Bücher, die einen Niedergang der Republik im Allgemeinen oder der Justiz im Besonderen beklagen, haben seit einigen Jahren Konjunktur. Wer daran kein Interesse hat: Juristen schreiben auch zu fremden Universen.
Folgt man dem früheren Bundesrichter Thomas Fischer (1953–), findet sich unter deutschen Juristen der Gegenwart ein gewisses Bedürfnis, Bücher mit apokalyptischem Inhalt auf den Markt zu bringen: "Zusammenbruch, Vertrauensdesaster, Qualitätsverlust, Ungerechtigkeit und Willkür allerorten, und die Justiz wird der Fluten nicht mehr Herrin!"
Es sind nicht selten "verzweifelte Amtsrichter", denen wir die Konjunktur zu verdanken haben, folgt man Fischers Beobachtungen zu dieser Art "erzählender Sachbücher" weiter.
Eine mitunter surreale Zeichnung der Realität der deutschen Republik im Allgemeinen und ihrer Justiz im Besonderen – surreal, sobald der Anspruch verfolgt wird, gesellschaftliche Sachverhalte in jedenfalls annähernd sozialwissenschaftlich sauber geführter Statistik zu beschreiben – führt demnach zu Werken, von denen zweifelhaft ist, ob sie es wert sind, auch nur ignoriert zu werden.
Juristische Populär-Autoren konnten es schon mal besser
Für eine nicht zu ignorierende, sachbezogene Kritik an schlimmen Verhältnissen gäbe es bekanntlich auch noch die Fachöffentlichkeit oder den Dienstweg, das direkte Gespräch mit dem im Wahlkreis zuständigen Abgeordneten oder die Möglichkeit, der Bürgermeisterin persönlich und vor Ort in den Ohren zu liegen – auch und gerade für "verzweifelte Amtsrichter".
Wenn letztere stattdessen lieber den Markt mit einem weiteren populären Werk bedienen wollen: Wir sind ein freies Land. Die Frage sei aber erlaubt, warum sie ihre überschüssigen Kräfte nicht auf sinnvollere oder unterhaltsamere Ziele richten – das Schreiben von sachlichen Sachbüchern beispielsweise oder, ein entsprechendes Talent scheint ja vorhanden zu sein, von Büchern, die ihre Genrezugehörigkeit zur fantastischen Literatur nicht verbergen müssen.
Für die erste Werkgruppe, die sachlichen Sachbücher, sollen hier nur einige Beispiele genannt werden, drei Belege für die zweite werden dann ausführlicher vorgestellt.
Niemand sollte die Absicht verfolgen, kritischen Beobachtern der Gesellschaft den Mund verbieten zu wollen, indem ihnen abverlangt wird, ihre Kritik habe stets auch konstruktiv zu sein. Dominiert aber das freimütige Bekunden von bloßem Unbehagen – dank Social Media und sperrangelweit offener Online-Kommentarforen –, sollte von gebildeten Leuten jedoch antizyklisches Verhalten erwartet werden können, zumindest ein bisschen.
Als Beispiele für Juristen, die von ihrer jeweiligen Gegenwart kaum sonderlich viel halten konnten, sich aber – mit Blick auf den Markt für populäre Sachbücher – aufs Jammern und Wehklagen nicht beschränkten, mögen einige in Vergessenheit geratene Berliner Anwälte, ein Staatsanwalt aus Düsseldorf und ein prominenter amerikanischer Richter dienen.
Konstruktive Arbeit gegen den juristischen Unverstand
Konstruktive Arbeit gegen den juristischen Unverstand ihrer Epoche leisteten z.B. die drei Berliner Rechtsanwälte Willy Gaffrey, Erich Gisbert und Dr. Georg Lewinsohn mit ihrem 1929 veröffentlichten "Neuen Handbuch des Deutschen Rechts" – statt von links über die Justiz zu schimpfen oder diese von rechts für sich zu gewinnen, erklärten sie einem damals juristisch noch weit weniger als heute bewanderten kaufmännischen Publikum, was es mit diversen Rechtsinstituten auf sich hat und wer für welche Fragen zuständig ist.
Gut zwei Jahrzehnte und eine von alliierten Streitkräften beseitigte Diktatur später, legte der zu dieser Zeit als Staatsanwalt in Düsseldorf arbeitende Botho Laserstein (1901–1955) ein auf den ersten Blick etwas betulich wirkendes Ratgeberbüchlein unter dem Titel vor: "Angeklagter, stehen Sie auf. Wie verteidige ich mich in Strafverfahren". Zwei Jahre, bevor sich dieser Jurist, nicht zuletzt aus Verzweiflung über die Zustände der deutschen Nachkriegsjustiz das Leben nahm, versuchte er damit, dem rechtssuchenden, von seinen autoritären, NS-geschulten Kollegen kujonierten Publikum den Rücken zu stärken.
Als ein drittes Beispiel dafür, wie juristische Profis ihre überschüssigen Kräfte verwenden können, um dem Unbehagen an ihrem Arbeitsplatz konstruktiv Ausdruck zu geben, lässt sich ein kleines Buch von Bryan A. Garner (1958–) und Antonin Scalia (1936–2016) anführen. Unter dem Titel: "Making Your Case" veröffentlichten die beiden US-Juristen Ratschläge zur "Kunst, Richter zu überzeugen". Das ist bärbeißig-subtile Zeitkritik, denn Scalia war bekanntlich als Supreme-Court-Richter gefürchtet, sich kaum durch Argumente erschüttern zu lassen.
Überschüssige Kräfte? – Fantastische Literatur schreiben!
Der vage Verdacht mag auf wackeligen Beinen stehen: Gibt es vielleicht einen Zusammenhang zwischen Talkshows in ARD und ZDF, den "erzählenden Sachbüchern" der "verzweifelten Amtsrichter" einerseits und den Weltfluchtmitteln der jüngeren Medienkundschaft andererseits – beispielsweise der erstaunlichen Tatsache, dass es die ästhetisch und ethisch fragwürdige Zombie-Serie "The Walking Dead" auf 140 Folgen brachte?
Als verbindendes Element käme Eskapismus in Betracht – eine Vokabel, mit der hierzulande gerne Werke der fantastischen Genres beschimpft werden, die aber für die agonal-unrettbare Weltsicht der Senioren-TV-Formate sowie der Justizniedergangsliteratur durchaus auch passen würde.
Wie wäre es, würden mit der Justiz unzufriedene Juristinnen und Juristen sich gleich aufs Zombie-Genre verlegen, statt über die Arbeit öffentlich zu schimpfen?
Dabei handelt es sich um keine ganz unsinnige Idee. Einzuräumen ist zwar, dass Bemühungen auf dem Gebiet der Belletristik nicht sonderlich attraktiv erscheinen, seit Ferdinand von Schirach (1964–) belegt hat, dass hierzulande literarische Laubsägearbeiten erschreckend populär sind.
Ein französischer und zwei britische Juristen zeigen hingegen, dass mit fantastischen Mitteln mitunter sogar annähernde literarische Unsterblichkeit zu ernten ist.
Ein erstes Beispiel für die produktive Verwendung überschüssiger Kräfte gibt der britische Anwalt und Zoologe (Insektenkunde) Adrian Tchaikovsky (1972–), der seine beiden Fachgebiete in Form fantastischer Werke zusammengebracht hat.
In Tchaikovskys Science-Fiction-Roman "Kinder der Zeit" (deutsch 2018) gerät bei einem Versuch, auf einem fremden Planeten ausgesetzte Affen zu einer Evolution im Stil der Menschheitsgeschichte zu motivieren, eine Spinnenart in Kontakt mit den Nanopartikeln, die diese Entwicklung im beschleunigten Format bewirken können.
Zwar haben Spinnen auch unter deutschen Juristen ihre Freunde gefunden. Das Oberlandesgericht Karlsruhe weigerte sich beispielsweise mit Urteil vom 24. Juni 2009 (7 U 58/09), die überspannte Spinnenfurcht einer Tiefgaragenkundin zu bedienen.
Tchaikovsky erzählt aber weit über diesen guten Ansatz hinaus, was geschehen könnte, sollten Spinnen – hier durch eine Art technologischen Feenstaub befördert – mehr Intelligenz als Menschen entwickeln und eine Zivilisation aufbauen. Ohne juristischen Hintergrund hätte dem Verfasser dabei manches missraten können. So wirkt z.B. der Kampf der Spinnen-Herren um das Recht, nach dem Geschlechtsakt nicht von den dominanten Spinnen-Damen aufgegessen zu werden, durchaus gerichtstauglich.
In Tchaikovskys Roman "Im Krieg" (2019) ist die Auseinandersetzung um die Rechte von Tieren, die technisch auf ein menschengleiches IQ-Niveau manipuliert und als Soldaten missbraucht wurden, ein zentrales Thema. Zu lesen, wie ein intelligent gemachter Hund seine Fähigkeit zur Schuld entdeckt, lehrt vielleicht mehr zur seelischen Seite der strafrechtlichen Dogmatik der Verantwortung als manche StGB-Vorlesung – und vermittelt unter der Hand etwas zu dem Leid, das Kindersoldaten spüren, ohne dabei in den Margot-Käßmann-Modus moralischer Predigt zu verfallen.
Ruhm in der Justiz, Ruhm durch die Fantastik
Der britische Medienjurist Andrew Caldecott legte im Jahr 2017 unter dem Titel "Rotherweird" einen Fantasy-Roman vor, ohne dass dies seinem recht hohen Ansehen – er ist Kronanwalt – Abbruch getan hätte.
Ort der Handlung ist die abgelegene und wenig fremdenfreundliche Stadt Rotherweird, die von der Rechts- und Verfassungsentwicklung des übrigen Vereinigten Königreichs abgekoppelt ist – man ist hierin weitgehend im Zeitalter von Königin Elizabeth stehengeblieben, der ersten dieses Namens (1533–1603). Ein zugezogener Geschichtslehrer wird angehalten, keinesfalls zu Ereignissen nach dem Jahr 1800 zu unterrichten – die Stadt ist bevölkert von ungezählten spleenigen, aber hochbegabten Menschen, jedenfalls solchen, die sich dafür halten.
Man kann dies als produktive Reaktion auf die Verhältnisse in Großbritannien lesen – sinnvoller vielleicht, als eine weitere rechtsgutachterliche Stellungnahme zu den Konsequenzen des Brexit.
Als Gegenbild sowohl zur deutschen Nörgelpolemik wie zum renommierten britischen Medienanwalt Caldecott lässt sich schließlich noch der französische Dr. iur. Gaston de Pawlowski (1874–1933) anführen. Seine zwischen 1908 und 1912 publizierte "Reise ins Land der vierten Dimension" darf als Grundlagenwerk nicht nur des Surrealismus gelten, sondern auch einer satirischen Grenzwissenschaft, der "Pataphysik", an deren Pflege bekannte Köpfe wie Umberto Eco (1932–2016) oder M.C. Escher (1898–1972) mitwirkten.
Wie eine Escher-Grafik wirken auch die Ideen Pawlowskis zur Zukunft von Mensch und Maschine, Mann und Frau, zur Architektur in einem nicht nur dreidimensionalen Raum – Fachanwälte für Bau- und Vergaberecht könnten sich an Mandantengespräche auf dem Weg von der ursprünglichen Architektenidee über die Krise in der Bauausführung hin zur immer irrealeren Nachtragsforderung erinnert fühlen. Eine deutsche Übersetzung des obskuren Werks liegt seit 2016 wieder vor.
Man sieht: Wer als Jurist nichts geworden ist, kann auf surreal-fantastischen Pfaden immerhin literarisch unsterblich werden. Für eine nur nörgelnde Amtsrichterprosa wird das, gottlob, kaum gelten.
Literatur: . In: Legal Tribune Online, 08.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39115 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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