirklich gegen die AEMR stellt sich bisher nämlich nur der Vatikan. Er ist die einzige Nation der Welt, die die UN-Menschenrechtserklärung nach wie vor ablehnt. Der Moraltheologe Professor Peter Schallenberg von der Universität Paderborn schätzt, dass sich daran auch so schnell nichts ändern wird. Vor allem mit die Gleichstellung von Mann und Frau sei mit den Vorstellungen der Kirche schwer zu vereinen. Das führe zu unüberbrückbaren Differenzen: "Ein wichtiges Feld ist das der sexuellen Selbstbestimmung und das, was unter Gender-Mainstream fallen würde. Dann ist da die Frage des Rechtes auf Abtreibung, auf Beendigung des Lebens und so weiter." Es seien also vor allem diese Werte aus der Bio- und Sexualethik, die den Vatikan an der AEMR zweifeln ließen.

Hinter der ablehnenden Haltung des Heiligen Stuhls steckt aber vor allem ein grundsätzlich anderes Verständnis von Menschenrechten. Denn der Vatikan beruft sich auf das Naturrecht. "Das heißt, jeder Mensch hat von Natur aus dadurch, dass er als Mensch gezeugt und geboren wird, unveräußerliche Rechte. Und die Kirche hat gesagt: Die gehen auf den Schöpfer zurück, der die Natur des Menschen geschaffen hat – deswegen Naturrecht", erklärt Schallenberg. Der Vatikan wolle sich eben nicht von anderen Staaten vorschreiben lassen, welche Rechte dem Menschen von Geburt an zustehen. Das habe allein Gott zu bestimmen - und nicht sich im schlimmsten Fall ändernde Mehrheitsmeinungen in der UNO. Logisch sei das nicht, findet Schallenberg, immerhin hat die AEMR mit ihrem 70-jährigen Bestehen Beständigkeit bewiesen. Seiner Meinung nach täte der Vatikan gut daran, die Charta zu unterzeichnen.

Dass die Kirche in Sachen Menschenrechten mit Verweis auf das Naturrecht gern international als Moralapostel auftritt, wirkt auf den ersten Blick scheinheilig. Man könnte aber auch sagen: Der Vatikan ist der vielleicht einzige ehrliche Staat der Welt, weil er nicht unterzeichnet, was er nicht halten kann und will.

*Anm. d. Red.: Satz gestrichen am 11.12.2018, 10:01 Uhr

Zitiervorschlag

70 Jahre UN-Menschenrechtserklärung: . In: Legal Tribune Online, 10.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32627 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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