Die Justiz in der Kunst: Theater bei Gericht

Gastbeitrag von Alexander Rupflin

29.09.2018

In Verhandlungen werden Juristen zu Schauspielern: Sie kostümieren sich, sagen gelernten Text auf und handeln nach einer festen Dramaturgie. Aber wieso kann ein Urteil dann die Welt verändern, wenn alles Theater ist? Von Alexander Rupflin.

Jene Tat, an diesem einen Abend im Herbst 2014, sollte als eine der grandiosesten Entführungen der vergangenen Jahre gelten. Aber obwohl die Geiselnahme unter den Augen der Öffentlichkeit geschah, erfuhr bis heute kaum jemand davon – und wenn, dann nur die Menschen, die sich für so ein grausiges Schauspiel von Natur aus interessieren. Komödie war das jedenfalls keine.

Im Herbst 2014 zerrte die Schriftstellerin Elfriede Jelinek die Angeklagte Beate Zschäpe kurzerhand aus dem Münchener Gerichtsgebäude, indem sie sie wenige Straßen weiter in die Münchener Kammerspiele verschleppte. Dort setzte die Autorin sie auf die Bühne, ein paar Schauspieler dazu. Dem Regisseur Johan Simons drückte sie den Text in die Hand, über 220 Seiten hatte das Skript. Dann scheinten die Spots, der Vorhang öffnete sich und Jelinek ließ die Taten der NSU-Terrorzelle noch einmal von vorne verhandeln.

In anderem Licht, nach anderen Normen, anderen Maßstäben. Mit Erkenntnisgewinn in gut zwei Stunden. Garantiert ohne Rechtsstaatlichkeit. Zermürbend war das. Ein paar Feuilletons berichteten – sonst interessierte dieser theatralische Irrsinn niemanden. So ist das mit der Kunst. Schließlich tauchte Zschäpe am nächsten Verhandlungstag wieder pünktlich im Gerichtssaal auf.

Akribisch hatte die Literaturnobelpreisträgerin Jelinek die poetische Geiselnahme geplant. Sie hatte sich die bisherigen Prozessprotokolle beschafft, Medienberichte verfolgt, sich mit der Biografie der Angeklagten genauestens auseinandergesetzt. Sie wusste, dass Zschäpe eigentlich unfruchtbar war, ihr die Eierstöcke entfernt worden waren, und sie dennoch irgendwie dazu in der Lage schien, dieses mörderische Trio in die Welt zu setzen: "Die Jungfrau wird schwanger werden, sie wird geboren werden, kaum geboren schon kastriert. Weg mit den Eierstöcken, die Jungfrau, geboren aus der Jungfrau."

All ihr Wissen und literarisches Geschick nutze Jelinek, um an Zschäpe auf der Bühne ein jüngstes Gericht voller biblischer Wut zu vollziehen; auf ihre Weise: Seitenweise assoziative Textflächen, die der Zuhörer nicht mitdenken, sondern mitempfinden muss, um daraus ein Verständnis zu entwickeln. Und es gelang ihr: Zschäpe verwandelte sich während der Vorführung in ein schweigendes Mädchen, um sie herum Propheten, Engel, ein Christus und der Richtergott.

Der Gerichtssaal ist eine Bühne

Aber wozu dieses Theater? Wieso aus der Zschäpe-Geschichte eine Bühnentragödie formen? Immerhin berichteten die Medien fast täglich über Zschäpe und ihre Mittäter und alles, was es zu sagen gab, wurde im Gerichtssaal bis zur Unerträglichkeit verhandelt. Dieser ganze NSU-Prozess war ja Tragödie genug. Alles inszeniert, alle Beteiligten hatten rasch ihre Rollen gefunden und die Dramaturgie war so stark, dass die Öffentlichkeit noch Jahre Akt für Akt verfolgen würde. Wozu? Weil Jelinek wusste: Der Gerichtssaal ist eine Bühne. Bretter, die die Rechtsordnung bedeuten.

Zurück ins Jahr 1685: In einer niederländischen Gerichtsstube wird der Fall von Frau Marthe Rull verhandelt. Die Frau beschuldigt den Verlobten ihrer Tochter, am vorherigen Abend eine Karaffe in ihrem Haus zerstört zu haben. Der wiederum versichert, dass ein Unbekannter ins Haus eingebrochen sei und dieser den Krug bei der Flucht vom Fensterbrett gestoßen habe. Was sich aber im Laufe des Prozesses für den genauen Beobachter herausstellt:

Der eigentliche Täter ist der Richter. Der hatte, so lässt sich erahnen, bei der Tochter von Frau Rull ein eher anarchisches Abenteuer gesucht. Darum setzt er alles daran, nicht aufzufliegen. Der Prozess verliert sich ins Absurde. Aus dem richterlichen Ideal, die Wahrheit aufzudecken, wird das gemeine Ziel, das Tatgeschehen zu verschleiern.

Das ist das Theaterstück "Der zerbrochene Krug", geschrieben von Heinrich von Kleist.

Offensichtlicht war Kleist die Verwandtschaft von Theaterbühne und Gerichtssaal ebenso bewusst wie Jelinek. Ihm muss aufgefallen sein, dass beide Orte Räume der Sprache sind. Räume, an denen eine Tat, also eine Handlung ausgesprochen, damit zum Sachverhalt aushärtet und somit kognitiv fassbar, also verhandelbar erscheint. Wir denken in Sprache (und träumen in Bildern).

Um eine Handlung im wahrsten Sinne ins Greifbare zu wandeln, müssen wir sie uns erst vorsprechen. Uns auf anderer Ebene nachspielen. Was dabei geschieht, das nennt der Sprachphilosoph John Searle in seinem Buch "Speach Acts" Assertiva. Sprechakte, die rein beschreibenden Charakter haben, wie etwa: Der Richter hat den Krug von Marthe Rull zerstört.

Die Doppelrolle eines Richters

Um die Theatralik der Gerichtsverhandlung zu entblößen, hat Kleist einen Trick angewandt. Cornelia Vismann verrät ihn in ihrem Buch "Medien der Rechtsprechung": Indem Kleist den Richter zum Täter deklassiert, verleiht der Dramatiker ihm eine Doppelrolle, die ihm im Gerichtssaal nicht zusteht. Kleist macht den Richter zum Rechtsorgan und gleichzeitig zum fehlbaren Menschen. Dadurch, dass der Richter sich während des Prozesses als Mensch enttarnt, handelt er wie ein Schauspieler, der sich auf der Bühne die Maske vom Gesicht reißt. Der Schwindel wird offenbar.

Für Kleist funktioniert das Gerichtsschauspiel nämlich nur solange, solange der Richter als Autorität unverwundbar wirkt. Nimmt man das Rechtsorgan hingegen als Mensch wahr, mit all seinen Lügen und Schwächen und Trieben, gibt es nur noch wenig Grund, das gesprochene Urteil anzunehmen. Warum soll der über mich urteilen dürfen, wird sich der Angeklagte fragen. Ist er doch nicht besser als ich auch!

Damit dieser Identitätsschwindel nicht auffliegt, trägt der Richter seine Robe, sein Kostüm, und gebraucht vorher festgelegte Phrasen, sein Drehbuch. Betritt er den Saal, müssen sich alle anderen erheben. Eine Performance. Der Mensch unter der Robe spielt eine Rolle. Diese nehmen wir ihm genauso ab, wie dem Schauspieler Benedict Cumberbatch im Londoner Barbican Theatre den Hamlet und im Fernsehen den Sherlock Holmes.

Und doch verändert das Urteil die Welt

Aber wo einem unverhofft Gemeinsamkeiten zwischen Gericht und Theaterbühne begegnen, da wartet auf der anderen Seite der ordnende Unterschied: Nicht-Juristen setzen Verhandeln mit Verurteilen häufig gleich. Gericht halten, hieße Urteil sprechen. Als sei Fußballspielen allein Tore schießen. Dabei sind Verhandeln und Urteilen zwei völlig unterschiedliche Weisen, mit Sprache und Sachverhalt umzugehen. Während Ersteres ein Geschehen erst nachvollziehbar macht, sowohl für Zeugen als auch für die, die das Handeln nicht beobachtet haben, ist das Urteil ein Sprechakt, aus dem eine Handlung und eine Veränderung folgen. Worte, die die Welt verändern. Searle bezeichnet das als Deklarativum.

Theater und Gericht wollen beide abstrakte, sperrige Dinge zu einem sagbaren Sachverhalt umgestalten und verhandeln. Urteile hingegen, also Deklarativa, scheint erstmal nur das Gericht auszusprechen. In einem zivilen Rechtsstreit obsiegt eine Partei, sofern es keinen Vergleich gibt. Im Strafprozess entscheidet das Gericht über Freispruch und Verurteilung. Offenbar ist der Mensch allein durch Sprache dazu in der Lage, innerhalb seines kulturellen Raums schöpferisch oder zerstörerisch tätig zu werden: Der Pfarrer, der das Kind tauft, der Standesbeamte der Ehen schließt, der Souverän, der Krieg erklärt.

Aber im Theater, da einigt man sich darauf, dass das was auf der Bühne geschieht, auch auf der Bühne bleibt. Das Geschehen dort wird zwar im Moment seiner Inszenierung als parallele Existenz anerkannt. Aber nur solange, bis der Vorhang fällt. Darum wirken Sterbeszenen auf der Theaterbühne meist unglaubwürdig. Denn der Tod der Figur würde über die Vorführung hinaus bis in alle Ewigkeit andauern. Der Zuschauer will sich das nicht vorstellen und kauft es den Darstellern nicht ab. Allzu theatralisch kommt ihm die Sterbeszene vor.

Was unterscheidet also am Ende das rechtskräftige Urteil von einer köstlichen Hummersuppe? Geht am Ende nicht beides auf ein ordentliches Gericht zurück? Es gibt durchaus Theater-Inszenierungen, in denen ein Urteil gesprochen wird: Der Dichterjurist Ferdinand von Schirach setzt in seinem 2015 uraufgeführten Stück "Terror" einen Kampfpiloten auf die zum Gerichtssaal umgestaltete Bühne.

Der Soldat hat ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug abgeschossen, bevor dieses in ein vollbesetztes Fußballstadion fliegen konnte. Juristisch geht es um die Fragestellung nach dem übergesetzlichen Notstand. Im Theater darf am Ende das Publikum abstimmen, ob der Täter verurteilt werden soll oder nicht. Je nachdem ändert sich die letzte Szene des Stücks.

Gericht und Theater - beides Seelenreiniger

Ein anderes Modell wählte die Theatergruppe Rimini Protokoll in ihrem Stück "Zeugen! Ein Strafkammerspiel". Dort standen reale Anwälte, Schöffen und Angeklagte als Experten des Alltags zusammen mit Schauspielern auf der Bühne und führten beide Räume zusammen. Sie überprüften Sprache, Architektur und Rollen des Gerichts, indem sie aus verschiedenen Prozessen zitierten und diese nachspielten.

Während der Stückentwicklung 2004 fiel Stefan Kaegi, Mitbegründer von Rimini Protokoll, eine weitere Gemeinsamkeit auf. Die Katharsis, die Reinigung der Seele, die nach Aristoteles jede ordentliche Tragödie beim Publikum bewirken soll und die moralische Erziehung fördere, "die scheint ja auch beim Gerichtsverfahren vorgesehen. Als Angeklagter hat man das letzte Wort, bei dem man Reue für seinen Taten zeigen sollte", sagt Kaegi.

Aber auch er muss zugeben, dass das Theater am Ende nicht die gleiche, unmittelbare Außenwirkung wie das Gericht mitbringt. "Mit dem Theater kann man jetzt nicht eins zu eins die Welt verändern, aber ich arbeite am Theater am Weltbild der Leute und habe einen direkten Austausch", erhofft er sich.

Und doch fallen selbst im klassischen Theater jeden Abend Urteile eigener Art: Wenn das Publikum am Ende der Aufführung applaudiert oder nicht, ist das ein Urteilsspruch. Die Rezension des Kritikers ist ein Urteilsspruch.

Der Jurist wird hier ein großes Aber einwerfen: Denn Publikum und Kritiker geben ja lediglich ein Geschmacksurteil ab, während das Urteil des Gerichts doch wohl einen objektiven Wert aufweist.

Aber als wie objektiv würde die Öffentlichkeit das Urteil eines Richters wahrnehmen, wenn es die Rechtsordnung, nachdem dieses Urteil gefällt worden ist, nicht mehr anerkennt? Ohne diesen Maßstab verliert der Richterspruch alle weltverändernde Bedeutung. Der Prozess verkommt zum Laien-Schauspiel.

Der lebendige, freie Austausch in beiden Räumen zeigt sich als Gradmesser für den gesunden Volksstaat. Wenn in der Türkei Behörden Theaterstücke absetzen, weil darin der Präsident Erdogan erkannt wird, wenn die polnische Regierung Gerichte entmachtet, dann hört der aufmerksame Bürger die Gemäuer der Demokratie bröckeln. Gerichte sind auch nur Theater – aber das "nur" ist dringend zu streichen. Denn Theater ist mächtig. Es reformiert die Gesellschaft ständig, unabhängig vom Raum, in dem es gespielt wird.

Alexander Rupflin ist freiberuflicher Autor, Reporter und Jurist. Als Journalist bewegt er sich im Spannungsfeld zwischen Justiz, Kultur und Mensch. Auf Twitter unter @Rup_Alex. 

Zitiervorschlag

Die Justiz in der Kunst: . In: Legal Tribune Online, 29.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31221 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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