2/2: Um das Archaische kommt man nicht herum
Neben diesen nachvollziehbar zivilen Auslegungen biblischen Rechts stehen allerdings starke Konstruktionen einer archaischen Rechtsordnung, beispielsweise die berüchtigten Sätze (2. Buch Mose, Kapitel 22, Verse 17-18): "Die Zauberinnen sollst du nicht am Leben lassen. Wer einem Vieh beiwohnt, der soll des Todes sterben." Insbesondere wird auch die vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen mit der Tötung des Täters sanktioniert. Grünwaldt deutet es so aus den Wirkungsmechanismen ziviler Normen heraus: "Doch hat die Todesstrafe, durch die im Alten Testament die Tötung eines Menschen sanktioniert werden soll, weniger mit Rache, nicht einmal vor allem mit dem Grundgedanken des Ausgleichs zu tun. Vereinfacht gesagt beruht die Forderung nach der Todessanktion für die Tötung eines Menschen auf gleichsam magischen Grundsätzen."
Man könnte denken, dass solche Interpretationen übers Ziel hinausschießen. Nachdem jahrhundertelang das christliche Klischee eines jüdisch-alttestamentarischen Rachegotts herumgeisterte, solle jetzt vom lutherischen Theologen ein ziviles Gesetz aus dem Hut gezaubert werden. Doch das wäre unfair und dem Versuch unangemessen, die zivilen Seiten des mosaischen Rechts herauszuarbeiten. Wie kommt man überhaupt auf den Gedanken, vor allem in biblischen Rechtsquellen nach archaischem Gedankengut zu suchen?
Die sogenannten Germanen, die der römische Historiker Tacitus im 1./2. Jahrhundert nach Christus beschrieb, sollen sogenannte "Kriegsscheue" als Verbrecher im Moor versenkt haben. Über die Rechtssätze, mit denen Deserteure in den Status der Moorleiche versetzt wurden, wissen wir nichts. Aber wir wissen von archaischem Recht aus vergleichsweise jüngerer Vergangenheit: In Preußen wurden noch im Jahr 1841 Mörder mit dem Rad hingerichtet. Die Knochen gebrochen, der Körper zwischen die Speichen geflochten: eine traditionelle Methode, Straßenräuber hinzurichten, weil Rad und Straße symbolisch zusammenhingen. Es waren archaische Zustände in Deutschland, zu Zeiten der Großeltern unserer Großeltern.
Wer Angst hat, soll nach Hause gehen
Wenn es um Krieg und Frieden in der "alttestamentarischen" Rechtsordnung geht, holt Grünwaldt einige Ausnahmen von Kriegsdienstpflichten hervor, die leichter zugänglich sind als die schwer prüfbare Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (Art. 4 Abs. 3 Grundgesetz): Wer ein neues Haus gebaut, es aber noch nicht bezogen hat, wer von den Früchten seines neu gepflanzten Weinbergs noch nicht gekostet hat, wer verlobt sei, aber die Frau noch nicht heimgeholt habe, solle nicht in den Krieg ziehen, außerdem: "Wer sich fürchtet und ein verzagtes Herz hat, der mache sich auf und kehre heim, auf dass er nicht auch das Herz seiner Brüder feige mache, wie sein Herz ist" (5. Buch Mose, Kapitel 20, Verse 5-8).
Schöne Rechtsnormen, die der Liebe zum Leben einen Raum außerhalb der Gewalt geben, stehen neben Rechtsnormen, die eher einem pragmatischen Realismus der archaischen Kriegsführung dienten – das "alttestamentarische" Recht steckt voll solcher Ambivalenzen und Gegensätze. Man sollte es sich also zweimal überlegen, ob man heute Zeitgenossen, die harsche Verhältnisse im Recht zurückwünschen, unbedingt "alttestamentarisch" schimpfen sollte. "Reaktionär" wäre doch bei gegebenem Anlass auch ein schönes Justizschimpfwort, wenn es denn nottut.
Quellen: Klaus Grünwaldt: "Auge um Auge, Zahn um Zahn?". Das Recht im Alten Testament, Matthias-Grünewald-Verlag (2002). Alan M. Dershowitz: "Die Entstehung von Recht und Gesetz aus Mord und Totschlag" (2002). Konrad Schmid: Bemerkungen zu einer harmlosen rechtsgeschichtlichen Provokation von Alan M. Dershowitz.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Recht in der Religion: . In: Legal Tribune Online, 25.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14206 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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