Die Auch-Juristen von Schirach und Kluge wollen per Skype-Dialog klären, ob der Corona-Shutdown auch ein Shutdown der Grundrechte war. Doch Lorenz Leitmeier findet statt Antworten Gemeinplätze, statt Erklärungen Geplänkel.
Von Monty Python gibt es den schönen Sketch "Das Fußballspiel der Philosophen", in dem die deutsche Mannschaft gegen die griechische antritt. Die Deutschen haben im Halbfinale die starken Engländer um Jeremy Bentham, John Locke und Thomas Hobbes geschlagen. Jetzt im Finale aber warten die Griechen in Bestbesetzung: angeführt von Heraklit, mit Platon im Tor, Aristoteles als Libero und Sokrates im Sturm. Deutschland spielt im 4-2-4-System mit Kant, Hegel und Schopenhauer in der Verteidigung, Wittgenstein, Nietzsche und Heidegger sollen die Tore schießen. Im Mittelfeld läuft neben Jaspers mit der Nummer 6 Beckenbauer auf, etwas überraschend aufgestellt von Bundestrainer Martin Luther.
An diesen Sketch muss man denken, wenn man den Gesprächsband "Trotzdem" liest, in dem sich der Jurist, Dramatiker und Schriftsteller Ferdinand von Schirach mit dem Juristen, Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge über Corona und den "Shutdown der Grundrechte" austauscht: Selten begegnen einem in so gedrängter Form so viele große Namen der Geisteswissenschaften, die Denker von Weltrang geben sich bei ihrer Polonaise durch das dünne Büchlein quasi die Seite in die Hand. Es fehlt nur Beckenbauer, sonst sind eigentlich alle da.
Der Ausgangspunkt für die beiden Gespräche, die von Schirach und Kluge am 30. März 2020 über Skype führten, ist rechtlich maximal interessant: Was bedeuten die massiven Einschränkungen der Grundrechte während der Corona-Pandemie für den Rechtsstaat? Lässt sich das Rad danach wieder beliebig zurückdrehen? Und wie verträgt es sich mit der Gewaltenteilung, wenn dieser "Shutdown" durch die Regierung erfolgt, ohne große Beteiligung der Parlamente? Gibt das Infektionsschutzgesetz solche Maßnahmen überhaupt her? Und wie können die Regeln eines Rechtsstaats verlässlich angewendet werden, wenn alles an den Erkenntnissen der Wissenschaft hängt, diese aber selbst noch sucht?
Schlechte Simulation eines Gesprächs
Leider stellt der Leser aber sehr schnell fest, dass er gar nicht Zeuge eines Dialogs zweier Menschen wird, die um Antworten auf diese Fragen ringen und sich gegenseitig mit hoffentlich originellen Gedanken weitertreiben. Von Schirach und Kluge reden nämlich gar nicht miteinander.
Und das gleich doppelt: Das, was dem Leser präsentiert wird, haben die beiden so wohl kaum spontan ausgetauscht. Kluge etwa weiß gleich zu Beginn der Unterhaltung zu berichten, dass die Corona-Viren eine geometrisch robuste Gestalt bevorzugen und am ehesten dem fünften unter den fünf platonischen Körpern entsprechen, welche die Idealgebilde der Regelmäßigkeit verkörpern. In freier Rede fügt er hinzu: "Ein schwedischer Forscher bezeichnete die Gestalt als Dodekaeder mit winzigen Fransen (keine Tulpen oder Stulpen). Mit zwanzig Ecken, dreißig Kanten, Flächenwinkel 118 Grad." Wenige Seiten später rezitiert von Schirach aus dem "Peloponnesischen Krieg" von Thukydides, streut Passagen aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts ein, sagt Ausschnitte aus Heinrich von Kleists "Das Erdbeben in Chili" auf und lässt Stefan Zweig in "Die Welt des Gestern" zu Wort kommen. Die nicht so relevanten Passagen lässt er jeweils weg und zitiert nach der Auslassung wieder wörtlich weiter.
Statistiken über Lebenserwartung und Kindersterblichkeit kennen beide genauso bewundernswert sicher auswendig wie Details aus den Biographien der Weltdenker ("Als Schmitt 1972 in Plettenberg-Pasel in einen Bungalow zieht, lässt er dort aus Bronze die Worte 'San Casciano' anbringen. In Wirklichkeit liegt San Casciano in der Toscana. 1513 musste Niccoló Machiavelli mit seiner Familie auf dieses ererbte Landgut ins Exil gehen.")
Dass das gesprochene Wort später nachbearbeitet wurde, mag man verschmerzen. Viel schlimmer ist jedoch, dass von Schirach und Kluge nicht miteinander reden. Das Buch gibt keinen Dialog wieder, sondern die schlechte Simulation eines Gesprächs: Der eine zitiert Voltaire, der andere antwortet mit Boccaccio, der eine weiß viel über das Erdbeben von Lissabon 1367, der andere dafür, wann die Beulenpest nach Florenz kam.
Langes Geraune ohne rechtlichen Tiefgang
An einigen Stellen blitzen rechtlich spannende Fragen auf, so etwa, wenn von Schirach auf Seite 18 feststellt: "Das Grundgesetz schützt das Leben nicht um jeden Preis", unantastbar sei nur die Menschenwürde. Man erinnert sich, welche Debatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble damit lostrat, als er diesen richtigen Gedanken formulierte. Auch an der Stelle, an der von Schirach die Aussage des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron kritisiert, nach der "wir im Krieg sind", könnte es in die Tiefe gehen.
Doch es bleibt an der Oberfläche. Diesen Gedanken wird kein Raum gegeben, es folgen umstandslos juristische Gemeinplätze: Es gehe um die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit, "wir leben in Demokratien, wir haben eine Gewaltenteilung".
Dabei wäre genau das die Frage, die es zu beantworten gilt: Wie verträgt es sich mit der Gewaltenteilung, dass das öffentliche Leben von Regierungen dichtgemacht wird – und gerade nicht vom Parlament? Zu einer Diskussion darüber kommt es aber nicht. Stattdessen erfahren wir, dass Montesquieu, der Vater der Gewaltenteilung, von Privatlehrern erzogen wurde und sein Schloss von einem hübschen Wassergraben umgeben war.
Und so werden die Fragen leider weitgehend plattgemacht durch zwei Monologe, die sich zu einem langen Geraune ohne rechtlichen Tiefgang entwickeln. Es endet dann in Sentenzen wie: "Aus der Seuche entsteht etwas Neues, das Virus hat uns an eine Zeitenwende gebracht." Wichtiger als bei einem Gedanken auch einmal zu verweilen, ist es den beiden offensichtlich, möglichst viele Namen von großen Geistern und Ereignissen der Weltgeschichte unterzubringen und in Zeitraffer am Leser vorbeiziehen zu lassen. So kann es dann passieren, dass man nur ein einziges Mal umblättern muss, um von Thomas Hobbes' Hauptwerk "Leviathan" aus dem Jahr 1651 zum Röhm-Putsch 1934 zu gelangen.
Ethische Probleme, aufbereitet als Fast-Food-Literatur
Juristischen Gehalt hat das weitgehend nicht. Es liest sich aber recht unterhaltsam, sobald man das Produkt akzeptiert hat: Es kommt nicht darauf an, sich zu verständigen und Antworten zu geben, sondern darum, Wissen abzuladen und Anekdötchen zu erzählen.
So berichtet etwa Kluge davon, wie er einmal im Café Jürgen Habermas ansprach (drunter geht es natürlich nicht), ihn dabei aber leider aus der Vorbereitung auf eine Vorlesung riss und dadurch fast körperlich verletzt hätte – er habe in dessen Konzentration geritzt, als sei es Haut. Und von Schirach erzählt, wie er leider daran scheiterte, ein Ei zu braten: Er hatte, da er immer auswärts isst, den Herd seit 15 Jahren nicht benutzt und briet deshalb nicht das Ei, sondern die Transportsicherung aus Plastik.
Erfrischend ironisch (wenngleich wohl unbeabsichtigt) liest sich auch die Passage, in der Kluge von Schirach den Inhalt von dessen Theaterstück "Terror" zusammenfasst, bei der ein Pilot eine lebenswichtige Entscheidung treffen muss – und von Schirach wissend ergänzt, dass es auch bei der Triage um wichtige Entscheidungen gehe: Was macht etwa ein Arzt, wenn es für eine 92-jährige Dame mit guten Aussichten und einen 21-jährigen Mann mit einer Überlebenswahrscheinlichkeit von 25 Prozent nur noch ein Beatmungsgerät gibt? Was wiegt schwerer: Restlebenserwartung oder Überlebenswahrscheinlichkeit? So bringt man große ethische Probleme gleich dramaturgisch auf das passende Niveau. Da wird sich doch jemand finden, der das zu einem Theaterstück verarbeitet? Echte ethische und rechtliche Probleme werden dadurch allerdings am Ende leider doch nur zu Fast-Food-Literatur: konsumieren und weg.
Immerhin: Kein Raum für Verschwörungstheorien
Aus dieser Perspektive erscheint von Schirach ein wenig wie der Richard David Precht der Rechtswissenschaft: Schwer beliebt beim Publikum, eher laue Begeisterung in der Fachwelt.
Erfreulich ist zumindest, dass von Schirach und Kluge die vorsichtige und besonnene Herangehensweise der Politik grundsätzlich gutheißen und keinen Raum lassen für Verschwörungstheorien. In Zeiten von Aluhüten und Frank-mir-schreibt-keiner-das-Händewaschen-vor-Castorf ist das nicht so wenig.
Der Anspruch des Buchs, dass zwei juristisch ausgebildete Intellektuelle fundamentalen Fragen "an einer Zeitenwende" auf den Grund gehen und über „das Strahlende oder das Schreckliche" reflektieren, wird allerdings grandios verfehlt: Am Ende bleibt der überwältigende Eindruck, dass sich hier zwei distinguierte Universalgelehrte darin gefallen, groß zu denken und enzyklopädisches Wissen ins Schaufenster zu stellen.
Das "Fußballspiel der Philosophen" übrigens haben die Deutschen verloren, durch ein Tor von Sokrates in letzter Minute. Vielleicht hätte es ja geholfen, wenn Martin Luther in der zweiten Halbzeit Kluge und von Schirach eingewechselt hätte.
Der Autor Dr. Lorenz Leitmeier ist hauptamtlicher Dozent an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern (HföD), Fachbereich Rechtspflege.
Von Schirach & Kluges "Trotzdem": . In: Legal Tribune Online, 11.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41869 (abgerufen am: 06.11.2024 )
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