Die Schrecken – und finanziellen Notlagen – des Krieges sorgten 1915 wohl dafür, dass so manch sonst rationaler Jurist entweder fast den Verstand verlor, zumindest aber auf absonderliche Rechtsgedanken kam. Eine Zeitreise mit Martin Rath.
Der Engländer an sich sei ein "pathoformer Lügner". Er lüge also in einem fast krankhaften Ausmaß, wann immer sich die Gelegenheit biete, sei dabei aber doch noch den Maßstäben der psychiatrischen Wissenschaft nicht krank. Daher bliebe das "ekelerregende und so bodenlos gemeine Lügen der Engländer", würde es sich ein Zeuge vor Gericht leisten, "strafbar, denn geisteskrank sind sie nicht".
"Ehre und Ansehen des britischen Volkes" seien, "für immer zermalmt", stellte Hans Gross abschließend fest. Und als gelernter Jurist verkündete er auch gleich das Urteil: "Das Weltgericht der Weltgeschichte wird auch nicht eine einzige Milderung zu finden vermögen, es wird dem Kriminalisten Recht geben, der das ganze Vorgehen eines mächtigen Volkes als dolos, als Verbrechen, bezeichnet."
Es war der österreichische Strafrechtsprofessor Hans Gross (1847-1915), dem mit der Rhetorik auch noch der Verstand durchging. Gross, bis heute bekannt als führender Mitbegründer der Kriminalistik im deutschsprachigen Raum, nahm die britische Propaganda im Ersten Weltkrieg zum Anlass, ein ganzes Volk zu krankhaften Lügnern zu erklären – an der amtlichen deutschen Kriegspublizistik mochte er dagegen nur wissenschaftlich korrekte Dokumentationsbedürfnisse erkennen.
Zu finden ist diese bizarre Mischung aus Nationalgefühl und gerichtspsychologischer Gutachterei in der "Deutschen Juristenzeitung" (1915, S. 52-55) unter dem Titel "Die Lüge und der Krieg" – zusammen mit so manch anderer kurioser Rechtsidee, bei der man froh sein kann, dass sie nie realisiert wurde.
Rechtswissenschaftliche Publizistik im Kriegsdienst
Die renommierte rechtswissenschaftliche Zeitung widmete ihre Seiten fast vollständig den juristischen Seiten des Kriegsgeschehens, von der Rechtstellung der Kriegsgefangenen über das Mietrecht bei drohendem Einmarsch des Feindes bis zur Frage, welches Recht die Gemeinden bei der Neuanlage überkonfessioneller "Heldenfriedhöfe" zu beachten hatten – eine gar nicht uninteressante Rechtsfrage, denn die friedhofsrechtlichen Normen sind, ganz ohne Helden, bis heute mancherorts noch einschlägig.
Mit der gewissen Schlitzohrigkeit, die damals unter Menschen in der Region zwischen Danzig und Königsberg wohl eigen war, wurde die kriegerische Rhetorik im rechtswissenschaftlichen Druckwerk aber auch schon einmal unterlaufen: Der Insterburger Rechtsanwalt und Notar Dr. Ernst Siehr (1869-1945) erklärt in seiner Eigenschaft als Leutnant an der Front, dass der "Heldentod … eine – bedingte – Pflicht" sei. Natürlich sei es des Deutschen heiligste Pflicht, sich aus moralischen und rechtlichen Gründen für Kaiser und Vaterland zu opfern. Doch müsse diese Pflicht nicht schon deshalb "bedingt" sein, damit sich des Kaisers wertvolle Soldaten nicht allzu ungestüm ins feindliche Feuer stürzten?
Diese Logik entfaltete der ostpreußische Jurist unter dicken Schichten martialischer Heldenprosa (DJZ 1915, Sp. 496-497). Statt einer Rechtfertigung von Kadavergehorsam vermittelte Siehr die Vernunft, im Krieg überleben zu wollen. Mit der Anbetung der Todesliebe, die damals für rund 30 Jahre in Deutschland praktiziert wurde, hatte das nichts gemeinsam.
Eine Nach-Geschichte scheint für die menschenfreundliche Interpretation zu sprechen: Als 1920 militärische und politische Verschwörer im sogenannten Kapp-Putsch versuchten, die demokratische Reichsregierung zu stürzen, übernahm der liberale Jurist Siehr, der sich 1915 subtil zum Heldenmut äußerte, das Amt des Oberpräsidenten von Ostpreußen – als Nachfolger des rechtsextremen SPD-Politikers August Winnig, der sich dem Putsch angeschlossen hatte.
Martin Rath, Das Kriegsjahr 1915 in der Deutschen Juristenzeitung: . In: Legal Tribune Online, 06.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16812 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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