Einfluss der Presse auf historisches Urteil in Amerika: Mehr als nur die vierte Gewalt

von Martin Rath

03.04.2016

2/2: Sex, Crime und eine Wrestling-Karriere

Die Verteidigung konnte den prozessführenden Richter nicht dazu bringen, Verfahrensfehler zu erkennen. Egal, ob es nun die weitgehende Öffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens war, der Austausch eines Jury-Mitglieds oder die Beeinflussung durch die massive Medienpräsenz. Es ist vermutlich allgemein nicht leicht für einen Richter, hier über den eigenen Schatten zu springen. In diesem Fall stand er auch noch vor einer Wiederwahl, dem Segen und Schrecken des Demokratieprinzips, dem in den Staaten der USA vielfach auch die Richter unterworfen sind.

1963 lief die Fernsehserie The Fugitive an. Es heißt, die Geschichte sei vom Fall Sheppard inspiriert gewesen. Nachgeborenen ist der Plot vielleicht durch Dr. Kimble auf der Flucht, den Spielfilm von 1993 bekannt, in dem Harrison Ford einen Arzt spielt, der, zu Unrecht des Mordes an seiner Frau beschuldigt, eine abenteuerliche Flucht samt Überführung des wahren Täters bewältigt.

Ein Täter wurde im Fall Sheppard zwar nie überführt, wenngleich ein erheblich tatverdächtiger, wegen eines anderen Mordes bereits Verurteilter in Betracht gezogen wurde. Immerhin ordnete ein Bezirksrichter 1964 die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Sheppard wegen Verletzung grundlegender Prozessregeln an, wogegen sich der Bundesstaat Ohio zur Wehr setzte. Schließlich erklärte der Oberste Gerichtshof in Washington 1966 mit acht zu eins Stimmen, dass Sheppard 1954 kein faires Verfahren erlebt habe. Die Jury des nun folgenden Prozesses erkannte im November 1966 schließlich auf "nicht schuldig".

Sexualität und Verbrechen - und weil dies nicht genügt, noch einige dramatische Aspekte - mehr machten den Fall Sheppard zu einem Thema von dauerhaftem Interesse: Wieder auf freiem Fuß heiratete Sheppard ein zweites und ein drittes Mal, begann wieder in seinem Beruf zu arbeiten, verlor aber nach einem Arzthaftungsprozess die Zulassung. Seine Mutter und sein Ex-Schwiegervater begingen nacheinander Suizide, der als alternativer Täter Hauptverdächtige erklärte sich allenfalls vage zu seiner möglichen Tat. Während seiner Haftzeit soll Sheppard sich an einem medizinischen Versuch beteiligt haben, bei dem er sich aktive Krebszellen zu Forschungszwecken in die Leber spritzen ließ.

Er starb mit 46 Jahren im Jahr 1970 am Versagen dieses Organs, hatte zuvor allerdings noch eine Karriere in der US-amerikanischen Variation der Ballettkunst absolviert: aus dem Mediziner Dr. Sheppard war ein Profi-Wrestler geworden.

Zu viel Öffentlichkeit macht bange

Über die als Sport maskierten Abwege der US-Unterhaltungsindustrie - Sheppards Künstlername als Wrestler war "Killer" - brauchte sich deutschen Bundesrichter Seibert 1966 noch keine Gedanken machen. Sein Naserümpfen galt dem unsportlichen Einsatz der Medien im Zusammenspiel mit der Justiz. In Deutschland, so Seibert, müsse "im Zeitalter ununterbrochener Nachrichten-Berieselung" es dem Richter "um die Angeklagten nicht bange sein, […] nur um ihre Opfer."

Über die Frage, ob audiovisuelle Medien an der Gerichtsöffentlichkeit auch in Deutschland teilhaben dürften, wurde in den 1960er und 1970er Jahren heftiger diskutiert als heute. Was Seibert davon hielt, gab er in seinem juristischen Feuilleton 1966 unschwer zu erkennen.

Der fleißige Feuilletonautor Seibert, er verstarb 1977, erfuhr selbst noch einmal 20 Jahre nach seinem Tod eine bescheidene Öffentlichkeit, als ein Kölner Medienanwalt seine Beteiligung an einem Beschluss des Kammergerichts aus dem Jahr 1938 thematisierte, mit dem einem evangelischen Pfarrer versagt worden war, seiner Tochter den zwar biblischen, aber eben "jüdischen Namen" Esther zu geben – ein Richterdienst treu im Geiste des NS-Staats.

Über die Abgründe einer bösartig aufs Strafrecht einwirkenden Öffentlichkeit zu urteilen war 1966 noch leicht - ebenso, wie über die eigenen biografischen Abgründe hinwegzusehen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.


Zitiervorschlag

Martin Rath, Einfluss der Presse auf historisches Urteil in Amerika: . In: Legal Tribune Online, 03.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18948 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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