Seit ihrer Einführung im Kriegsjahr 1916 ist die Sommerzeit umstritten. Eine Debatte zu ihr fiel im Bundestag am Donnerstag COVID-19 zum Opfer – bedauerlich, denn der Erkenntnisgewinn könnte unter "Laborbedingungen" erheblich sein.
"Der Landwirtschaftsrat als Vertreter der bayerischen ackerbautreibenden Klasse hat schon vor einiger Zeit beschlossen, es möge die Sommerzeit auf keinem Fall je wiederholt werden. […] Der Landwirt brauche bei der neuen Zeit am Morgen zum Melken und Füttern Licht; das mache sich bei dem Mangel an Petroleum überall dort geltend, wo elektrisches Licht fehle. […] Während der Erntezeit mache es sich unangenehm fühlbar, dass Feld und Wiese eine Stunde später abtrocknen, dass die Nachmittagsarbeit dann einsetze, wenn die Sonne am heissesten brenne, und dass es Feierabend sei, wenn das Tageslicht noch weitere Arbeit zulasse."
Zu den Zierden der bayerischen Eigenstaatlichkeit zählte einst bekanntlich, dass sich ausländische Diplomaten beim damals noch geblütsheiligen Staatsoberhaupt des Bayernlandes akkreditierten. Die eingangs zitierten Zeilen sind einem Schreiben vom 29. September 1916 entnommen, mit dem der Kaiserliche und Königliche (k.u.k.) Gesandte Österreich-Ungarns zu München seinem Minister nach Wien über eine der neuesten deutschen Machenschaften zu berichten hatte – die Einführung der Sommerzeit im Mai 1916.
Neben dem Wehklagen der Landwirte kamen im Bericht des kakanischen Gesandten ausführlich auch die Vorzüge und Ambivalenzen der Sommerzeit zur Sprache. Während die bayerische Bauernschaft leide, begrüße man in den Städten die Einführung der Sommerzeit überwiegend, selbst wenn die Einsparung bei der künstlichen Beleuchtung nicht wirklich sicher habe gemessen werden können.
Die Kinder in den Schulen und die Arbeiter in den Fabriken fühlten sich zwar um den Schlaf gebracht, doch biete die längere Helligkeit am Abend den Arbeitern und Bürgern mehr Gelegenheit, sich aktiv vom Tagewerk zu erholen – in Kriegszeiten gern in der Kleintierhaltung und sonstigem Schrebergärtnertum.
Selbstverständlich befragte die k.u.k. Gesandtschaft die betroffenen Stadt- und Landleute nicht selbst, sondern kolportierte, was wahre Experten erklärten: "Vor allem seien die Aerzte Freunde der Sommerzeit, die es begrüssen, dass Arbeitern und Angestellten in den Städten die Möglichkeit gegeben werde, am Abend bei Tageslicht der Erholung nachzugehen. Etwas ungünstiger werde der Einfluss der Sommerzeit auf die heranwachsende Jugend beurteilt. Durch Verlegung der Schulstunden liesse sich aber Abhilfe schaffen."
Regelungsgeschichte der Sommerzeit seit 1916
Obwohl die deutsche Sommerzeit-Bilanz des Jahres 1916 nicht einheitlich gut ausfiel, sollte sich Österreich-Ungarn alsbald anschließen. Regelungsgrundlage waren dort wie hier kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetze.
In Deutschland gab die "Bekanntmachung über die Vorverlegung der Stunden während der Zeit vom 1. Mai bis 30. September 1916" vom 6. April 1916 vor:
"Für die Zeit vom 1. Mai bis zum 30. September 1916 ist die gesetzliche Zeit in Deutschland die mittlere Sonnenzeit des dreißigsten Längengrads östlich von Greenwich. Der 1. Mai 1916 beginnt am 30. April 1916 nachmittags 11 Uhr nach der gegenwärtigen Zeitrechnung. Der 30. September 1916 endet eine Stunde nach Mitternacht im Sinne dieser Verordnung."
Der Ausnahmecharakter der Sommerzeit wurde betont, indem sie teils alljährlich angeordnet wurde und in den Friedensjahren zwischen 1919 und 1939 selbstverständlich entfiel.
Durch Verordnung vom 23. Januar 1940 führte sie der "Ministerrat für die Reichsverteidigung" unter Hermann Göring (1893–1946) wieder ein, die westalliierten Besatzungsmächte verordneten sie bis 1949, in der Sowjetischen Besatzungszone entfiel sie ab 1946.
Den Ölpreisschocks nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 und der Machtergreifung der persischen Mullahs 1979 war ihre Wiedereinführung in der Bundesrepublik Deutschland 1980 zu verdanken, nachdem andere Staaten der Europäischen Gemeinschaften bereits auf die Sommerzeit zurückgegriffen hatten.
Die an Fußnoten reiche Rechtssetzungsgeschichte der Sommerzeitregelungen ist damit nur ansatzweise nacherzählt. Im Zweifel leistet das, seitdem sie 1980 wieder eingeführt wurde, die Presse alle halbe Jahre.
Es ist tatsächlich nicht leicht, der Sommerzeit-Kontroverse noch neue Perspektiven abzugewinnen – es sei denn, man neigt zu feuilletonistischem Übermut.
Seit im Jahr 1916 die k.u.k Diplomaten aus München zu den gesellschaftlichen Konsequenzen der deutschen Sommerzeitregelung nach Wien berichteten, wurde eigentlich schon alles zu den Vorzügen und Nachteilen dieses Uhrzeitregimes erklärt – fraglich ist nur, ob es tatsächlich schon von jedem geäußert wurde.
Mit dieser Frage – ob wirklich schon jeder etwas zur Sommerzeit-Regelung gesagt hat – lässt sich ein vielleicht interessantes Gedankenspiel beginnen.
Bundestagsfuturologen zur Sommerzeitempirie
In einem Dokument, das die Zukunftsforschung des Deutschen Bundestags 2016 vorgelegt hat, er nennt seine futurologische Arbeit bescheiden "Technikfolgenabschätzung", werden die von den kakanischen Gesandten bereits im Jahr 1916 angeschnittenen Themenbereiche der Energieeinsparung, der wirtschaftlichen Folgen sowie Auswirkungen der Zeitumstellungen auf die Gesundheit der Bevölkerung detailliert dargestellt.
Wer dem Gedankenspiel vollständig folgen will, mag in die Bundestagsdrucksache 18/8000 selbst hineinschauen – kann und sollte die Lektüre aber auch später nachholen.
Um eine Lesefrucht vorwegzunehmen: Zwar ist die wissenschaftliche Handreichung des Bundestags zur Sommerzeit sehr viel detaillierter als der Bericht der k.u.k Gesandtschaft, vor allem fasst sie viele Versuche zusammen, die energie- und allgemeinwirtschaftlichen sowie gesundheitlichen Konsequenzen des Uhrzeitregimes empirisch zu klären.
Wie schon im k.u.k. Bericht, aber auf höherem Niveau läuft die Empirie zumeist jedoch hinaus auf: Nichts Genaues weiß man nicht.
Beeindruckend ist das zum Beispiel in der Darstellung medizinischer Studien zur Sommerzeit. Hier ist etwa ein gewisser Anstieg der Notfälle an den Tagen nach der jeweiligen Zeitumstellung nachzuweisen, doch kommen nicht alle Forschungsarbeiten zu dem Resultat, dass die Sommerzeit ganz konkret Menschen tötet – und wenn doch nicht allzu viele oder nur solche, die es ohne die Belastung des Drehens an der Uhr ein paar Tage später ohnehin dahingerafft hätte.
Angesichts der Penetranz, mit der aktuell über COVID-19 berichtet und gezankt wird, ist es ein bisschen unangenehm: Zu entscheiden, ob die Vorteile der Sommerzeit es rechtfertigen, dass einige Menschen mit einiger Wahrscheinlichkeit einige Tage vor ihrer Zeit sterben müssen, wird vom Gesetzgeber sogar in einer derartig altbackenen Frage abverlangt wie jener, ob die Sommerzeitregelung beibehalten, auf sie verzichtet oder ob sie zur ganzjährigen Regelzeit gemacht werden solle.
Bei der – zugegeben vielleicht eher vagen – Familienähnlichkeit der Abwägungen, aufgrund derer aktuell seuchenpolizeiliche Reglements eingeführt oder alljährlich die Sommerzeit exekutiert wird, setzt das kleine Gedankenspiel an:
Stellen wir uns vor, alle 709 Abgeordneten des Bundestags müssten einen Redebeitrag von exakt fünf Minuten Länge abgeben, in dem sie ihre Schlüsse zu der Sommerzeit-Empirie der Bundestagsdrucksache 18/8000 zu Gehör bringen. Solange das Parlament nicht gerade coronarisch schnupft und hustet, wäre dies eine Übung von circa vier bis fünf Tagen.
Das Tauschgeschäft würde etwa darauf hinauslaufen: Wir zahlen Abgeordneten rund 10.000 Euro monatlich. Dafür bekommen wir eine knappe persönliche Abwägung, ob zum Beispiel der Freizeitspaß verlängerter sommerlicher Abendstunden bzw. die bloß vagen energetischen Vorzüge der Sommerzeit den vorzeitigen Tod einiger Bürger bzw. die betriebswirtschaftlichen Kosten der Zeitumstellung rechtfertigen.
Fünf Minuten konzentrierte Erörterung eines jeden und jeder Abgeordneten, wie der soziale Tatbestand "ökonomische und gesundheitliche Konsequenzen der Sommerzeit" von ihm oder ihr normativ gewichtet wird: Die Empirie liegt ja vor, es hat nur nicht jeder etwas dazu gesagt.
3.545 Minuten Redezeit, 60 Stunden Debatte
3.545 Minuten parlamentarische Redezeit zur Sommerzeit? Das scheint abwegig. Natürlich gibt es gute Gründe, warum eine solche Debatte ein utopisches Gedankenspiel bleiben wird. Welcher Berufspolitiker möchte in den genannten Fragen schon riskieren, als unbarmherzig oder von kaltem ökonomischem Kalkül beherrscht wahrgenommen zu werden.
Doch wenn es wie in der aktuellen COVID-19-Krise um diese ethischen und (gesundheits-) ökonomischen Kalküle geht, wirken die Abgeordneten leider unvorbereitet. Ihre Wähler wissen – mangels Übung an relativ harmloseren Fragen wie der Sommerzeit – nicht im Detail, wen sie da ins Parlament entsandt haben.
Ganz fremd ist der Rechtssoziologie dieser indirekte Aufschluss über Entscheidungsvorgänge nicht. Will ein US-Staatsanwalt beispielsweise a) eine hohe und b) überhaupt eine Freiheitsstrafe verhängt sehen, fragt er die Kandidaten für das Geschworenenamt, ob sie bereit seien, die Todesstrafe zu verhängen. Er geht nämlich davon aus, dass eine "death-qualified jury" nicht nur zu härteren Strafen bereit ist, sondern auch eher dazu neigt, die Beweise zu Lasten des Angeklagten zu würdigen.
Die vorherrschende Kirchentags- und Commerzbankfilialleiter-Rhetorik des Bundestags lässt die deutschen Wählerinnen und Wähler letztlich dümmer dastehen als einen US-Staatsanwalt mit Blick auf die Geschworenenbank.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Nachbereitung des aktuellen COVID-19-Regimes mit seinen Übertreibungen wie Unzulänglichkeiten in circa einem Jahr wieder sehr wolkig ausfallen wird – zumal die Studien zu den Konsequenzen einzelner Maßnahmen dann erst zu schreiben sein werden.
Um zu wissen, woran das Volk mit seinen Repräsentanten ist, wenn es einmal ernst wird, wäre daher eine leider recht utopische 60 Stunden Debatte zur Sommerzeit-Empirie wohl deutlich aufschlussreicher.
Zeitumstellung: . In: Legal Tribune Online, 29.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41137 (abgerufen am: 24.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag