In den vergangenen Jahren wurde oft beklagt, die Berichterstattung zu den USA und ihrem Präsidenten sei zu detailverliebt. Es wird Zeit, die Nähe zwischen Deutschland und der nordamerikanischen Republik anderswo zu finden.
Der Staatsrechtslehrer Hugo Preuß (1860–1925) geriet über den technologischen Fortschritt seiner Zeit und die neu eröffneten Möglichkeiten der Völkerverständigung ins Schwärmen:
"Den Begriff räumlicher Entfernung zwischen Europa und Amerika haben die wunderbar entwickelten Verkehrsmittel unserer Tage fast beseitigt; eine Reise nach New-York und selbst S. Francisco ist heute ein weit einfacheres Ding, als es im Anfange des Jahrhunderts eine Reise von einem Ende Deutschlands zum anderen war. Der in Amerika lebende Deutsche macht während weniger Wochen statt einer Badereise einen Besuch bei seiner Familie in Deutschland, und zur Einweihung einer amerikanischen Eisenbahn, die den atlantischen mit dem stillen Ocean auf's neue verbindet, unternehmen Koryphäen unseres politischen und litterarischen Lebens eine kleine Ferienspritztour nach dem 'fernen Westen'."
Städte wie Frankfurt am Main oder Leipzig verdankten, so Hugo Preuß, keinen kleinen Teil ihres Wohlstands den Kolonien deutsch-amerikanischer Rückkehrer in die alte Heimat: Millionen von Dollars "von den Deutschen in Amerika erworben, sind in dieser oder jener Form nach Deutschland zurückgeflossen". Dass dies, dank der bürokratischen Engstirnigkeit bayerischer Behörden nicht jedem Rückkehrwilligen erlaubt wurde, hat uns bekanntlich vier nervtötende Jahre beschert.
Der Austausch materieller Güter sei so gewaltig geworden, schrieb Preuß im Jahr 1886 – als die Dampferfahrt immerhin noch einige Tage in Anspruch nahm –, dass sich Europa und Amerika "nur durch einen Graben voll Salzwasser getrennt" sähen. Doch "der Verkehr im geistigen Leben, der Austausch ideeller Güter" habe "damit nicht gleichen Schritt gehalten".
Biografisches Lob auf einen deutsch-amerikanischen Juristen und Publizisten
Die transatlantische Schwärmerei des noch jungen Hugo Preuß, der 1919 bekanntlich den Entwurf für eine der besten deutschen Verfassungen vorlegte, galt Francis Lieber (1800–1872), einem Mann aus der Generation seiner Großväter, dem es trotz aller Widrigkeiten gelungen war, einen wesentlichen Beitrag zum "Austausch ideeller Güter" zwischen Deutschland und den USA zu leisten. Der historische "Brockhaus" (14. Auflage, 1902) weckt Bilder eines abenteuerlichen Lebens:
"Lieber, Franz, deutsch-amerik. Gelehrter und Publizist, geb. 18. März 1800 zu Berlin, machte die Schlachten von Ligny und Waterloo mit und wurde beim Sturm auf Namur 20. Juni 1815 schwer verwundet. Er studierte dann in Berlin und wurde 1819 als Demagog verhaftet, nach vier Monaten zwar freigegeben, allein polizeilich bewacht."
Bevor Lieber im Jahr 1827 in die USA auswanderte – er hatte in Berlin zum Umfeld des nationalistischen "Turnvaters" Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) gezählt, was der "Brockhaus" unter den Begriff "Demagog" fasste – geriet er zunächst noch mit der philhellenischen Bewegung 1821 nach Griechenland, also der europäischen Freiwilligen-Kampagne wild romantischer junger Leute, die an den Kämpfen zur nationalen Befreiung des Landes von der osmanischen Herrschaft teilnahmen.
In den USA erwarb sich der vormalige preußische Jura-Student, der nun Francis Lieber hieß, neben Einkommen einen akademischen Ruf, indem er zwischen 1828 und 1832 die 13 Bände umfassende "Encyclopædia Americana" herausbrachte. Für diese editorische Leistung, binnen weniger Jahre eines der ersten großen Lexika Amerikas zu publizieren, griff Lieber auf seinen deutschen "Brockhaus" zurück.
Deutsch-Amerikaner schreibt einen Schlüsseltext des Kriegsvölkerrechts
Ausgestattet mit einer tiefen enzyklopädischen Allgemeinbildung reüssierte Francis Lieber nicht nur auf akademischem Gebiet, als Professor an der späteren Universität von South Carolina, dann am Vorläufer-Institut der heutigen Columbia University, sondern auch auf dem Feld der Politik.
Die neue Republikanische Partei Abraham Lincolns (1809–1865) und ihr Programm der Sklavenbefreiung wurden wesentlich von deutschen Flüchtlingen und Einwanderern getragen. Auch Francis Lieber warb bei seinen deutsch-amerikanischen Landsleuten für die Wahl dieses ersten republikanischen Präsidenten.
Nach der heute wieder verstärkt als Hochverrat an den USA verstandenen Trennung der konföderierten Südstaaten verfasste Lieber im Auftrag Lincolns ein juristisches Dokument, das im Sezessionskrieg (1861–1865) einiges Gewicht haben sollte, die "Instructions for the Government of Armies of the United States, in the Field".
Diese heute meist kurz "Lieber Code" genannten Anweisungen regeln den Umgang mit dem eigenartigen konföderierten Feind, der einerseits nicht als vollständig rechtmäßig anerkannt, andererseits aber nicht zum bloßen Verbrecher erklärt werden sollte. Elegant verlangen die "Instructions" daher, dass die zum Schutz Unbeteiligter und auf den Fortbestand wichtiger Einrichtungen ausgelegten Kriegsbräuche der "zivilisierten Völker" anzuwenden seien, als ob man es mit einem regulären Feind zu tun habe. Die ausländischen Gesandten und Konsuln in den konföderierten Staaten seien beispielsweise zwar keine, aber als solche zu behandeln. Bei den bewaffneten Kräften des Feindes sei zwischen jenen zu trennen, die offen, und jenen, die hinterrücks kämpften – getragen werde das vom übergeordneten Prinzip der "Ritterlichkeit".
US-Ausbildungsliteratur in Sachen Ethik und Staatslehre
Ein ganzer Abschnitt des "Liber Code" behandelt die Pflichten der siegreichen Streitkräfte, fremdes Leben, privates und öffentliches Eigentum zu schützen und auch den Betrieb der öffentlichen Verwaltung – soweit nicht offen feindselig – aufrechtzuerhalten.
Francis Lieber, der als 15-jähriger junger Mann selbst noch gegen die Armee Napoléon Bonapartes gekämpft hatte, der nicht zuletzt mit seinen Kunstraubzügen böses Blut schuf, nennt ausdrücklich unter anderem wissenschaftliche Sammlungen, astronomische Instrumente und Bibliotheken, die besonders zu schonen und nicht etwa auszurauben seien.
Der kriegsvölkerrechtliche Schutz von Kulturgütern dürfte dem Juristen aus Berlin einiges zu verdanken haben. Das hier übergeordnete Prinzip nannte Lieber zwar beinah feudal "Ritterlichkeit", mit der ganz unromantisch eher archaisch-brutale Praktiken assoziiert werden könnten. Richtiger wäre es wohl, von Spielregeln des Krieges in einem bürgerlichen Zeitalter zu sprechen, in dem die militärisch formierte Gewalt aus den Kernprozessen rechtlich organisierter gesellschaftlicher Ordnung tunlichst fernzuhalten war.
Wie sich Francis Lieber diese gesellschaftliche Ordnung im Übrigen vorstellte, wird mit Blick in ein zweibändiges Werk deutlich, das er gut 20 Jahre vor dem amerikanischen Bürgerkrieg vorgelegt hatte: das "Manual of Political Ethics designed chiefly for the use of Colleges and Students at Law" (1838–1839).
Leider bleibt diese Fundgrube an juristischen und sozialtheoretischen Ideen dazu, wie Recht, Staat und Gesellschaft einer Menschheit beschaffen sein sollten, die sich damals auf dem Weg zum Ziel einer höheren Zivilisationsstufe sah, heute in beiden von Liebers transatlantischen Heimatländern weitgehend unbeachtet. Und das, obwohl die beiden Bände des "Manuals" in einem leicht zugänglichen Englisch und sichtlich für die kognitiven (Nebenfach-) Kapazitäten von amerikanischen Jura-Studenten der 1840er Jahre geschrieben sind.
Fundgrube zum Denken von Juristen in der Hoch-Zeit des Bürgertums
Die Fundgrube reicht von den psychologisch-philosophischen Grundlagen des Rechts, etwa zu den Unterschieden tierischen und menschlichen Verhaltens – Robert von Mohl (1799–1875), ein zeitgenössischer Rezensent erklärte, ein bisschen versnobt, das sei bloß eine Art deutsches Abiturwissen – bis ins beachtliche Detail von Figuren des positiven Rechts.
Beispielsweise setzte sich Lieber mit der Phrase "the king can do no wrong" auseinander, die er als nur potenziell verbindliche normative Idee dekonstruiert. Die moderne akademische Angebervokabel "dekonstruieren" passt hier einmal, denn der enzyklopädisch gebildete Jurist aus Berlin erklärte seinem amerikanischen Publikum leichtfüßig, dass selbst der Papst in einer Kontroverse einräumen musste, in Tatsachenfragen irren zu können, und in welcher Weise ein europäischer Fürst wie der kaum als bürgerlicher Liberaler firmierende Friedrich II. von Preußen (1712–1786) sich als "erster Beamter" ihres Staates verstanden habe. Die heutige Diskussion um eine "imperial presidency" der US-Hauptverwaltungsbeamten im Weißen Haus könnte davon eigentlich immer noch profitieren.
Nützlich dürfte auch die Auseinandersetzung mit Liebers juristischem Common Sense dort sein, wo er heute ganz aus der Zeit fällt. Gerade einmal ein, zwei Generationen, bevor die Suffragetten erste Erfolge erzielten – Wyoming führte 1869 das Frauenwahlrecht ein, Neuseeland 1893 – erklärte Lieber beispielsweise noch, warum Frauen aus dem öffentlichen Betrieb der Politik fernzuhalten seien.
Wo es Frauen gelungen sei, Macht auszuüben, etwa in den Volksbewegungen der Französischen Revolution oder als Mätressen europäischer Fürsten, sei ihr Handeln von einer für Männer ganz undenkbaren Skrupellosigkeit gewesen. In der Natur der Frauen liege eine Zartheit, die Männer überhaupt erst zu ritterlichem Verhalten ansporne – und reichlich weiterer Unfug dieser Art.
In einer Gegenwart, in der "Mansplaining" als relevantes Problem verkauft wird und man ängstlich nur noch darauf wartet, dass Deutschlandfunk- oder "Zeit"-Redakteure (m/d/w) 'entdecken', dass Hitler vor allem deshalb schlimm war, weil er in seinen Führerbefehlen niemals Wehrmachtssoldatinnen erwähnte, könnte eine Auseinandersetzung mit solchen Kernideen des echten bürgerlichen Patriarchats in seiner Epoche nicht schaden – bei Francis Lieber sind sie allesamt zu finden, einschließlich der Funktion, die "Ritterlichkeit" für das moderne Recht hatte.
Franz Lieber aus Berlin: . In: Legal Tribune Online, 10.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43936 (abgerufen am: 14.11.2024 )
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