Weltgesundheitstag: Recht gegen das kör­per­liche Woh­l­er­gehen

von Martin Rath

08.04.2018

Am 7. April 1948 trat die Verfassung der Weltgesundheitsorganisation in Kraft – samt ihrer berüchtigten Definition des Begriffs "Gesundheit". Sie ließe sich nutzen, um das positive Recht einem Ganzkörperscan zu unterziehen.

Den Feinden der Globalisierung muss der Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 18. Februar 2008 (Az. V B 35/06) ein – in jeder denkbaren Hinsicht – innerer Reichsparteitag gewesen sein.

Gegenstand des Rechtsstreits war die Frage, wie weit plastische Chirurgen, die ausschließlich Schönheitsoperationen durchführen, unter den Befreiungstatbestand von § 4 Nr. 14 Satz 1 Umsatzsteuergesetz 1999 fallen.

Fraglich war also, grob gesagt, ob z. B. eine Brustprothese nur dann steuerbegünstigt zu modellieren ist, wenn sie nach einer Tumorentfernung der Wiederherstellung der körperlichen Form dient oder auch dann, wenn ihr Motiv in der Steigerung sexueller Schauwerte liegt.

Die Chirurgen, unangenehm von existenzbedrohenden Steuernachforderungen berührt, hatten ins Feld geführt, dass hier auch der Begriff der Gesundheit zu verhandeln sei, wie er von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO) definiert worden war.

Die BFH-Richter stützten sich in ihrem abweisenden Beschluss jedoch allein auf ein enges europarechtliches Konzept, wonach ärztliche Leistungen den Schutz der Gesundheit zum Hauptziel haben müssten – wobei es auf die Ansichten der WHO nicht weiter ankomme.

Berüchtigte Präambel der WHO

Litten Globalisierungsfeinde nicht unter einer stark selektiven Wahrnehmung, hätte ihnen dieser Umgang des BFH mit dem Gesundheitsbegriff der WHO gut gefallen müssen – zumal es mit erotischen Schauwerten auch noch um eine Angelegenheit ging, die in gewissen Kreisen ohnehin unter Dekadenzverdacht steht.

Die Verfassung der WHO, die nach dem Beitritt einer hinreichenden Zahl von Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen am 7. April 1948 in Kraft trat, gibt in ihrer Präambel einige hoffnungsfrohe kosmopolitische Sätze vor, unter anderem:

"Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. Der Besitz des bestmöglichen Gesundheitszustandes bildet eines der Grundrechte jedes menschlichen Wesens, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Anschauung und der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung."

Relativ bekannt, durchaus auch ein wenig berüchtigt geworden ist die Aussage, wonach Gesundheit ein Zustand des "vollständigen" Wohlbefindens sein soll, zudem auch noch in gleich allen drei genannten Dimensionen.

Der Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996) kritisierte, dass ausgerechnet über die prekärste Eigenschaft der menschlichen Existenz – das körperliche Wohlsein – ein Anspruch auf "vollständige" Beseitigung von Störungen formuliert wurde. Blumenberg polemisierte anhand dieses Beispiels recht unterhaltsam gegen den Totalitarismus des anthropologischen Definitionsgewerbes, auch der Juristen (Stichwort "Gesundheit" in: "Begriffe in Geschichten", Frankfurt/Main 1998).

Mithin hätten nicht nur grobschlächtige Globalisierungskritiker 2008 Grund zur Freude an der rein europarechtlichen Umsatzsteuer-Argumentation des BFH gehabt.

Prominenz hier kein juristisches Vermögen

Ungeachtet, vielleicht gerade infolge seiner unangenehmen Totalität, hat auch ihr Gesundheitsbegriff der WHO einige Prominenz unter den Sonderorganisationen der Vereinten Nationen verschafft.
Hinzu kommt eine ganze Anzahl sogenannter Welttage, die Anlass zu gesundheitsbezogener Pressearbeit bieten, vom Welttag des Hörens am 3. März über den Weltnichtrauchertag 31. Mai bis zum Welt-Aids-Tag, dem 1. Dezember.

Dienststellen der WHO engagieren sich öffentlichkeitswirksam im Kampf gegen Pandemien, wenn sie auch ihren bisher größten Erfolg – die Ausrottung der Pocken (1977) – bisher nicht reproduzieren konnte. Undurchsichtige Finanzierungs- und persönliche Netzwerkstrukturen mit der pharmazeutischen Industrie – z. B. im Fall teurer Oseltamivir-Bestellungen aus Furcht vor der Vogelgrippe H5N1 im Jahr 2005 – bilden den mitunter rationalen Kern in den nicht selten wahnhaft, prima facie jedenfalls nicht von Vernunft geprägten Auffassungen von Impfgegnern im weiten Feld zwischen dem obersten Wahlbeamten der USA und verrotzten Reichsbürgern in Deutschland.

Mit juristischen Schau- kann die WHO augenscheinlich weniger prominent wuchern als mit Finanz- und Medienwerten. Während andere UN-Sonderorganisationen erfolgreich verbindliche völkerrechtliche Übereinkommen auf dem Gebiet der wirtschaftlichen, gelegentlich sogar militärischen Verhältnisse verhandeln, firmiert allein das Übereinkommen zur Eindämmung des Tabakgebrauchs aus dem Jahr 2003 unter dem Markennamen der WHO.

Direkt im Alltag, von juristischem Interesse für Sozial-, Medizin- und Arbeitsrechtler, kommt noch die berühmte "Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme" mit ihren aktuellen "ICD-10"-Schlüsseln hinzu.

Dass Strafverteidiger und Arbeitsrechtler wissen, was sie für ihre Mandantinnen und Mandanten z.B. aus einem "ICD-10-GM-2018 F.16" herausholen können, ist für sich genommen freilich wohl kaum hinreichend, in der WHO eine starke Adresse unter den normsetzenden Körperschaften der juristischen Weltordnung zu erkennen.

Was ließe sich da tun?

Ein Fall für die Verfassungsjuristen?

Nachdem in Deutschland – anders als etwa in den USA – der Berufsstand der Steuerberater erfolgreich darin gewesen war, den Anwälten eine wirtschaftlich interessante Domäne weitgehend abspenstig zu machen, bekamen die Fachanwaltschaften Konjunktur. Fehlt der ökonomische Reiz, ist es aber mit der professionellen Aufmerksamkeit – bis zum Spott "Fachkonditoren für Zimtsterne" zu etablieren – nicht allzu weit her.

Beispielsweise hat sich in der deutschen Erziehungswissenschaft und Kultusbürokratie, angeregt durch die Ratifikation der  UN-Behindertenrechtskonvention (2009), ein Umgang mit dem völkerrechtlichen Begriff der "inclusion" etabliert, der stark weltanschaulich geprägt ist und kaum den Anschein erweckt, dass sich junge Lehrerinnen und Lehrer auch nur grobmotorisch mit Juristenmethoden wie Abwägung und Kontextualisierung von Begriffen befassen müssten – eine Entwicklung, die auch radikale Inklusionsbefürworter beunruhigen sollte: Hier droht – schon wieder – eine Lehrergeneration mit einem generell naiven Vorverständnis vom Recht aufzuwachsen.

Mit einer offenen verfassungsjuristischen Diskussion darüber, was die Verfassung z. B. dem behinderten Menschen schuldet – um es bildhaft zu formulieren: Teilnehmer einer Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer oder eines Deutschen Juristentags, die sich einmal in den Rollstuhl setzen und versuchen, durch die Stadt ihres Versammlungsorts zu kommen – wäre solchen parajuristischen Sonderwegen wohl vorzubeugen gewesen.

Womöglich mag die Zunft der Verfassungskonstrukteure und -interpreten das problematische Beispiel des freiläufigen "inclusion"-Konzepts zum Anlass nehmen, die seit dem 7. April 1948 so heikel im Raum stehende Gesundheitskonzeption der WHO zu nationalisieren.

Die Preisfrage könnte lauten: Wie sollte das seit 70 Jahren postulierte "Grundrecht auf Gesundheit" in das Grundgesetz aufgenommen werden?

Solche Fragestellungen zu vermeiden, ist einerseits verständlich. Als etwa der zuletzt in Tübingen lehrende Juraprofessor Michael Ronellenfitsch mit zwei Beiträgen in der ADAC-Zeitschrift "Deutsches Autorecht" ein "Grundrecht auf Mobilität" postulierte (DAR 1992, 321–324; 1994, 7–13), hatte dies ein wenig vom Propheten Robert Gernhardt (1937–2006), der einst auf den Feldberg stieg, um das 11. Gebot zu empfangen: "Du sollst nicht lärmen". Dass Gernhardt damit populärer wurde als Ronellenfitsch, besagt einiges zur Beliebtheit der jeweiligen Grundbedürfnisse.

Andererseits würde gerade eine Auseinandersetzung darum, wie ein Grundrecht auf Gesundheit konkret auszuformulieren ist, auch eine Klärung darüber erzwingen, welchen weltanschaulichen Tendenzen – Tendenzen, nicht Inhalten! – der Vorrang zukommen sollte.

Ein politischer Meinungskampf, der an der Stellschraube "Verfassungsänderung" die Linien zwischen evidenzbasierter und sogenannter Alternativmedizin klärt – Linien, die sich beileibe nicht mit Grenzen zwischen grünen Esoterikern und liberalen Vernunftpächtern decken – würde der Republik und ihrer seit Jahren auf konvexe und konkave Kopftuchidiotismen fixierten Hashtagkultur vielleicht insgesamt guttun.

Zunächst, weil natürlich der Gesamtbestand des positiven Rechts – vom Arbeitszeitregime bis zu der merkwürdigen Freiheit des Motorradhalters zum herzbedrückenden Auspuffknall – einen "Komplettscan" erfahren müsste. Das Grundrecht auf Gesundheit würde hier viele Interessen einer neuen Abwägung zuführen.

Mehr anschlussfähige Rationalitätsdiskurse wagen

Darüber hinaus könnten sich interessante Nebeneffekte einstellen. Sascha Lobo (1975–) hat unlängst festgestellt, wie beneidenswert die vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron (1977–) gehaltene Programmrede zur Künstlichen Intelligenz sei – ein cartesianischer Diskurs auf pasteurisiertem Parkett also statt einem Buhlen anderweitig quartalsirrer Vernunftpächter um die Gunst des Kommentariats.

Zuletzt hat die SPD-Bundestagsfraktion im Jahr 2011 versucht, eine Diskussion über normative Fragen der Gesundheit zu führen – indem sie das deutsche Verhältnis zur WHO neu justieren wollte. 

Sie fand derart unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, dass die abschließende Bundestags-"Debatte" in Papierform geführt wurde. Eine nationalisierte Verfassungsdiskussion um ein Grundrecht auf Gesundheit hieße wohl auch, diese drittklassig bestattete Auseinandersetzung um die Weltgesundheit erstklassig zu exhumieren. Daran sollten nicht nur Pathologieaffine aller Fach- und politischen Farbrichtungen ihre Freude finden.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Weltgesundheitstag: . In: Legal Tribune Online, 08.04.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27915 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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