2/2: Wie kommt das Fall-Wissen zum Entscheider?
Dass sich juristisches Denken über Fälle entwickelt, hat natürlich einen nur begrenzten Neuigkeitswert. Warum es sich trotzdem lohnt, sich grundsätzlich einmal der Frage zu nähern, welche Funktion Fälle an sich haben und welche Konsequenzen die jeweils modischen Formen haben, Fälle darzustellen, welche Schlüsse sich ankündigen könnten, wenn eine Wissenskultur beginnt, vermehrt über Fälle zu diskutieren, deuten neben dem Beitrag von Kudlich einige weitere Aufsätze im Sammelband "Fall, Fallgeschichte, Fallstudie. Theorie und Geschichte einer Wissensform" an, herausgegeben von Susanne Düwell und Nicolaus Pethes (Frankfurt am Main, 2014).
Kudlich gibt als Beispiel für den faktischen Vorrang von Fällen gegenüber Normen den Umstand an, dass schon Jurastudenten "in Klausuren und Hausarbeiten (regelmäßig vom Korrektor unbeanstandet) letztlich nicht ernsthaft unter den Gesetzestext, sondern unter anerkannte Definitionen aus Kommentaren und Lehrbüchern" subsumierten. Dass in Kommentaren und Lehrbüchern Fall-Wissen referiert wird, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Sich diesen Umstand überhaupt zu vergegenwärtigen, öffnet aber den Blick auf die (macht-) politischen und ökonomischen Seiten der Konzentration auf Fall-Arbeit.
Wie oft macht man sich denn schon die Quellen klandestiner Einflüsse bewusst, das eingeht, wer nicht das Risiko der eigenständigen methodischen Gesetzesauslegung und Entscheidungsbegründung wagt, sondern sich auf Vor-Fälle stützt, die durch Kommentar und Fachzeitschrift vermittelt werden?
Kudlich: "(D)er Schriftsteller Herbert Rosendorfer, durch seine Tätigkeit als Richter in der bayerischen Justiz ein echter Insider in diesen Fragen, bringt es in seinem Roman 'Ballmanns Leiden oder: Lehrbuch für Konkursrecht' auf den rechtstheoretisch interessanten Nenner, dass die Bedeutung der NJW-Leitsatzredaktion für die Fortbildung des Rechts noch größer sei als diejenige des Bundesgerichtshofs."
Risiken und Nebenwirkungen des Fall-Denkens
Entlarvt wird mit diesem "rechtstheoretisch interessanten Nenner" natürlich wenig, die Haltung des Entlarvens ist ja ohnehin eher langweilig, zumal noch kein akademischer Jurist zu finden war, der wegen der Leistungen des Hauses C.H. Beck nicht zwischen tiefer Verehrung und mildem Spott, des Einflusses wegen, schwankt. Zu fragen ist aber, ob die Anleitung zum selbstständigen Verfassen von "Leitsätzen" aus dem stets frischen Fall-Material im rechtswissenschaftlichen Studium den Platz findet, den sie verdiente – von Petitessen wie dem historisch-kritischen Abgleich solcher Übungen mit älterer Rechtsprechung oder naheliegenden Gesetzgebungsmaterialien einmal ganz abgesehen.
Einen Fingerzeig auf Gefahren, die sich aus einer fehlenden Trittsicherheit in der Methodik, Fälle auszuwerten, ergeben, insbesondere dann, wenn der Mut zur selbständigen Auslegung von Normen untrainiert bleibt, gibt Marcus Düwell, Professor für Ethik an der Universität Utrecht, in seinem Beitrag zum genannten Sammelband. Der Titel: "Kasuistik in der Bioethik: Der Fall als Methode ethischer Reflexion", verrät, dass es hier um Fall-Wissen geht, auf das heute überwiegend Mediziner lebenswichtige Entscheidungen stützen.
Es kann hier beispielsweise um die Fallfrage gehen, wie ein Spenderorgan zu vergeben ist, wenn mehrere potenzielle Empfänger darauf warten. In der Zeitnot der realen Entscheidung wird vieles vergeben und vergessen werden, vermutlich zu Recht – vor den Kadi gerät derlei ja nur, wenn Geld im Spiel war. Interessanter ist die Frage, wie sich die in den vergangenen 40 Jahren zunehmend biopolitischen – unfeiner: ‚sozialdarwinistischen‘ oder ‚neoliberalen – Erwägungen in die virtuellen Fallbespiele und -diskussionen der Medizinethiker eingeschlichen haben. Anders als Juristen, die sie von Berufs wegen benötigen, werden Mediziner wohl keine so ausgeprägte Wachsamkeit gegenüber solchen ideologischen Einflüsterungen besitzen. Glücklicherweise dürften sie die reale Entscheidung, ob z.B. das freundliche, aber geistig behinderte Kind oder der garstige, aber geistig gesunde Erwachsene die Spenderniere erhält, eher selten treffen müssen. Wie viel Ideologiebildung findet aber in den fiktiven Fällen statt?
Über welche Fälle wollen wir wie verhandeln?
Dass Juristen jenen Ausschnitt an Realität sehr selektiv betrachten und verschriftlichen, über den sie später entscheiden möchten, und zwar mit dem Fall- und Normwissen, das sie bereits kennen, beschreibt sogar der kaum als Heros der Rechtssoziologie in Erscheinung getretene Karl Larenz in seiner "Methodenlehre der Rechtswissenschaft (II. Teil, 3. Kapitel). Es lohnt sich daher, sich den "Fall als Methode", seine Herstellung mittels Erzählung und Verschriftlichung, seine Anfälligkeit für ideologische Beimischungen und seine rhetorische Attraktivität sowie Anschlussfähigkeit für spätere Fälle vor Augen zu führen. Welchen Erkenntnisgewinn das DFG-Projekt für Juristen bringt, wird man neugierig beobachten dürfen.
Einen bösen Befund, bei Düwell zu finden, darf man aber vorwegnehmen.
Einst gab es in Europa, jedenfalls in seinen katholischen Gegenden, den Stand des Priesters, der einen Gutteil seiner Arbeitskraft dem Beruf des "Beichtvaters" widmete, einer Funktion, in der sich ethische und psychologische Beratung verbanden. Auf kasuistische Literatur und Lebensführungshinweise griff der Geistliche gern zurück, weil und soweit es ihm schlicht an Verstand und höherer Bildung fehlte, um abstrakt-normativ auf biblische oder theologisch ausgefuchste Herleitungen der Sünde – als realem Tatbestand – zuzugreifen.
Ein Zuviel an Fall-Denken könnte man als Beleg für einen Mangel an abstraktem Denkvermögen werten.
Literatur & Tipps: "Fall - Fallgeschichte - Fallstudie. Theorie und Geschichte einer Wissensform" von Susanne Düwell und Nicolas Pethes (Hg.). Frankfurt am Main (Campus) 2014. Karl Larenz: "Methodenlehre der Rechtswissenschaft", II. Teil, Kapitel 3: "Bildung und Beurteilung des rechtlichen Sachverhalts", Berlin u.a. (Springer) 1991. Roland Dubischar: "Prozesse die Geschichte machten. Zehn aufsehenerregende Zivilprozesse aus 25 Jahren Bundesrepublik", München (Beck) 1997.
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Grundlagen rechtswissenschaftlicher Arbeit: . In: Legal Tribune Online, 06.12.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17759 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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