Blinde müssen oft lang mit Behörden streiten, um Hilfen zu erhalten, die ihnen zustehen. Der Tag des Weißen Stockes will unter anderem darauf aufmerksam machen. Blinde Richter aber sind heute anerkannt – anders als in den zwanziger Jahren.
Ein Mann von gut 50 Jahren, verheiratet, aber von seiner Frau getrennt lebend, ist seit 13 Jahren voll erblindet. Mit dem Hilfsmittel, das dem am 15. Oktober stattfindenden "Welttag des Weißen Stocks" den Namen gibt, kommt er nicht gut zurecht: Trotz Ausstattung mit dem weißen Blindenlangstock, einer 60-stündigen "Orientierungs- und Mobilitäts-Schulung" und einer weiteren, 50-stündigen Schulung mit dem Blindenlangstock sowie einer 16-stündigen Langstock-Einweisung für ein Berufspraktikum verordnet ihm sein Augenarzt einen Blindenhund.
Der Mann habe "zuletzt einige Wegeunfälle gehabt; durch das Training mit dem Blindenlangstock sei er zwar in seinen alltäglichen Bewegungsabläufen sicherer geworden; dennoch träten in manchen Situationen große Probleme auf, z.B. bei der Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln, beim Überqueren stark befahrener Kreuzungen, beim Ausweichen einer Menschenmenge, bei schlechter Witterung oder beim Laufen auf unebenem Untergrund".
Der Kostenvoranschlag für den ausgebildeten Blindenhund beläuft sich auf gut 19.000 Euro. Die Krankenkasse lehnt den Antrag auf Kostenübernahme ab, weil sie nur für einen "Basisausgleich" der durch die Behinderung auferlegten Beschränkungen zuständig sei. Dazu genüge die Sicherheit, auf kurzen Spaziergängen in Wohnungsnähe an die frische Luft zu kommen.
Blindenhunde sind hilfreich, aber teuer
Das Sozialgericht Aachen entschied in diesem Fall zugunsten des behinderten Klägers (Urt. v. 29.5.2007, Az. S 13 KR 99/06). Dem Stock stellte das Gericht dabei nicht das beste Zeugnis aus:
"Der Blindenlangstock wird in einer ganz bestimmten Art und Weise gebraucht. Er wird ungefähr so weit vom Körper entfernt gehalten, dass der Blinde immer einen Schritt im Voraus geschützt ist, jedoch nur in der Körperbreite und in der Körperhöhe von der Gürtellinie abwärts bis zum Boden. Vor einer Kollision mit Hindernissen oberhalb der Gürtellinie schützt er nicht. Ein gut geschulter Blindenführhund dagegen kann solche Hindernisse erkennen und würde sich quer stellen, um dem Blinden zu signalisieren, dass hier ein großes Hindernis ist."
Dass der Streit darum, ob dem Blinden neben dem Stock auch ein Blindenführhund zustehe, immer wieder die Gerichte beschäftigte, wundert angesichts der erheblichen Kosten kaum.
In einem vergleichbaren Fall entschied das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz ebenfalls zugunsten einer blinden Klägerin, der mit dem Blindenlangstock allein nicht hinreichende Sicherheit gegeben sei – die aus Sicht der Richter auch durch "rücksichtlose Fußgänger, Ratsfahrer auf dem Gehweg" bedroht werde (Urt. v. 2.10.2013, Az. L 5 KR 99/13).
"Der Blinde im Reichsrecht"
Die Angelegenheiten der Blinden verteilen sich auf eine ganze Anzahl von gesetzlichen Regelungen und Zuständigkeiten – der medizinische Tatbestand mag eindeutig sein, in das deutsche Sozialrecht schenkt dem Blinden gleichwohl keine Leistung aus einer Hand.
So sind beispielsweise für den Behindertenausweis, das etwaige Blindengeld nach Landesrecht, die Blindenversorgung unter dem Vorbehalt weiterer Anspruchsgrundlagen, für Mittel schulpflichtiger Kinder, die Vorteile im öffentlichen Personennahverkehr oder den reduzierten Rundfunkbeitrag eine Vielzahl von Stellen zuständig – und im Zweifel nur durch einen einschlägig bewanderten Anwalt zu bändigen.
Bemerkenswert und doch vergessen ist, dass es eine kurze Phase gab, in der eine jedenfalls rechtsdogmatische Einheit des deutschen "Blindenrechts" in der Luft lag. 1923 legte der bereits mit einer Dissertation zur Lohnkampfpolitik der deutschen Metallarbeiter promovierte Blindenfürsorger Dr. Ludwig Cohn (1877–1962) in Breslau seine zweite Doktorarbeit "Der Blinde im Reichsrecht" vor.
An diese Arbeit des – selbst seit seinem achten Lebensjahr erblindeten – Cohn schlossen sich weitere rechtswissenschaftliche Studien an, beispielsweise die 1929 von einem Gerichtsreferendar Emil Spargel in Hamburg vorgelegte Dissertation "Die Stellung des Blinden im rechtsgeschäftlichen Verkehr".
Mit der Machtübergabe an Hitler endeten 1933 jedoch die bürgerrechtlich-emanzipatorischen Bemühungen, und das Streben nach einer dogmatischen Durchdringung des Blindenrechts.
Cohn überlebte Theresienstadt und Bergen-Belsen
Cohn wurde 1933 als Blindenfürsorger entlassen, weil "arischen" Blinden ein jüdischer Betreuer nicht zuzumuten sei. Cohn überlebte, nach dem Exil in den Niederlanden, zwischen 1940 und 1945 die Konzentrationslager Theresienstadt und Bergen-Belsen – als blinder Mann von über 60 Jahren! – und hatte 74-jährig noch die Kraft, von Rotterdam aus den Aufbau der israelischen Blindenbibliothek in Tel Aviv zu unterstützen.
Spargel setzte 1938 als Leiter des zuständigen Amts in Hamburg eigenständig "unter Anwendung des nationalsozialistischen Rechtsguts" durch, dass jüdische Kriegsbeschädigte in der Hansestadt ihre Versorgungsansprüche verloren – 1929 hatte er sich noch positiv zum Anliegen seines Kollegen Cohn erklärt.
Um ein Bündel an schwierigen Lebenssachverhalten in eine akademisch durchdachte, dem Rechtsanwender wiederum das Leben erleichternde Dogmatik und Gesetzgebung zu überführen, braucht es wohl zwei, drei Generationen, die "am Ball bleiben". Die exemplarisch genannten Lebensdaten der Doctores Cohn und Spargel lassen ahnen, warum das Blindenrecht – trotz seines historischen Momentums in den zwanziger Jahren – nicht zur Wegbereiterin einer wirklich durchgeformten deutschen Sozialrechtsmaterie werden konnte.
Martin Rath, Blindenrecht: . In: Legal Tribune Online, 15.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25025 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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