Speenhamland-Gesetz: Bri­ti­sche Furcht vor der Apo­ka­lypse, geboren aus dem Sozial­recht

von Martin Rath

26.01.2020

Der Gedanke, dass der Mensch sich schneller fortpflanze als die Nahrungsproduktion zu erhöhen, wurde nicht zuletzt wegen einer sozialrechtlichen Reform vor 225 Jahren populär – und trieb später einschneidende Gesetze und Ideen voran.

Pferde wurden geliebt, Menschen waren ein Problem.

Wer im Vereinigten Königreich (UK) vor den Wahlrechtsreformen der 1830er Jahre zu den oft nur sehr wenigen vermögenden Männern zählte, die im Wahlkreis den Abgeordneten für das Unterhaus in London bestimmten, dem waren die Ursachen für die Misere bewusst. Den adeligen Herren im Oberhaus selbstverständlich auch: Die Pferdehaltung ging erheblich ins Geld, seit die armen Leute in der Gemeinde zur Nahrungskonkurrenz geworden waren, was insbesondere zu gestiegenen Preisen von Hafer geführt hatte, diesem wertvollen Treibstoff der Pferdewirtschaft – und zu allem Überfluss war man als Mann mit Geld auch noch verpflichtet, den Armen die Mittel dazu in die Hand zu geben.

Die Liebe zum Pferd war in gutbürgerlichen und adligen Häusern Englands weit verbreitet, unzählige Porträts der Tiere aus dem 18. und 19. Jahrhundert zeugen davon. Es ist nur eine mäßige Übertreibung zu behaupten, dass der Ärger über die Haferpreise zu einer der nicht nur politisch, sondern auch intellektuell einschneidendsten Entwicklungen der vergangenen 200 Jahre beitrug – der Ärger der begüterten Klassen des UK beendete das alte englische Sozialrecht und impfte westlichen Gesellschaften eine neuartige Furcht vor dem Bevölkerungswachstum ein.

Doch gehen wir der Sache der Reihe nach, lassen wir hier auch die Pferde einmal aus dem Spiel.

Bedingungsloses Grundeinkommen als Auslöser apokalyptischer Furcht

Schon seit dem Jahr 1597 waren für England und Wales von der Londoner Zentralgewalt Frühformen des Wohlfahrtsstaats etabliert worden:  Die rund 15.000 Pfarrgemeinden des Reichs wurden verpflichtet, Abgaben zu erheben, um für jene Armen zu sorgen, die aufgrund ihres Alters oder wegen körperlicher Gebrechen nicht arbeitsfähig waren – und deren Familien nicht für sie aufkamen. Geleistet wurden einfache Nahrungsmittel, unter Umständen kleine Geldbeträge. Arbeitsfähige Arme wurden in den später nach und nach entstehenden Arbeitshäusern beschäftigt.

Die Ausgestaltung des Systems blieb den Gemeinden überlassen, auch die soziale Kontrolle. Wie die Armen zur Arbeit angehalten wurden, unterschied sich nach lokalen und regionalen Bedürfnissen. Die Entscheidung darüber, ob jemand als arbeitsfähig zu gelten habe, war in hohem Maße von Willkür abhängig. Durch dieses soziale Netz zu fallen, war gefährlich. Die Bereitschaft britischer Richter, auch kleine Diebe an den Galgen zu bringen, war gefürchtet, Aufruhr wurde ebenfalls drakonisch bestraft.

Rund 200 Jahre lang blieb dieses System aus der Regierungszeit von Königin Elizabeth I. (1533–1603, im Amt seit 1558) in seinen wesentlichen Zügen erhalten, bis im Jahr 1795 eine unerhörte Neuerung eingeführt wurde. Die französische Revolution hatte die Furcht vor aufrührerischen Ideen in den Köpfen der niederen Bevölkerungsklassen geschürt. Der Krieg gegen Frankreich trug zugleich zur allgemeinen Teuerung, vor allem bei den Nahrungsmitteln bei.

Im Bedürftigkeitsfall gabs: Brot

Auf der Tagung einer Gruppe der für die Überwachung der örtlichen Pfarreiarmenfürsorge und der dazu notwendigen Besteuerung zuständigen Friedensrichter im südenglischen Newbury wurde mit der sogenannten Speenhamland-Gesetzgebung 1795 eine an den Brotpreis gekoppelte Sozialleistung beschlossen. Sofern nicht in einem Armenhaus untergebracht, sollte der arbeitsfähige Mann im Bedürftigkeitsfall den Gegenwert einer festgesetzten Brotmenge ausgezahlt bekommen. Für Familienangehörige wurde der Betrag in Brotäquivalenten aufgestockt.

Aufgrund der Verantwortung der Pfarrgemeinden für die Organisation der Armenversorgung wurde das Speenhamland-System zwar weder überall noch zeitlich unbegrenzt etabliert, erlebte aber eine erhebliche Konjunktur – nicht zuletzt, weil die persönliche Vertrautheit der örtlichen Armen-Aufseher mit ihrer Klientel und deren jeweiliger Notlage, die von der Elisabethanischen Gesetzgebung noch vorausgesetzt wurde, in diesem dynamisierten Sozialhilfetarif nicht mehr vonnöten war.

Es geschah, was sich Anhänger eines "bedingungslosen Grundeinkommens" auch heute noch vorhalten lassen müssen: Dort, wo das Speenhamland-System praktiziert wurde, verstanden es die seinerzeit neu aufkommenden Fabrikanten als eine Gelegenheit, die Löhne zu drücken. Gerieten die Arbeitskräfte durch den geringen Lohn in Not, stockte die Armenfürsorge ihr Einkommen auf das absolut lebensnotwendige Minimum auf.

Die dazu erforderlichen Mittel wurden durch die Besteuerung aller Vermögenden des Pfarrbezirks aufgebracht, trafen neben den gewerblichen auch die landwirtschaftlichen Unternehmen, die auf diesem Wege nicht nur das Lohndumping einzelner finanzierten. Die damit nunmehr verstetigte Nahrungskonkurrenz um die einfachsten Cerealien verteuerte nebenbei auch das Futtergetreide fürs Reittier – der daraus resultierende Unmut nicht nur der klassenbewussten Freunde der Fuchsjagd zog den Spott zeitgenössischer Sozialkritiker auf sich, die Pferde stünden ihnen näher als ihre erbärmlich lebenden Mitmenschen.

Nebenfolge des problematischen Sozialgesetzes: ein apokalyptisches "Naturgesetz"

Dass das sogenannte "Speenhamland Law" unbeabsichtigte fiskalpolitische Nebenwirkungen hatte, vor allem die Steuerzahler in den neuen Industrieregionen durch Zuzügler außerordentlich zu belasten drohte, war nun keine Erkenntnis, die sich den Zeitgenossen entzogen hätte. Spätestens mit dem Armengesetz des Jahres 1834 wurde dem faktisch garantierten Existenzminimum ein Ende bereitet.

Bis heute deutlich bekannter als das über den Brotpreis-Index organisierte britische Experiment mit einem garantierten Existenzminimum ist eine seiner intellektuellen Nebenwirkungen: Der englische Gelehrte Thomas Robert Malthus (1766–1834) formulierte mit seiner 1798 erstmals publizierten, wiederholt stark überarbeiteten Schrift "An Essay on the Principle of Population" und den 1820 veröffentlichten "Principles of Economics" das mathematische Axiom, demzufolge die Bevölkerung in geometrischer (1, 2, 4, 8 …), die Nahrungsmittelproduktion jedoch nur in arithmetischer Progression (1, 2, 3, 4 …) wachse – woraus mit naturwissenschaftlicher Zwangsläufigkeit von Zeit zu Zeit katastrophale Hungersnöte resultieren müssten.

Malthus' Publikationen waren zunächst schlicht eine Kritik an den Bedingungen, wie sie das "Speenhamland Law" hervorgebracht hatte. Angesichts relativer Nahrungssicherheit und strikt verpönter Empfängnisverhütung trug es mit einiger Sicherheit zum Bevölkerungswachstum in Großbritannien an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bei.

Unter anderem in der staatswissenschaftlichen Literatur des 19. Jahrhunderts wurde Malthus‘ sogenanntes "Bevölkerungsgesetz" jedoch als universal gültiges Axiom, ganz losgelöst vom denkbaren historischen Kontext aufgegriffen – als Begründung dafür, im Gegenzug zur Sicherung der nackten Existenz in die Freiheit der sexuellen Reproduktion einzugreifen.

In England und Wales kam dies beispielsweise im Armengesetz von 1834 darin zum Ausdruck, dass die in Arbeitshäusern untergebrachten Armen nunmehr nach Geschlechtern getrennt zu halten waren – eine Regelung, über die sich, getarnt als Spott auf Malthus, manche Londoner Theaterkomödie lustig machen sollte. Die bis heute anhaltende Unterleibsbezogenheit des überhaupt nicht feinen britischen Humors hat indirekt also auch eine Wurzel in der Sozialgesetzgebung des Jahres 1795. Spätere Malthus-Apologeten haben daraus gelernt, dass vor der Einmischung in die Schlafzimmerfragen der ärmeren Leute zunächst in deren Küche aufgeräumt werden muss.

Kontrolle der Fortpflanzung erwünscht

Auch in Deutschland fand die Idee einer polizeilichen Regelung der Fortpflanzung der von Staats wegen am Leben erhaltenen Armen ein recht breites Echo.

Während es Malthus im Kern um den liberalen Gedanken gegangen war, der Staat solle die Armen – von Zeiten reiner Naturkatastrophen abgesehen – nicht subventionieren, damit ihre Fruchtbarkeit aus jeweils eigenem Kalkül in den Bahnen der allgemeinen Nahrungsmittelzugänglichkeit bleibe, wurde hierzulande bereits im 19. Jahrhundert eine Pflicht des Staates zur Regulierung der Bevölkerungszahl und -qualität gesehen. 

Der Jurist und Ökonom Robert von Mohl (1799–1875), dem wir auf Umwegen den Begriff des Rechtsstaats zu verdanken haben, bedauerte beispielsweise 1840 in seinem "Staatsrecht des Königreichs Württemberg" (Bd. 2, S. 314), dass die dort bereits bestehende Regelung, die unter 25-jährigen Männern die Ehe verbot, nicht wirklich zur "Zurückhaltung der Bevölkerung" beitrage, sodass die Einführung "umfassender und bedeutender Maaßregeln" der Demografiesteuerung "nicht zu spät möchte eingesehen werden".

Dieser Wunsch, die Fortpflanzungsfreude junger Schwäbinnen und Schwaben polizeilich nur unter dem Vorbehalt staatlicher Ressourceneinschätzung zu erlauben, sollte angesichts des späteren deutschen Staatsterrors – mit auch bevölkerungspolitischem Kalkül – noch zu den harmloseren Ideen zählen.

Mit Blick auf die gut dokumentierte britische Debatte zwischen 1800 und 1830 wünschte man sich hierzulande deutlich mehr Offenheit und Prinzipienbewusstsein in der Diskussion von ökonomischen und gesellschaftlichen Konsequenzen gesetzgeberischer Akte.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Hat nicht etwa die Beseitigung des Kapitaldeckungsverfahrens im deutschen Rentenrecht 1957 neben demografischen Konsequenzen auch die Folge, dass es der produktiven Generation heute am Venture Capital mangelt, das sie zur unternehmerischen Lösung von Gegenwartsfragen bräuchte – gewiss zugleich eine diskrete Quelle der schlechten Laune im heutigen Deutschland?

Tipp: Anne Digby: "Malthus and Reform of the English Poor Law". In: M. Turner (Hg.): "Malthus and his time". Houndmills/London 1986

Zitiervorschlag

Speenhamland-Gesetz: . In: Legal Tribune Online, 26.01.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39885 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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