Wäre der 1. Weltkrieg mangels "Attentat von Sarajevo" ausgeblieben, würde uns jetzt die Flut an Gedenkbeiträgen in den Medien erspart bleiben. Die Chance wurde vertan. Und so schließt sich auch Martin Rath dem Gedenken an und wirft einen Blick in die Untiefen des Strafprozess- und -vollzugsrechts für Bosnien und die Hercegovina von 1891. Dabei stößt er auf ein besonders langes Normungeheuer.
In Monarchien hört man nicht gern auf kleine Mädchen. Das weiß man aus Andersens "Des Kaisers neue Kleider", wo ein Kindermund bekanntlich Staatsorgane bloßstellt. Nachdem am berüchtigten 28. Juni 1914 zu Sarajevo zunächst ohne großen Schaden am k.u.k. Thronfolger Sprengkörper geworfen worden waren, soll ein "junges Mädchen den nächsten Wachmann auf einen verdächtigen jungen Mann aufmerksam gemacht haben, der etwas versteckt hielt" und später schießen sollte. Karl Kraus (1874-1936), der berühmte Journalismus- und Justizkritiker, notierte zum zehnten Jahrestag des Attentats die Antwort der uniformierten Staatsgewalt: "Der Wachmann wies sie unwirsch ab: 'Lassen Sie mich in Ruhe, ich muß jetzt salutieren.'"
In Kraus' Zeitschrift Die Fackel findet sich 1924 auch ein Hinweis, wie uns die notorische Gedenkerei zum 100. Jahrestag des Weltkriegs hätte erspart bleiben können: "Das Attentat kam nicht unerwartet, es lag sozusagen in der Luft. Nach der mündlichen Mitteilung des Budapester Polizeikonzipisten Ristic an mich hatten der italienische und der deutsche Konsul sowie der Präsident der Bosnischen Landesbank gewarnt. Die Budapester Polizei bot dem Wiener Hof vierzig Detektive zur Bewachung des Thronfolgers auf seiner bosnischen Reise an. Der Wiener Hof fragte zurück: 'Wieviel kostet das?' Budapest antwortete: '8000 bis 10.000 Kronen.' Wien gab zurück: 'Das ist uns zu teuer. Schicken Sie zwei Detektive.'"
Eingeschränkte Öffentlichkeit während des Prozesses
1918 erschien in Berlin, als Sonderdruck aus dem "Archiv für Strafrecht und Strafprozeßrecht", versehen mit einem martialischen Vorwort des berühmten Berliner Rechtsgelehrten Josef Kohler (1849-1919), ein "nach dem amtlichen Stenogramm der Gerichtsverhandlung" erstellter Bericht zum Prozess gegen die Attentäter des 28. Juni 1914. Vor und zwischen den Protokollen des Frage-Antwort-Spiels der Prozessbeteiligten raunt es recht szenisch aus diesem jedenfalls authentisch wirkenden Bericht.
Sarajevo, 12. Oktober 1914: "Die Verhandlungen werden in den Räumen des Garnisons-Militärgerichts geführt. Der Saal im ersten Stock ist hell genug und ziemlich akustisch. Er hat vier Fenster: zwei an der Stirnseite und zwei im Hintergrund des Zimmers. […] Der einzige Schmuck des Zimmers sind ein Bild des Kaisers und eines des verewigten Thronfolgers Franz Ferdinand."
Die Angeklagten "sehen recht elend aus. Sie tragen einfache Kleider, ihre Gesichter sind bleich und abgemagert. Neugierig sehen sie sich um und betrachten das Publikum." Leider gibt der Berichterstatter, der sich Professor Pharos nennt, keinen rechtlichen Hinweis darauf, warum das Publikum nur aus dem Bürgermeister, dem Vizepräsidenten sowie einem Abgeordneten des Landtags von Bosnien-Herzegowina und einigen Offizieren besteht. § 236 der Strafprozessordnung für Bosnien und die Hercegovina (StPO B/H), die 1891 von der österreich-ungarischen Herrschaft nach dem heimatlichen Vorbild der cisleithanischen StPO von 1873 eingeführt wurde, schreibt, ganz modern, im Grundsatz Nichtigkeit vor, wenn die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird. Laut § 237 StPO B/H kann dies durch einen Beschluss geschehen, der schriftlich – mit Sittlichkeits- oder Sicherheitserwägungen – zu begründen ist. Professor Kohler in Berlin, eigentlich ein bemerkenswerter intellektueller Jurist seiner Epoche, fragte bei seinem Informanten in Sarajevo leider nicht danach. Er schäumte lieber über die "Vernichtung" byzantinisch-slawischer Nihilisten, statt das engere Erkenntnisinteresse einer strafrechtswissenschaftlichen Zeitschrift zu bedienen.
Prozess-Protokoll
Die Verhandlung gegen Gabriel Princip und Genossen wird geführt von einem Obergerichtsrat Luigi von Curinaldi. Die Namen der Richter und Ankläger, der Schriftführer und Verteidiger spiegeln die multikulturelle Gesellschaft der k.u.k Monarchie wider: Bogdan Naumowicz, Dr. Mayer Hoffmann, Nikolaus Rasić, Franz Svara, Dr. Max Feldbauer, Dr. Konstantin von Premušić, Felix Perišić. Zwei Frauen sind als "Privatbetheiligte" zugegen, Ida Pfob und Maria Keller. Zusammen mit einem Josef A. Keller haben sie Privatanklage erhoben, nicht allein das österreichisch-ungarische Imperium klagt also an.
In den veröffentlichten Stenogrammen sind die Angeklagten zumeist ausgesprochen bekenntnisfreudig. Zwar sieht § 47 StPO B/H vor, dass sich ein Beschuldigter bereits im Vorverfahren eines "Vertheidigers" bedienen darf, nach "Mittheilung der Anklageschrift" (§ 53 StPO B/H) kann er sich auch ohne Beisein einer Aufsichtsperson mit ihm beraten. Doch während der wohl weitgehend das Prozessgeschehen vorzeichnenden "förmlichen Vernehmung des Beschuldigten oder der Zeugen durch den Untersuchungsrichter gegenwärtig sein" dürfen weder "Vertheidiger" noch Ankläger. Eine Beratung des Angeklagten mit seinem Anwalt während seiner Vernehmung durch das erkennende Gericht ist nicht vorgesehen – wohl aber, dass jeder, der sprechen will, dabei zu stehen hat. An Prozesstaktik von Seiten der Strafverteidigung ist nicht zu denken – von den Anwälten sind auch nur wenige zielführende Fragen dokumentiert.
"Fühlen Sie sich schuldig?", fragt Richter von Curinaldi, den Angeklagten Nedjelko Čabrinović ganz unvermittelt gegen Beginn des Verfahrens. Čabrinović darauf: "Ja." Der Richter: "Wessen sind Sie schuldig?" Der Angeklagte: "Des Verbrechens, einen Mordversuch auf den Thronfolger Franz Ferdinand gemacht zu haben." Richter: "Erzählen Sie uns also, wie es dazu kam. Wo sind Sie überall gewesen? Was haben Sie gemacht?"
Martin Rath, Der Beginn des 1. Weltkriegs: . In: Legal Tribune Online, 29.06.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12380 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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