Bevor Recht gesprochen werden kann, muss man es erst einmal einheitlich etablieren. Gar keine leichte Aufgabe in einer Zeit, in denen etwa die Provinz Westfalen aus 29 Einheiten mit jeweils unterschiedlichem Recht bestand. Von Martin Rath.
Der seelische Ort der deutschen Provinz ist nicht leicht zu finden. Nach den jüngsten Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus geriet beispielsweise das Gebiet außerhalb der Berliner Ringbahn in den Verdacht, keine echte Metropole mehr zu sein.
Kaum waren an der Peripherie die Stimmen ein wenig anders verteilt als im Stadtzentrum, wurde provinzielle Gesinnung vermutet. Es versteht sich von selbst, dass sich derlei nicht allzu lange hält – spätestens beim Blick in den Mietspiegel dürften sich die Bewohner der Bundeshauptstadt diesseits und jenseits der Bahnlinie wieder viel ähnlicher sehen als den Leuten in Wittenberge oder Spreewaldheide.
Weniger schwer ist es, in anderen deutschen Regionen die Provinz zu entdecken, zum Beispiel in Westfalen. Aus den sogenannten Metropolen des Rheinlands – Köln, Bonn oder Düsseldorf – wird mit einigem Neid auf diesen Landstrich geblickt. Denn auf dem platten Land sind die Stadtverwaltungen tüchtig. Und dass dort der Karneval nicht weiter auffällt, hat angenehme Seiten.
Wenn Kinder im Rheinland mit der Frage aufwachsen, woraus Westfälischer Bauernschinken gemacht wird, zählt das zur linguistischen Früherziehung. Dass scheußliche Unterstellungen zu den Ernährungsgewohnheiten der kulturell Fremden eine ethnologische Universalie sind, erfährt man erst später im Leben.
Deutschland, einig in seinen Stämmen?
Rechtshistorisch Bewanderte werden hier anmerken, dass sich jedes Stammesdenken in Deutschland spätestens mit dem 14. August 1919 erledigt haben müsste. An diesem Tag trat die neue Reichsverfassung in Kraft, deren Präambel erklärte, das deutsche Volk sei "einig in seinen Stämmen". Ein Grund, den Einwohnern benachbarter Provinzen auch nur im Scherz Kannibalismus zu unterstellen, sollte damit entfallen sein.
Allerdings behauptete dieses Verfassungsdokument auch, besagtes Volk sei "von dem Willen beseelt", also schwer davon eingenommen, "dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern". Es ist hier Skepsis erlaubt.
Am Beispiel Westfalens lässt sich immerhin zeigen, dass der gesellschaftliche Fortschritt erst einmal in der Provinz ankommen musste.
Zunächst war die Provinz nichts weiter als eine Verwaltungseinheit, die das Königreich Preußen zwischen 1815 und 1918 einrichtete, der Freistaat Preußen bis zu seiner Auflösung im Jahr 1947 beibehielt. Neuhumanistisch gebildet, wie man im 19. Jahrhundert zu sein hatte, besuchten die Söhne gut betuchter Familien eine akademische Vorschule, das Gymnasium. Baiern erhielt das griechenlandvernarrte "y" im Landesnamen, die regionale preußische Staatsverwaltung die aus der römischen Geschichte bekannte Bezeichnung "Provinz".
Für kleinliches Stammesdenken waren diese Provinzen bald schon zu groß. Im Jahr 1910 rangierte Westfalen mit gut vier Millionen Einwohnern nach Schlesien und dem Rheinland auf dem dritten Platz der preußischen Provinzen.
Westfalen: Paradigma der modernen Provinz
Mit der Einrichtung eines ordentlichen Provinzialbetriebs gingen zudem erstaunliche Modernisierungsprozesse einher.
Als die Könige aus Berlin im Jahr 1815 die Herrschaft übernahmen, wurde die Provinz Westfalen "aus 29 verschiedenen, zwar meist stammverwandten, aber ehemals selbständigen Landes-Theilen zusammengesetzt", beschrieb der westfälische Rechtsanwalt und Notar Semajo Sutro (1831–1901), Sohn eines fränkischen Rabbiners, im Jahr 1860 eine missliche Lage.
Misslich waren die Verhältnisse, weil in diesen 29 Teilen Westfalens mindestens ebenso viele Überlieferungen allein zum ehelichen Güterrecht bestanden, die sich zwar grundsätzlich in dreieinhalb Systeme gliedern ließen – jene des Dotalrechts nach dem Gemeinen Recht bzw. des Preußischen Allgemeinen Landrecht, die "Particular-Gütergemeinschaft" und die allgemeine Gütergemeinschaft –, dabei aber jeweils zwischen Dörfern und Stadtteilen Unterschiede aufwiesen und mitunter weit über die westfälischen Gerichtsbezirke zerstreut lagen. In seinem kurzen Kommentar "Das eheliche Güterrecht in der Provinz Westfalen und den Kreisen Rees, Essen und Duisburg" beschreibt Sutro:
"Bei weitem der größte Antheil an der vielfachen Rechts-Unsicherheit trifft jedoch auf den materiellen Inhalt der einzelnen Rechte. Es handelt sich bei demselben meist um bloße Gewohnheiten und Praxis. Selbst die vorhandenen geschriebenen Quellen, Statuten und Attestate, Weißthümer und landesherrliche Verordnungen oder Privilegien, z. B. die Münstersche Polizei-Ordnung, die Chur-Cölnische Rechts-Ordnung (für Recklinghausen), die Nassau-Katzenellenbogensche Landes-Ordnung (für Siegen), die Soester Artikel, das Mindener Statut u.s.w. sind meist so mangelhaft und dunkel, daß Doctrin und Praxis ein gar weites Feld behielten."
Licht in dieses Dunkel brachte das preußische "Gesetz, betreffend das eheliche Güterrecht in der Provinz Westfalen" vom 16. April 1860, das grundsätzlich die Gütergemeinschaft der Eheleute einführte und dem Mann erlaubte, ohne Einwilligung der Frau weitgehend über das gemeinsame Vermögen zu verfügen, nicht jedoch über Grundstücke oder das Vermögen als Ganzes.
Insgesamt sind historische Güterrechtssysteme kniffelig, gern werden sie heute allein durch die Brille der Geschlechterverhältnisse gelesen. Damals, in Zeiten der industriellen Revolution und eines wagemutigen Kapitalismus, ging es nicht zuletzt darum, Vermögenswerte liquide zu machen, Risiken eingehen zu können. Nicht zufällig – nach heftigen Diskussionen im Berliner Herrenhaus – blieb der alte westfälische Adel von der neuen Gütergemeinschaft ausgenommen. Gleichwohl war mit Rechtseinheit und klarer Verfügungsmacht ein Weg zur Marktwirtschaft geöffnet – Modernisierung, wenn auch nur auf provinziellem Niveau.
Noch in den 1950er Jahren war gelegentlich zu prüfen, ob es beispielsweise gesellschaftsrechtliche Auswirkungen hatte, wenn Kläger oder Beklagte "in provinzieller westfälischer Gütergemeinschaft" gelebt hatten (z. B. BGH, Urt. v. 12.11.1953, Az. IV ZR 129/52).
Provinzielle Verhältnisse: Motoren der Moderne
Während die preußische Provinz Westfalen durch Rechtsvereinheitlichung im ehelichen Güterrecht zu einer gewissen Modernisierung beitrug, mochte anderenorts partikulares provinzielles Recht deren Motor sein.
Wie zu allen anderen Rechtsmaterien enthielt das Preußische Allgemeine Landrecht (ALR) aus dem Jahr 1794 auch zur Jagd eine Vielzahl wunderbar detailverliebter Regelungen, beispielsweise § 64, 65 ALR II 16:
"Niemand darf auf fremden Jagdrevieren Hunde laufen lassen, die nicht mit einem Knüppel, welcher sie an der Aufsuchung und Verfolgung des Wildes hindere, versehen sind. – Ungeknüppelte gemeine Hunde, ingleichen Katzen, die auf Jagdrevieren herumlaufen, kann jeder Jagdberechtigte tödten, und der Eigenthümer muß das Schußgeld bezahlen."
Einen Hund zu "knüppeln" hieß, ihm einen Holzstock in der Weise um den Hals zu hängen, dass seine Fähigkeit, über andere Tiere herzufallen, stark eingeschränkt wurde.
Um Schadensersatz in Höhe von stolzen 1.600 Mark – weit mehr als das Jahresgehalt eines Facharbeiters – stritten sich die Teilnehmer einer Jagdgesellschaft im Jahr 1894 bis vor das Reichsgericht, nachdem einer den – naturgemäß "ungeknüppelten" – Jagdhund des anderen geschossen hatte. Zwar mochte das damals hundert Jahre alte Landrecht sehr rigide Vorschriften zur Tötung freilaufender Hunde und Katzen enthalten, in den preußischen Landesteilen – in diesem Fall der Mark Brandenburg – war aber stets zu prüfen, ob provinzielle Bestimmungen womöglich ein moderneres Jagdrecht enthielten.
Blieb im Urteil des Reichsgerichts vom 22. Oktober 1894 (Az. VI 203/94) offen, ob das brandenburgische Provinzialjagdrecht hundeeigentümerfreundlichere Regelungen traf, wird der provinzielle Modernisierungsbeitrag in einer lange sehr umstrittenen Frage des Gesellschaftsrechts deutlicher.
Bis zum Urteil des Reichsgerichts vom 4. Juli 1922 (Az. II B 2/22) und auch darüber hinaus waren sich deutsche Juristen uneinig, ob eine Aktiengesellschaft oder GmbH als persönlich haftender Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft fungieren darf. Das Gericht konnte sich damals, was nach einer staatsfrommen Denkungsart stets etwas zählt, darauf berufen, dass das Deutsche Reich sich selbst bereits auf der Ebene preußischer Provinzen an Gesellschaften vom Typ "GmbH & Co. KG" beteiligt hatte.
Niedergang der Provinz in der Sache
Nach 1945 hatte sich der Bundesgerichtshof (BGH) wiederholt mit der Frage zu beschäftigen, was einige Vorgänge in einer preußischen Provinz juristisch zu bedeuten hatten, die in den ersten Nachkriegsmonaten vergleichsweise agil auftrat – es ging wieder einmal um Westfalen.
Mit alliierter Rückendeckung hatte ihr Oberpräsident, der Jurist Rudolf Amelunxen (1888–1969), am 24. Juli 1945 angeordnet, dass eine Behörde seiner Provinz vor Ort die Aufgaben der bisherigen "Reichsstelle für Tiere und tierische Erzeugnisse" übernahm, die seit 1934 und später kriegswirtschaftlich tief in den Markt für Nutztiere und ihre Produkte hatte eingreifen dürfen.
Um die Sache sehr grob zusammenzufassen: Weil nicht klar war, ob und wie die Provinz Westfalen die Kasse von dieser alten Reichsstelle des – untergegangenen – Reichs und für – das noch nicht vorhandene – Land Nordrhein-Westfalen übernommen hatte, stritt man sich bis 1962 nicht nur über den zulässigen Rechtsweg, sondern auch über den ganzen staatstheoretischen Überbau (BGH, Urt. v. 16.04.1962, Az. III ZR 205/60). Ähnliche Verwicklungen fanden sich schon nach dem Zugriff der Provinz Westfalen auf ein Grundstück der von der alliierten Besatzungsmacht erfolgreich außer Betrieb gesetzten Wehrmacht (BGH, Urt. v. 03.02.1954, Az. VI ZR 76/52).
Mit der Berufung von Amelunxen zum ersten Ministerpräsidenten des neu gegründeten Landes Nordrhein-Westfalen, am 24. Juli 1946, war übrigens auch der Übergang vom Provinziellen zum wiederbelebten Föderalismus perfekt.
Papa will Fahrlehrer werden
Seither geriet das Provinzielle auch im Rechtsverkehr in den Ruf des Rückständigen. Beim Versuch, eine Erlaubnis zur privaten Führerschein-Ausbildung seiner Ehefrau und Kinder zu erhalten, ohne selbst ein konventioneller Fahrlehrer zu sein, argumentierte beispielsweise ein Kläger Ende der 1950er Jahre, dass es die "provinziellen Verkehrsverhältnisse" an seinem Wohnort nicht erforderlich machten, über ein gängiges Fahrschul-Ausbildungsfahrzeug zu verfügen (Bundesverwaltungsgericht, Urt. v. 28.04.1964, Az. I C 73.61).
Später wurde die Pflicht, sämtliche, in einer Sozietät zusammengeschlossenen Anwälte auf dem Briefbogen zu benennen, in der schönen neuen Welt internationaler Großkanzleien als provinziell angegriffen (BGH, Beschl. v. 19.11.2001, Az. AnwZ B 75/00).
Noch deutlich weiter gingen die Anwürfe einer früheren Referendarin, der die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft unter anderem wegen folgender Beleidung ihres Ausbilders zunächst verweigert blieb: "Sie sind ein provinzieller Staatsanwalt, der nie aus dem Kaff rausgekommen ist, in dem er versauert. Ihr Weltbild entspricht dem des typischen deutschen Staatbürgers von 1940. Mit Ihrem Leben und Ihrer Person sind Sie so zufrieden wie das Loch vom Plumpsklo" (zit. n. Bundesverfassungsgericht, Beschl. v. 22.10.2017, Az. 1 BvR 1822/16).
Die Vorstellung, dass Provinz und Plumpsklos zusammenhängen, geht schon seit geraumer Zeit nicht mehr recht auf – man denke hier nur wieder an Berlin.
Sehr viel eleganter, stark umstritten, aber essayistisch veredelt wurde der Provinzialismus von Karl Heinz Bohrer (1932–2021) in einer Serie von Aufsätzen in der Zeitschrift "Merkur", Anfang der 1990er Jahre beschrieben. "Diese Provinzialität aufgeräumter, blitzblanker Innenstädte und lukullisch-appetitlicher Angebote, denen jeder Anflug von Geschichtlichkeit ausgetrieben wurde, enthält ein besonderes, manchmal hysterisch wirkendes Gefahrenverbot: Alles soll gesund, übersichtlich, geregelt sein, buchstäblich die staatlich verordnete Idylle jenseits der großen Politik. Politik ist geschrumpft zur Ökologie und technisch-wirtschaftlicher Hygienik, kein Gedanke an politisch-strategische Verantwortlichkeiten jenseits der bundesrepublikanischen Grenzen. Hier beginnt die Tabuzone dessen, der die Welt zur Provinz erklärt hat."
Ein bisschen schließt sich vielleicht doch noch der Kreis zur Berliner Ringbahn.
Lesehinweis: Zum Kampf um die GmbH & Co. KG vgl. Daniel Damler: "Konzern und Moderne. Die verbundene juristische Person in der visuellen Kultur 1880–1980", Frankfurt am Main (Klostermann) 2016, S. 110 ff.
Zersplittertes Recht: . In: Legal Tribune Online, 19.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53204 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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