Vor 100 Jahren gaben die Länder wesentliche Rechte an ihren Flüssen und Kanälen auf. Das verkürzte die Arbeit an Projekten deutlich – von Jahrhunderten auf wenige Jahrzehnte.
Der Schweizer Jurist und Sinologe Harro von Senger (1944–) machte in seinem erstmals im Jahr 2008 erschienenen Buch "Moulüe" den Versuch, eine okkulte Denkungsart zu entschlüsseln, die er als eine Grundlage chinesischer Politik sieht. Wiederholt habe die Führung des Kaiserreichs Ziele im Rahmen einer "Supraplanung" verfolgt, die eine mittelfristige Flexibilität im Staatshandeln mit "Denkhorizonten" verbinde, die auf Jahrzehnte und Jahrhunderte angelegt seien.
Nicht der Umstand, dass eine Diktatur ihre Absichten unabhängig von den Ergebnissen demokratischer Wahlen vorantreiben könne, sei dort primär dafür verantwortlich, dass auf lange Frist geplante Vorhaben mit manchmal erstaunlicher Konsequenz umgesetzt werden, es sei vielmehr das tief in der chinesischen Philosophie verborgene "Moulüe"-Denken.
Und wie steht es in Deutschland? Ein wenig boshaft ließe sich scherzen, dass es allein der Stammesführung des bayerischen Volkes gelungen ist, dem chinesischen Staatswesen in Sachen "Supraplanung" das Wasser zu reichen – und zwar seit der Zeit des fränkischen
Fürsten Carolus Magnus (747–814). Auf den 13. Juni 1921 fiele dann ein bis in die Gegenwart nachwirkender juristischer Etappensieg bayerischer "Moulüe".
Große Gewässer geraten in die Verantwortung Berlins
Am 13. Juni 1921 schlossen das Deutsche Reich und der Freistaat Bayern den Vertrag "über die Ausführung der Main-Donau-Wasserstraße und den Ausbau der bayerischen Donau".
Zugleich wurde zwischen der Reichsregierung und u. a. der preußischen, der bayerischen, der sächsischen und der württembergischen Staatsregierung – bis hinunter zu den Regierungen der kleinen Länder Hamburg, Bremen, Lippe und Lübeck – der "Staatsvertrag, betreffend den Übergang der Wasserstraßen von den Ländern auf das Reich" vereinbart.
Nach Art. 97 Reichsverfassung vom 11. August 1919 war es nunmehr "Aufgabe des Reiches", "die dem allgemeinen Verkehre dienenden Wasserstraßen in sein Eigentum und seine Verwaltung zu übernehmen" und diese mit Rücksicht auf regionale Bedürfnisse auszubauen. Dem progressiven Geist dieser Verfassung entsprechend hatten sich nicht nur die bisherigen Wasserstraßenverwaltungen den Anschluss an andere Binnenwasserstraßen "gefallen zu lassen", das Gleiche galt auch für die Verbindung zwischen dem Wasser- und dem Schienenverkehr.
Der Staatsvertrag zum Übergang der Wasserstraßen, genehmigt durch Reichsgesetz vom 29. Juli 1921 (RGBl. I, S. 961–983) regelte im Detail die Abfindungen für Mittel, die von den Ländern in den vorangegangenen 100 Jahren in ihre Wasserstraßen investiert worden waren, die Rechtsverhältnisse der zu übernehmenden Beamten, die Duldung künftiger Untertunnelungen der neuen Reichswasserstraßen und – teilweise fast auf den Meter genau –, welche Gewässerteile an das Reich fallen sollten.
War beispielsweise das heute als Nord-Ostsee-Kanal bekannte Bauwerk – nach nur acht Jahren Bauzeit im Jahr 1895 in Betrieb genommen – bereits als erste Reichswasserstraße verwaltet worden, trat der Freistaat Preußen nun auch das Eigentum an der mit ihm zusammenhängenden Eider ab.
Der Vertrag zwischen dem Reich und den Ländern bietet einen guten Überblick über die vor 100 Jahren bereits abgeschlossenen sowie über die noch im Bau befindlichen Verkehrsinfrastrukturen der deutschen Binnenschifffahrt. Er ist auch ein Denkmal für die Idee der Weimarer Nationalversammlung, sie mit den Eisenbahnen zu verknüpfen.
Verbindung von Rhein, Main und Donau – das bayerische Moulüe?
Mit einem weiteren Staatsvertrag, zwischen den Regierungen in München und Berlin verpflichteten sich die Parteien am 13. Juni 1921 zur "Ausführung der Main-Donau-Wasserstraße und den Ausbau der bayerischen Donau, vorbehaltlich der Bewilligung der Geldmittel durch die gesetzgebenden Körperschaften".
Um nun den Scherz aufzulösen: Dieses Projekt einer Verbindung der Fluss-Systeme des Rheins und der Donau lässt sich – trotz der beachtlichen Höhen, die hier zu überwinden sind – bereits auf die Epoche des fränkischen Fürsten Carolus zurückführen, bekannt als Kaiser Karl der Große. Erste Kanalarbeiten zwischen den bayerischen Flecken Weißenburg und Treutlingen werden auf die Zeit um das Jahr 793 datiert.
Im Jahr 1662 erklärte eine Schrift, dass eine schiffbare Verbindung zwischen Rhein und Donau nicht zuletzt den Vorteil habe, die Meerenge von Gibraltar zu umgehen. Die Verkehrsinfrastruktur zwischen dem reichen Rheinland zwischen Mainz und Rotterdam einerseits, dem Balkan und dem Mittelmeerraum andererseits würde nicht mehr von der spanischen oder britischen Kriegsmarine, sondern von bayerischen Schleusenwärtern abhängig sein.
Nach Ansicht des Schriftstellers Carl Amery (1922–2005) war es ein über Jahrhunderte fortgesetztes geopolitisches Interesse der jeweiligen Regierungen seiner historisch armen, nur von Landwirtschaft, kaum von Gewerbe geprägten bayerischen Heimat, einen Zugriff auf die rheinländischen Pfründe zu gewinnen – sei es, indem bayerische Fürstensöhne als Bischöfe von Köln installiert wurden, sei es, indem die Münchner Machthaber im Ersten Weltkrieg träumten, Belgien für Bayern zu annektieren.
Doch blieb es, angesichts der Höhenmeter, die zwischen beiden Fluss-Systemen zu überwinden waren, ein teures Unterfangen, eine künstliche Wasserstraße zu errichten. Die Geschichte des Vorhabens ist zu reich an Projektemachern, die letztlich immer wieder an der Finanzierung scheiterten, als dass sie alle hier genannt werden könnten.
Mit dem Main-Donau-Staatsvertrag vom 13. Juni 1921 hatte es die bayerische Führung immerhin erreicht, dass sich künftig auch der deutsche Gesamtstaat verpflichtet sah.
70 Jahre lang: Bekundungen ersetzen mitunter die Erdarbeiten
Bis der Wasserweg zwischen Nordsee und Schwarzem Meer im Jahr 1992 für den durchgängigen Verkehr freigegeben werden konnte, blieb es vielfach bei fixen Ideen.
Kaum war beispielsweise im Jahr 1938 die sogenannte Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vollzogen worden, fand sich im Reichsgesetzblatt die vollmundige Ankündigung, der Kanal würde bis zum Jahr 1945 fertiggestellt.
Zu Zeiten der Bundesrepublik bemühten sich Bundesregierungen wiederholt, sich der im Jahr 1921 übernommenen Pflichten zu entledigen. Volker Hauff (1940–), sozialdemokratischer Bundesverkehrsminister zwischen 1980 und 1982, erklärte den Kanal noch 1981 zum "dümmsten Projekt seit dem Turmbau von Babel".
Flussanlieger haben Rücksicht auf Utopie zu nehmen
Ungeachtet dessen waren nicht allein ökologisch bewanderte Naturfreunde oder ökonomisch aufgeklärte Kritiker des Bauvorhabens mit seinen Schattenseiten konfrontiert. Zu leiden hatten insbesondere einfache Anlieger betroffener Wasserläufe.
Ein Beispiel hierfür gibt ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1962. Ein Ehepaar hatte im Jahr 1958 für seinen Gewerbebetrieb das Wasserrecht an einer gut einen Meter breiten Rinne erworben, über die sich die Wasserkraft des Flüsschens Wiesent nutzen ließ. Die Stadt Forchheim bekam im Rahmen des wasserrechtlichen Genehmigungsverfahrens den Hinweis des Wasser- und Schiffahrtsamts Nürnberg, dass mit dem Ausbau des Rhein-Main-Donau-Kanals die Wiesent in einer Weise gestaut werden würde, dass den Rinnen-Erwerbern keine Wasserkraft mehr zur Verfügung stünde, weshalb ihnen die Genehmigung nur befristet bis zum Beginn des Kanalbaus erteilt werden solle.
Die Interessen- und Rechtslage war komplex. Während die seit 1921/22 mit dem Kanalbau beauftragte Aktiengesellschaft des Reichs bzw. Bundes und des Landes Bayern keine Investitionen in Wasserkraftanlagen wünschte, deren Entwertung durch Staumaßnahmen sie später möglicherweise würde entschädigen müssen, war für Gewerbetreibende, die die Wasserkraft nutzen wollten, eine Investition unter der wasserrechtlichen Bedingung, die Nutzung nur bis zur Umsetzung der Kanalbau-Utopie genehmigt zu erhalten, allzu unsicher. Mit solchen Risiken überzeugt kein Unternehmer seine Sparkasse, ein Darlehen zu geben.
Unklar war zu allem Überfluss, ob und wie weit das Durcheinander aus Reichs- und Bundesgesetzgebung zum Kanal und aus Verträgen zwischen Reich, zwischendurch dem Vereinigten Wirtschaftsgebiet ("Trizonesien") und dann dem Bund sowie dem Freistaat nun das Land Bayern und seine Gemeinden dazu verpflichtete, wasserrechtliche Genehmigungen im Geist des vagen Kanalbaufortschritts zu limitieren.
Das Bundesverwaltungsgericht stellte in diesem Gewirr – verkürzt gesagt – fest, dass der Freistaat und die Gemeinden im Bereich der vom Kanal berührten Gewässer aus den Rhein-Main-Donau-Verträgen, die es als Bundesrecht anerkannte, verpflichtet sein könnten, wasserrechtlich dem Kanalbau vorzugreifen – hier also zulasten der gewerblichen Wasserkraft-Aspiranten aus Forchheim.
Ob allerdings die Kanalbaupläne in diesem Bereich schon so weit gediehen waren, um den Fluss-Anliegern bereits vorweg Nutzungsrechte bestenfalls bedingt einzuräumen, mochten die Bundesrichter nicht entscheiden und verwiesen die Sache zurück nach München (Urt. v. 04.06.1962, Az. BVerwG IV C 38.62).
Bayerische "Moulüe" an Main und Donau?
Es ließen sich wohl für jedes größere Vorhaben dieser Art vergleichbar schlecht aufzulösende Konflikte öffentlicher und privater Akteure darstellen.
Allein im Rhein-Main-Donau-Kanal, für den – bei großzügiger Auslegung – der erste Spatenstich bereits in den 790er Jahren erfolgte, ein Beispiel für eine Art bayerischer "Moulüe" zu sehen, bleibt damit natürlich ein etwas gewagter Witz.
Wie dick die politischen und rechtlichen Bretter sind, die für Infrastrukturprojekte zu bohren sind, zeigt das Beispiel aber doch. Nur dort, wo ökonomische und militärische Interessen zusammenkamen, wie beim Nord-Ostseekanal, ging es deutlich schneller voran. Welches dieser Motive bei Großvorhaben heute meist fehlt, ist nicht schwer zu erkennen.
Wasserrecht vor 100 Jahren: . In: Legal Tribune Online, 13.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45184 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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