2/2: "Hitlergruß" rechtsstaatlich geboten
Der Bundesdisziplinarhof billigte dem Stadtinspektor zu, dass die Fragen des Dienstherren zu seinen Motiven, sich nicht aktiv in NS-Organisationen zu betätigen, seinerzeit rechtsstaatwidrig gewesen seien.
In der nachlässigen Ausübung des "Hitlergrußes" erkannten die Bundesrichter 1955 aber Anzeichen einer überhaupt nachlässigen Haltung des Beamten gegenüber seinen Vorgesetzten, die ihm 1938 unter anderem zum Vorwurf gemacht hatten, dem Gruß etwa durch das Tragen von Akten aus dem Weg gegangen zu sein. Oft hatte der Beamte dann auch mit dem linken Arm gegrüßt, was von Amts wegen nur Körperbehinderten erlaubt war: "Zu den selbstverständlichen Pflichten eines Beamten gehört es, seinen Dienstvorgesetzten mit Achtung zu begegnen. Die Bezeugung der Nichtachtung durch absichtlich nachlässiges Grüßen ist unter jeder Staatsform auch nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ein Dienstvergehen, das eine Ahndung erfordert. Hierfür ist es ohne Bedeutung, daß die damals vorgeschriebene Form des Grußes die des Hitlergrußes war."
Damit trennte der Bundesdisziplinarhof den "Hitlergruß" 1955 in eine gleichsam gute, der sozialen Konvention geschuldete Geste auf, deren Unterlassung einem Beamten als Dienstvergehen vorzuwerfen war, und den nach dem Untergang der NS-Herrschaft unerwünschte bzw. verbotenen Aspekt des Grußes.
Der Peinlichkeit, eine rechtliche Konsequenz aus dieser feinen Unterscheidung zu ziehen, entging der Bundesdisziplinarhof, indem er erstens die 1938 verfügte Entlassung aus dem Dienst für unverhältnismäßig erklärte. Die zweite umgegangene Peinlichkeit bleibt pikant: Eine dienstrechtliche Geldstrafe wegen schlecht oder nicht ausgeführtem "Hitlergruß" wäre in Ordnung gegangen, sie nachträglich zu verhängen war – dieser Peinlichkeit entgingen die Richter 1955 – von Rechts wegen vom Bundesdisziplinarhof nicht zu besorgen.
"Unpolitischer" Hitlergruß? - Eher Unfug
Dem Bundesdisziplinarhof diesen feinen Unterschied zwischen dem politischen und unpolitischen, insoweit beamtenrechtlich und rechtsstaatlich gebotenen "Heil Hitler" als putzige Fehlleistung anzukreiden, könnte sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, eine anachronistische Moral Nachgeborener an den Beschluss von 1955 anzulegen. Fraglich ist, ob der Hitlergruß zwischen 1933 und 1945 als schlichte Höflichkeitsgeste etabliert war.
Ist dies wirklich fraglich? In seiner Studie "Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste" (2005) zitiert der Frankfurter Soziologe Tilman Allert beispielsweise eine Anordnung des Reichsinnenministers vom 22. Januar 1935. Die Anordnung erinnert die Behördenmitarbeiter daran, dass die Beziehung des Beamten "mit dem Führer und Reichskanzler zu einem höchstpersönlichen und unlösbaren Treueverhältnis ausgestaltet, dem in besonderer Form des deutschen Grußes Ausdruck zu geben, die Beamten-, Angestellten und Arbeiterschaft der öffentlichen Verwaltung, wie ich überzeugt bin, freudig gewillt ist. Ich ordne daher an, daß fortan die Beamten, Behördenangestellten und -arbeiter den deutschen Gruß im Dienst und innerhalb der dienstlichen Gebäude und Anlagen durch Erheben des rechten – im Fall körperlicher Behinderung des linken – Armes und durch den gleichzeitigen deutlichen Ausspruch 'Heil Hitler' ausführen. Ich erwarte von den Beamten, Behördenangestellten und -arbeitern, daß sie auch im außerdienstlichen Verkehr in gleicher Weise grüßen."
Affen sind abzuschlachten
Tilman Allert führt weitere Beispiele für rechtlichen Zwang und justizförmigen Terror an, die sich sowohl an die Nichtbeachtung wie an unerwünschte Formen des "Hitlergrußes" anschließen konnten. Die politische Polizei in Hessen wurde 1934 beispielsweise angewiesen: "Es wird uns berichtet, daß von fahrenden Schaustellern dressierte Affen darauf abgerichtet sind, […] den deutschen Gruß nachzuahmen. Derartige Vorführungen sind geeignet, den deutschen Gruß verächtlich zu machen und damit in der Öffentlichkeit Anstoß zu erregen. Wir beauftragen Sie deshalb, in Zukunft auf Jahrmärkten und bei sonstigen Gelegenheiten die fahrenden Schausteller eingehend in dieser Richtung unauffällig zu kontrollieren und bei festgestellten Verstößen die Abschlachtung der betreffenden Tiere zu veranlassen."
Mangelnde Grußbereitschaft löste den Anfangsverdacht staatsfeindlicher Gesinnung aus: Ein spielerischer Umgang mit dem "Hitlergruß" brachte den dressierten Affen in die Abdeckerei und den Anhänger der Swing-Musik mit ihrem ironischen "Swing Heil" ins Jugendkonzentrationslager.
Nein, es fällt schwer, mit dem Bundesdisziplinarhof des Jahres 1955 zwischen politischer Substanz und höflichem Akzidenz (oder umgekehrt) einer Grußformel und -geste zu unterscheiden.
"Satyrspiel" des frühen Bundesbeamtenrechts
Der Beschluss des Bundesdisziplinarhofs steht, wie der spätere Professor Michael Kirn in seiner Dissertation „Verfassungsumsturz oder Rechtskontinuität?“ (1972) zeigte, in besonders drastischer Weise für den heftigen Streit, der sich in den 1950er Jahren zwischen dem Bundesverfassungsgericht und insbesondere dem BGH abspielte.
Sehr verkürzt gesagt, vertraten die Verfassungsrichter den Standpunkt, dass die Beamtenverhältnisse mit dem NS-Staat am 8. Mai 1945 untergegangen seien, während sich der BGH auf das Konzept eines fast gottgegebenen Beamtenverhältnisses festlegte, das von keiner Staatsordnung in seinem unpolitischen Kern befleckt werden und schon gar nicht untergehen könne. Besonders verwirrte Anhänger der letztgenannten Position findet man heute gern unter den Aluhut-Trägern der "Reichsbürger" – und unter ihnen die richtigen Adressaten für den garstigen Matthias-Beltz-Scherz.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Bundesdisziplinarhof 1955: . In: Legal Tribune Online, 19.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16273 (abgerufen am: 24.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag