Lange vor der zynisch-frivolen Umfirmierung als "arm, aber sexy" galt Berlin als "Hauptstadt des Verbrechens". Statistisch zu Recht? Das mag dahinstehen. Für ein zeitgemäßes Bild vom Verbrechen ist die Stadt jedoch immer wieder gut gewesen.
Hat sich Berlin seinen Ruf, modern, aber verdorben zu sein, durch populäre Erzählungen vom Verbrechen erworben?
Zugegeben, es muss bei einem vagen Anfangsverdacht bleiben. Gegenüber Krimis im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist natürlich Vorsicht angeraten, will man nicht in ästhetische Verzweiflung geraten – oder ins Haareraufen des unverstandenen Juristen.
Für seriöse Aussagen über den Krimi in gedruckter Form bräuchte es inzwischen wohl eines akademischen Sonderforschungsbereichs. Nach Auskunft von Robert Schekulin, einem aufs Fach spezialisierten Buchhändlers und Lektors, gilt es, jeden Monat 150 Krimi-Neuheiten zu sichten. Selbst wenn nur ein Teil davon auf die Hauptstadt entfällt, dürfte das kaum das reine Vergnügen sein.
Aussagen dazu, wie Erzählungen von Kriminalität das Bild prägen, das sich die Gesellschaft von deviantem Verhalten macht – sei es für Berlin oder die ganze Republik – müssten angesichts der schieren Masse der populären Formate also spekulativ bleiben, wenn nicht sogar gänzlich unbeherrschbar, da auch noch Boulevard-Medien von "Bild" bis "Hart aber fair" ihr Scherflein beizutragen hätten.
Berliner Verbrechen in den 1840er, 1950er und 2010er Jahren
Doch ein bescheidener Vorschlag, sich ein Bild davon zu zeichnen, wie in den vergangenen gut 150 Jahren in populären Medien über deviantes Verhalten berichtet wurde, lässt sich machen. Ob darin auch für Juristen, die sich professionell oder aus Gründen der Freizeitgestaltung mit Kriminalität befassen, ein gewisser Reiz liegt, wird sich erweisen.
Ein guter Anfang lässt sich mit Ernst Dronke (1822–1891) machen, fasste dieser heute weitgehend vergessene Schriftsteller doch bereits 1846 vieles von dem zusammen, was noch das heutige Klischee von der deutschen Metropole prägt:
"Berlin ist voll von Leuten, welche nur Vergnügungshalber hier leben, und sich natürlich ihren Verhältnissen gemäß jede Art von Genuß verschaffen wollen. Daß Viele auch über ihr Verhältniß hinausgehen, sich ruinieren, und später nach einer verschwelgten Jugend elend verkommen, versteht sich bei diesem taumelnden Treiben von selbst. Auf den Straßen, an allen öffentlichen Orten begegnen uns diese Müßiggänger, die Tag für Tag ohne Zweck ins Blaue hineinleben. Berlin ist der erste Stapelplatz für solche junge Leute, weil sie hier von allen deutschen Städten am ungezwungensten leben."
Kein Millionär vom Tegernsee hinterließ diese wenig schmeichelhafte Beschreibung Berlins, sondern ein zeitweiliger Weggefährte von Karl Marx. Wegen des oben zitierten Werks "Berlin" (1846) war Ernst Dronke strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt und lebte Jahre lang auf der Flucht vor der preußischen Staatsgewalt.
Mit seinen "Polizei-Geschichten" (1846) machte Dronke den Versuch, über das Verbrechen nicht in der reißerisch-unterhaltenden Form zu schreiben, die im Bänkellied oder Schinderhannes-Anekdoten gepflegt wurde, sondern zugleich anrührend und sozialkritisch. Die erste Geschichte handelt etwa von einem begabten Handwerker, der in einem Verkehrsunfall eine Behinderung erleidet, verarmt und, schließlich von einem informellen Mitarbeiter der Polizei angeworben, an einem Einbruchdiebstahl mitwirkt. Seine Schwermut bleibt unbeachtet, er erhängt sich in der Untersuchungshaft.
Dronke erzählt zwar nach heutigem Geschmack unfassbar plakativ, doch die Probleme sind nicht unvertraut.
22 Jahre "Es geschah in Berlin"
Bot Ernst Dronke einen frühen Versuch, sich mit Erzählungen von Kriminalität sozialkritisch zu positionieren, was eine scharfe Reaktion der Berliner Behörden provozierte, findet sich gut 100 Jahre später in einem langjährigen Sendeformat des RIAS – des Rundfunks im Amerikanischen Sektor Berlins – eine Art Sicherheitspartnerschaft aus Medienleuten und Polizeiorganen.
Zwischen 1951 und 1972 strahlte der Sender 499 Hörspiel-Folgen der Reihe "Es geschah in Berlin" aus, die nach dem Vorbild realer Fälle in Berlin (West) produziert wurden. In der Folge "Buntmetalldiebstähle" nehmen sich die Westberliner Kriminalbeamten 1952 beispielsweise einer vom Friedhof gestohlenen "Aurora"-Figur an. Metalldiebstähle waren ein ernsthaftes Problem, das tatsächlich oft von ärmlichen, hart an der Grenze der Zurechnungsfähigkeit agierenden Tätern verursacht wurde. In der RIAS-Folge spielt noch ein zu Tarnungszwecken verwendetes, wegen eines vorangegangenen Diebstahls polizeibekanntes Bettlaken eine Rolle. Die schlimm berlinernden Täter fürchten sich auf dem Friedhof vor Gespenstern, die Polizisten handeln altväterlich und blödeln sich mit humanistischer Bildung durchs Radioprogramm: "Aurora? – Nicht dass uns das Licht verlorengeht."
Bis 1972 sollte das nicht nur in Berlin (West) ungemein populäre Radioformat das Bild vom Verbrechen im freien Teil der Stadt prägen – mit gut gemeinten Polizei-Ratschlägen etwa an verhaschte Studenten, sich um die Länge ihrer Haare zu kümmern.
Es lohnt sich, in einige der online verfügbaren "Es geschah in Berlin"-Folgen hineinzuhören: Polizisten, die stets auf der richtigen Spur sind, bringen einfältige Verdächtige, deren Täterschaft eigentlich schon irgendwie klar ist, zum Geständnis. Selten dürfte nach 1945 der Labeling-Approach im deutschen Rundfunk derart fröhliche Urständ gefeiert haben. Als 1970 der Fernseh-"Tatort" startete, nahm man sich zwar das RIAS-Format zum Vorbild, aber doch auch etwas Abstand von der dort gepflegten Tätertypenlehre.
Einfach besser als reine Sachverhaltsbeschreibungen
Weil die alten Folgen von "Es geschah in Berlin" auf juristisch gebildete Köpfe einen ähnlich bösen Effekt haben mögen wie Slim Whitmans berüchtigter "Indian Love Call" in "Mars Attacks!" (1996), lässt sich als gutes Beispiel für eine angemessene Popularisierung des Verbrechens in Berlin ein neueres Werk vorschlagen.
In Ernst Reuß' "Mord und Totschlag in Berlin" wird von 14 neueren, vielfach Aufsehen erregenden Verbrechen in der Bundeshauptstadt berichtet. Hierzu zählen etwa der Fall der "Ku'damm-Raser" oder der Prozess gegen einen Dirk P., der 2013 unter anderem wegen der Tötung eines Darkroom-Gasts der Schwulenkneipe "Große Freiheit" verurteilt wurde.
Für den juristisch unaufgeklärten Leser bietet Reuß bemerkenswerte Hinweise auf jenes Basiswissen, das an deutschen Schulen leider nicht unterrichtet wird – etwa zur Vorsatzproblematik im "Raser"- oder zur Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe im "Darkroom"-Fall. Juristen mögen diese Fallerzählungen einige interessante Details zum Prozessgeschehen und den öffentlich diskutierten Rechtsfragen geben, die in der rein akademischen Diskussion meist etwas zu kurz kommen.
Berliner Devianz über 150 Jahre
Seit geraumer Zeit herrscht in den populären Online-Medien eine öffentliche Daueraufregung, die mit Blick auf Berlin nicht selten das Bild einer Zombie-Apokalypse beschwört.
Im "taumelnden Treiben" (Dronke) Berlins kann jeder, der die Zeichen eines allgemeinen gesellschaftlichen Niedergangs lesen will, jederzeit Anhaltspunkte für seine Ansicht finden – davor sind Neuköllner Bezirksbürgermeister so wenig gefeit wie Münchener Arbeitsrechtsprofessoren auf der modischen Suche dem Zerfall.
Ernst Dronkes romantisch-sozialkritische Darstellung des Verbrechens in Berlin, der altväterliche Polizei-Realismus von "Es geschah in Berlin" oder Ernst Reuß' nüchtern moderne Fallbeschreibungen – sie mögen nicht unbedingt letzten Aufschluss darüber geben, ob und wie viel die Medien der früheren Reichs- und heutigen Bundeshauptstadt Mitschuld am Ruf der Metropole haben.
Als Gegengift gegen kurze Schlüsse zwischen evidentem kriminologischem Fachwissen und populistischen Untergangsklischees mag der Gang durch gut 150 Jahre Erzählungen von Devianz in Berlin aber nützlich sein.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Lese- und Hörspielhinweise:
Ernst Dronke: "Polizei-Geschichten" sind als Digitalisat(Fraktur/aufbereitet) und auch als kostenloses Ebook verfügbar. Zudem brachte der Verlag Walde und Graf 2018 das Werk in gebundener Form neu heraus (192 Seiten, 18 Euro, ISBN 3946896227).
Zahllose Folgen von "Es geschah in Berlin" finden Sie mit der Suchmaschine Ihres Vertrauens online, wobei die Youtube-Versionen gegenüber den archivalischen Bemühungen anderer RIAS-Fans oft etwas beschnitten sind.
Ernst Reuß: "Mord und Totschlag in Berlin. Neue spektakuläre Kriminalfälle" ist erschienen im vbb Verlag für Berlin und Brandenburg (248 Seiten, 18 Euro, ISBN 3947215169).
Literatur und Hörfunk: . In: Legal Tribune Online, 12.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30275 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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