Criminal christmas: Gibt das Fest von Liebe und Frieden Anlass zum Verbrechen? Vieles spricht dafür. Und am Ende wird auch noch "Besinnlichkeit" verlangt.
Das Weihnachtsfest lässt sich als eine Veranstaltung betrachten, die vordergründig Frieden, Liebe, Harmonie verlangt, dessen ungeachtet aber mit einer schier unüberschaubaren Menge sozial unerwünschten Verhaltens in Verbindung steht.
Fraglich ist, ob dem mit "Besinnlichkeit" beizukommen ist – einem psychischen Zustand von zumeist ungeahntem Bedeutungsgehalt.
Bevor hier auf den versteckten Abgrund der "Besinnlichkeit" einzugehen ist, soll zunächst die Eingangsthese belegt werden, dass Weihnachten in beträchtlichem Umfang mit Devianz in Verbindung steht. Das vorliegende Fallmaterial wird hierzu unter Anwendung einer Borges-Systematik geordnet, und zwar wie folgt:
- Ausnutzen der weihnachtlichen Geschenkgeneigtheit
- Ausnutzen der erhöhten Sentimentalität und Mobilität
- Familiale Scheußlichkeiten
- Fehlgeleitete Liebe bei der Bundeswehr
Ausnutzen der weihnachtlichen Geschenkgeneigtheit
Auf Marcel Mauss (1872–1950), einen der Gründungsväter der modernen Ethnologie, geht die Erkenntnis zurück, dass eine "nicht erwiderte Gabe" denjenigen "erniedrigt", der "sie ohne den Gedanken an eine Erwiderung annimmt". Wer eine Gabe annehme, ohne sie zu erwidern, mache sich zum Knecht des Schenkers.
Derartige ethnologische Einsichten in die Spielregeln der "Gabe" deuten an, warum die Bestechung von Beamten oder Volksvertretern seitens der Akteure oft nicht unmittelbar als Unrecht wahrgenommen wird: Indem sie die Gabe später erwidern, stellen sie das legale Über- und Unterordnungsverhältnis von Staat und Bürger ja äußerlich wieder her.
Hinzu kommt: Seit dem hohen Mittelalter beschenkt man sich zu Weihnachten. Diese zur sozialen DNA des christlichen Abendlands zählende Praxis macht Menschen jahreszeitlich besonders geschenkgeneigt. Und in der dann heranbrechenden Masse sozial erwünschter Gaben lassen sich Bestechungsanliegen gut verbergen.
Eine umfangreiche Analyse solcher Vorgänge – mit der auch ethnologisch hübschen Frage, ob und warum Amtsträger im gewässernahen Baubereich zu Weihnachten Lachs-Gaben im Wert von rund 35 Euro erhalten sollten oder eben nicht – bietet etwa ein Urteil des Landgerichts (LG) Kiel vom 3. Juni 2011 (Az. 3 KLs 13/2009).
Weniger rustikale Fälle rechtlich fragwürdiger Weihnachtsgaben finden sich beispielsweise im Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 2. Dezember 1992 zu im Frankfurter Tiefbau alljährlich fälligen bis zu 500 Mark (Az. 2 StR 372/92). Dass man in der frühen Bundesrepublik nicht derart gabensensibel war wie in der Gegenwart, mag das Verfahren gegen Mitarbeiter des Heeres-Beschaffungswesens in einem älteren BGH-Urteil belegen (v. 13.2.1974, Az. 2 StR 513/73): Weihnachten indizierte legales Gaben-Wohlwollen.
Ausnutzen der erhöhten Sentimentalität und Mobilität
Die Aussicht auf weihnachtliche Gaben und die zum Fest gesuchte Nähe der Herkunftsfamilie ist dazu geeignet, Menschen auf der sozialpsychologischen Ebene angreifbar zu machen. Hinzu kommt eine durch die weihnachtsbedingte Mobilität herbeigeführte Vulnerabilität, die früher noch stärker als heute erfahren wurde, da sich die Leute weniger oft außerhalb der Weihnachtszeit den Schrecken der (Fern-) Reisen aussetzten.
Eine wahre Meisterschaft – wie überhaupt im Ausnutzen menschlicher Schwächen – zeigten die Geheimdienste der DDR, die nachrichtendienstliche Kontakte und Reisetätigkeiten gerne in der Weihnachtszeit abwickelten. Das betrifft etwa die weihnachtliche Erpressung der Mutter eines Agenten, dokumentiert im BGH-Urteil vom 13. Juli 1960 (Az. 8 StE 4/60), die Tarnung der adventlichen Anreise zum mündlichen Bericht in Ost-Berlin (BGH, Urt. v. 20.11.1958, Az. 6 StE 4/58), Postversand geheimdienstlicher Hilfsmittel (BGH, Urt. v. 27.9.1967, Az. 7 StE 2/67), Agenten-Reisetätigkeit von West- nach Ost-Berlin (BGH, Urt. v. 28.3.1957, Az. 2 StE 25/56) sowie Ausnutzung ost-westlicher Familienverbindungen zu Weihnachten (BGH, Urt. 28.4.1959, Az. 6 StE 1/59).
Familiale Scheußlichkeiten
Zu den viel zu selten zitierten Weisheiten des DDR-Rechts zählt der erste Satz der Präambel des Familiengesetzbuchs vom 20. Dezember 1965: "Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft."
Nicht immer verhalten sich die Insassen dieser Zelle so, wie es das Klischee von der liebevollen Weihnachtszeit nahelegt. Mitunter verbirgt sich hinter der Zellen-Metapher sogar eine ausgesprochen scheußliche Realität.
Das BGH-Urteil vom 15. Februar 1990 (Az. 4 StR 655/89) bezeichnet das Fest des Jahres 1978 z.B. als vagen Ausgangspunkt wiederholter sexueller Gewalt eines Vaters an seinen minderjährigen Töchtern. In einem anderen Fall bilden die Weihnachtsfeste der Jahre 1965, 1966 und 1968 den Rahmen schwersten sexuellen Missbrauchs in der Familie (BGH, Urt. v. 24.7.1975, Az. 4 StR 243/75)
Anzutreffen ist der Versuch, weihnachtlichen Obliegenheiten zu genügen – Geschenke bleiben hier einziger, bloß formaler Ausdruck von Familienzugehörigkeit –, obwohl die sozialen und emotionalen Fähigkeiten eines später seine Freundin und sein Kind tötenden Mannes hierzu nicht hinreichten (LG Stuttgart, Urt. 12.1.2005, Az. 9 Ks 111 Js 37621/04).
Natürlich bietet Weihnachten auch Gelegenheit, Kinder zu misshandeln, können doch die Vertreter des Jugendamtes in dieser heiklen Zeit allenthalben gesuchter persönlicher Nähe noch weniger omnipräsent sein als im übrigen Jahr (LG Stuttgart, Urt. v. 17.9.1999, Az. 1 (15) KLs 114 Js).
Die Weihnachtsfeste 2007 und 2008 gaben schließlich in Berlin den Anlass zu einem mittels Sprengstoff ausgeführten Tötungsdelikt im Familienkreis (Urt. LG Berlin v. 22.1.2010, Az. 22.01.2010 - (529) 1 Kap Js 2276/08 Ks (8/09)), das zu allem Überfluss auch noch in rührseligster Weise mehrfach von der Boulevardpresse ausgebeutet wurde.
Fehlgeleitete Liebe bei der Bundeswehr
Nach diesen überwiegend entsetzlichen Fällen von Devianz zur Weihnachtszeit bietet ein im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Oktober 1968 dargestellter Sachverhalt erholsamen Anlass für eine Mischung aus verwundertem Kopfschütteln und einer Art nachgereichter Besinnlichkeit (Az. BVerWG II WD 32/68).
Der zunächst seit 1960 als Wehrpflichtiger aus gutbürgerlichem Haus in die Bundeswehr eingetretene, seit 1964 als Berufssoldat dienende Beschuldigte hatte in den Augen seiner Vorgesetzten seit 1965 wiederholt Gelegenheiten für den Verdacht gegeben, "abartig" zu sein – beispielsweise, indem er einen Soldaten auf seine Stube beorderte, um ihn unter dem Einfluss von Operetten-Schallplatten und Weinbrand im Bereich von "Oberschenkel bis in Höhe der Leistengegend" zu "streicheln". Einem anderen bekundete er: "Bleib doch ein bißchen hier! Deine Freundin kann doch warten, und schenk mir ein bißchen Liebe! Jeder Mensch braucht etwas Liebe." Abfällige Bemerkungen über seine Sangeskunst quittierte der Beschuldigte mit einer theatralischen Darbietung seiner Suizidabsichten im Schatten der Waffenkammer.
Einen der nicht wenigen Höhepunkte des Sachverhalts bot die Weihnachtszeit 1965, als sich der beschuldigte Offizier nach Operetten- und Weihnachtsliedgesang volltrunken eine Pistole aushändigen ließ.
Angesichts der bis in die 1980-er Jahre praktizierten Ausmusterung homosexueller Wehrpflichtiger und des Ausschlusses vom Offiziersberuf bis in die späten 1990-er Jahre wirft der Fall die wehrgerichtssoziologische Frage auf: Wie kam es dazu, dass der II. Wehrdienstsenat 1968 unverkennbar bemüht war, den Aspekt der "Abartigkeit" kleinzuhalten? – Seit Heiko Maas (SPD, 1966–) als Bundesminister der Justiz stets daran gelegen war, die Rehabilitation einst diskriminierter homosexueller Männer voranzutreiben, lässt sich noch die besinnliche Frage anschließen: Wie könnte in derartigen Fällen – zwischen Machtmissbrauch und in Zeiten allgemeiner Homophobie beschädigter Persönlichkeit – eine "Rehabilitation" denn überhaupt aussehen?
Warum wir "Besinnlichkeit" dem wünschen können, den wir kritisieren wollen
Womöglich wäre dem Minister in seiner allzeit gerechten Sache etwas mehr Besinnlichkeit zu wünschen gewesen.
Einem anderen zu unterstellen, ihm habe es in einer Frage an Besinnlichkeit gefehlt oder ihm einen besinnlichen Zustand zu wünschen, ist freilich nicht nur in solchen verzwickten Angelegenheiten ein potenziell doppelbödiges Unterfangen.
Der Blick in die Statistik zum Gebrauch des Wortes "Besinnlichkeit" legt bereits den Verdacht nahe, dass es die deutsche Sprache nicht von jeher so klebrig-süß durchwehte wie die durchschnittlichen Weihnachtsmarkt-Miasmen: In diesem Sinn einer Art innerlicher Gemütlichkeit wird "Besinnlichkeit" offenbar erst seit den kitschverliebten 1940-er Jahren verstanden.
Tatsächlich ist – wie der Bundesgerichtshof im Jahr 1961 noch wusste – "Schwerbesinnlichkeit" eine psychische Störung. Die "schwere Besinnlichkeit" stand noch in einer Reihe mit einer "Affektinkontinenz" sowie "Einbußen der Konzentrations- und Merkfähigkeit" (BGH, Urt. v. 13.12.1961, Az. V ZR 4/60).
Die Fälle des Ausnutzens weihnachtlicher Geschenkgeneigtheit, der erhöhten Sentimentalität und Mobilität, der familalen Scheußlichkeiten oder der fehlgeleiteten Liebe bei der Bundeswehr (samt ihrer unterbliebenen Rehabilitation) laden mithin dazu ein, der abendländischen Menschheitsabteilung ein eigenartiges Verhältnis zur "Besinnlichkeit" zu attestieren – ganz gleich, ob man das Wort zur Diagnose, als frommen Wunsch oder als versteckte Beleidigung gebrauchen will.
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Verbrechen zu Weihnachten: . In: Legal Tribune Online, 25.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32903 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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