Zeugnisverweigerung: Die Nicht­ver­wer­tung des Schwei­gens

von Martin Rath

02.04.2018

Was nützt es dem Menschen, wenn er schweigt, sein Schweigen jedoch im Strafprozess negativ gewürdigt wird? Mit Beschluss vom 2. April 1968 wechselte der BGH in dieser Frage von der Moral zur Psychologie. Von Martin Rath.

Der Mensch redet gerne, vor allem, wenn es um Geheimnisse geht. Nicht von ungefähr belegt die römische Kirche ihre Priester, die das Beichtgeheimnis verletzen, mit harten Sanktionen. Das Anwaltsgeheimnis schützt die Kommunikation kaum weniger gründlich. Menschen beider Berufsgruppen droht bei Verstößen die Exkommunikation, also der völlige soziale Ausschluss von Ihresgleichen.

Weil diese Sanktionen eher selten verhängt werden, allein schon weil Verschwiegenheit und der Ruf der Vertrauenswürdigkeit dem natürlichen Interesse der Berufsträger entsprechen, mag der Wert ihrer Androhung eher in einem sekundären Effekt liegen: Sie stellen für die Geheimnisträger offenkundig klar, dass es dem natürlichen Drang des Menschen widerspricht, eine rare Information für sich zu behalten, sie schaffen Aufmerksamkeit dafür, dass Verschwiegenheit eine eher anti-intuitive Eigenschaft ist.

Entsprechend zahlreich fallen die Empfehlungen an die potenziellen Mandanten aus, sich gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaft in Geheimnisse zu hüllen, um diesen die Arbeit im Dienst des sogenannten staatlichen Strafanspruchs nicht allzu sehr zu erleichtern – man teilt hier ein wenig die eigene Erfahrung mit, dass Schweigen anti-intuitiv ist.

Unverwertbarkeit des Schweigens

Fast mutet es daher wie ein hermeneutisches Versteckspiel an, dass der Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 2. April 1968, mit dem er der Strafjustiz die Unbefangenheit im Umgang mit dem Schweigen von Zeugen nahm, in einer Kürze verbreitet wird, die ein wenig gewollt wirkt (Az. 5 StR 153/68).

Das Landgericht Berlin (West) hatte es in einem Verfahren zum Vorwurf der Zuhälterei zulasten des Angeklagten gewürdigt, dass seine Verlobte – der BGH nennt sie "Braut" – in der Hauptverhandlung das Zeugnis verweigert hatte. Die Berliner Richter mochten darin nur den Wunsch der "Braut" erkennen,  den Angeklagten nicht belasten zu müssen.

Der BGH erklärte – entgegen einer seit mindestens 50 Jahren gepflegten Rechtsprechung –, dass diese Verwertung der Zeugnisverweigerung unzulässig sei: "Denn wenn der Angehörige damit rechnen muß, daß das Gericht seine Aussageverweigerung gegen den Angeklagten verwertet, kann er von seinem Recht nicht frei und unbefangen Gebrauch machen. Diese Freiheit darf bei ihm ebensowenig beeinträchtigt werden wie bei einem Beschuldigten oder Angeklagten, der keine Angaben zur Sache machen will."

Verwertbarkeit des Schweigens

Gerade einmal 16 Jahre zuvor hatte sich der BGH mit einigem Aplomb spiegelbildlich zur Verwertbarkeit der Zeugnisverweigerung geäußert.

Eine Frau war 1946 von ihrem Gatten geschieden worden, nachdem sie unter Eid ausgesagt hatte, mit ihren Schwager ehewidrige Zärtlichkeiten ausgetauscht zu haben. Aussagen dieser Art wird es – bis das scheidungsrechtliche Zerrüttungsprinzip dem ein Ende bereitete – damals zuhauf gegeben haben: Einer der scheidungswilligen Eheleute legte bedarfsweise einen Meineid über einen von Rechts wegen anerkannten Trennungsgrund ab, nach Möglichkeit, ohne sich selbst dabei mit mehr als den zivilrechtlichen Folgen zu belasten.

Ein Jahr nach der Aussage zu den ehewidrigen Zärtlichkeiten – mehr war hier zu vermeiden – erklärte die Frau im Rahmen eines Rechtsstreits um den Hausrat: "Mein Mann wollte geschieden sein, obwohl ich ihm keinen Grund gegeben habe."

Der zärtlich oder nicht zärtlich gewesene Schwager verweigerte im nunmehr über die Frau hereinbrechenden Strafverfahren wegen Meineids die Zeugenaussage.

Das Landgericht Frankfurt am Main sah sich erklärtermaßen an der Verwertung der Schweigens gehindert, weil dies dem Gedanken widerspreche, dass Angehörige sich untereinander nicht belasten müssten. Dies trug dem Landgericht den Tadel des BGH ein, über den Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 261 Strafprozessordnung (StPO) geirrt zu haben.

Jedenfalls hätten die Frankfurter Richter nicht ausdrücklich ihre rechtliche Überzeugung dokumentieren sollen, das Schweigen des zur Zeugnisverweigerung berechtigten Angehörigen nicht verwerten zu dürfen.

Lametta vom Reichsgericht

Diesen Tadel stützte der BGH ausdrücklich – und ohne direkten Ausweis als Zitat teils wörtlich – auf ein Urteil des Reichsgerichts vom 22. Mai 1920 (Az. IV 758/19), in dem es – in historischer Nummerierung der Vorschriften – heißt:

"Die Tatsache, daß ein Zeuge sein Zeugnis auf Grund des § 51 StPO. verweigert hat, darf der Tatrichter wie jede andere Tatsache aus dem Ergebnisse der Beweisaufnahme, gemäß § 260 StPO. nach seiner freien Überzeugung würdigen […]. Dadurch wird die Befugnis zur Verweigerung des Zeugnisses nicht 'illusorisch' gemacht. Denn das Gesetz hat dem Zeugen nicht das Recht verliehen, durch Zeugnisverweigerung die Überführung seines Angehörigen zu verhindern, sondern er ist nur von der Verpflichtung – die ohne den § 51 StPO. bestehen würde – entbunden, zur Belastung seines Angehörigen beizutragen. Es ist das geschehen aus Schonung und aus Rücksicht auf den Gewissenszwiespalt, in den die gesetzliche Verpflichtung zur Aussage den Zeugen bringen könnte. Dieser Inhalt des Zeugnisverweigerungsrechts wird in keiner Weise dadurch berührt, daß der Richter nach der Zeugnisverweigerung daraus im Wege freier Beweiswürdigung seine Schlußfolgerungen zieht; der Zeuge ist zur Aussage gegen seinen Angehörigen nicht gezwungen und daher auch in keinen Pflichtenwiderstreit versetzt worden."

Paradigmenwechsel ohne große Worte

Zur Begründung, warum im Jahr 1968 das psychologische Momentum, auch durch Schweigen einen Angehörigen belasten zu können, eine Bedeutung angenommen hatte, die ihm bis dahin nicht zugeschrieben worden war, führte der BGH im Beschluss vom 2. April 1968 nicht mehr als die schon zitierte apodiktische Gleichsetzung an, diese Freiheit dürfe beim Angehörigen ebensowenig beeinträchtigt werden wie bei einem Beschuldigten oder Angeklagten. Für Beschuldigte und Angeklagte hatte sich der BGH drei Jahre zuvor entsprechend positioniert.

Hatte das Reichsgericht 1920 noch derart unbefangen moralisch argumentiert, dass es nur um Haaresbreite nicht auch den rein faktischen, rechtlich erst für unerheblich zu erklärenden psychologischen Affekt beim potenziellen Zeugen negierte ("Dadurch wird die Befugnis zur Verweigerung des Zeugnisses nicht 'illusorisch' gemacht."), setzte sich der BGH nun nicht weiter damit auseinander, warum er die Unbefangenheit des Zeugen mit der Unbefangenheit eines Angeklagten gleichsetzte, vom Recht Gebrauch zu machen, in der Sache zu schweigen.

Vielleicht ist es ja auch besser so

Selbst wenn wohl die Frage, warum ein Mensch überhaupt ein Geheimnis pflegt, mindestens ebenso sehr die nassforsche Neugier weckt, wie der Gegenstand der Verschwiegenheit selbst den Antrieb zum Ausplaudern – so der sarkastische Blick auf die menschliche Natur –, muss man dem BGH des Jahres 1968 vielleicht dankbar dafür sein, sich nicht näher zur Psychologie der Verwandtschaftsverhältnisse geäußert zu haben, soweit es um das Recht zu schweigen geht. Es genügt ja, wenn die rechtsgelehrten Justizpraktiker wissen, was sie dem Mandanten empfehlen oder welches Schweigen im persönlichen Umfeld des Angeklagten sie nicht verwerten dürfen.

Denn in der Tendenz versteigt sich der Gesetzgeber – bis hin zur Verfassungsänderung – bekanntlich gerne dazu, dass er es im Zweifel gar nicht leiden kann, wenn der Mensch vor dem Staat Geheimnisse hat.
Da mag es denn ganz gut sein, dass sich der BGH am 2. April 1968 nicht zu ähnlich apodiktischen Begründungen verstiegen hat wie das Reichsgericht knapp 50 Jahre zuvor. Schließlich stützt Schweigen womöglich auch hier eine Rechtsposition.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Zeugnisverweigerung: . In: Legal Tribune Online, 02.04.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27815 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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