Er ist ein Kriminalroman auf Juristendeutsch und rechtshistorische Fundgrube zugleich. Er ist juristisches Handwerkszeug und enthält pure Pornografie. Am Stück genossen ist der erste Band der "Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen" eine pittoreske Lektüre. Vor 60 Jahren begann die Publikationsgeschichte von "BGHSt". Band 1 las Martin Rath.
Das menschliche Gesicht ist die interessanteste Fläche auf der Welt. Darum sind Säureangriffe eine wirklich hässliche Sache. Vielleicht war der Bundesgerichtshof deshalb nicht milde gestimmt, als er mit Urteil vom 21. November 1950 neu über die Frage zu entscheiden hatte, ob verdünnte Salzsäure eine "Waffe" im Sinne des Strafgesetzbuches ist. Mit seiner Antwort brach der BGH mit der dogmatischen Tradition des Reichsgerichts – jenem gerade fünf Jahre zuvor aufgelösten Gerichtshof, in dessen Nachfolge sich der BGH wohl bis heute sieht.
"Die Angeklagte lockte das Lehrmädchen K., das auf der Kreissparkasse einen großen Geldbetrag einzahlen sollte, in den Flur eines Wohnhauses, um sich in den Besitz des Geldes zu setzen. Dort schüttete sie der Fünfzehnjährigen plötzlich verdünnte Salzsäure ins Gesicht, die sie in einem Henkeltopf in ihrer Handtasche bereit gehalten hatte, entriß der Geblendeten den Geldbeutel, den diese unter dem offenen Mantel geklemmt trug, und flüchtete."
So wird diese Kriminalgeschichte aus rauen Gründerzeiten der Bundesrepublik in "BGHSt 1, 1 (1)" dargestellt. Doch ist das nur die halbe Wahrheit, die vielleicht fürs Jurastudium reicht. Weil der Fall so gut geeignet ist, den rechtswissenschaftlichen Nachwuchs vom natürlichen Sprachgebrauch zu entwöhnen, kennt ihn fast jeder, der einmal eine juristische Lehranstalt von innen gesehen hat.
Volle dogmatische Lehre – halbe historische Wahrheit
Das Reichsgericht verstand unter einer "Waffe" noch etwas, das in irgendeiner Weise mechanisch wirkte – Messer, Schere, Schwert, Pistole, Degen. Das konnte leicht schräg wirken, wenn das Reichsgericht Fälle zu entscheiden hatte, in denen ein Mensch zum Beispiel durch einen Angriff mit Löschkalk verletzt worden war – die Reichsgerichtsräte kamen dann zur Körperverletzung, weil die ätzende Substanz geworfen worden war, also mechanisch gewirkt hatte. Mit dieser Auffassung ihrer ideellen Vorgänger setzten sich die frischgebackenen Bundesrichter auseinander und verwarfen sie.
Ob die Bundesrichter die 'Schere im Kopf' als intellektuelle Waffe benutzt haben mögen? Auf einen Akt von erstaunlicher Selbstzensur stößt, wer diesen halbamtlich abgedruckten Fall (4 StR 20/50) via LexisNexis auf den Grund geht. Denn im ersten Band von "BGHSt" sind zwei Aspekte des Falls nicht dokumentiert, die von juristischem oder doch wenigstens historischem Interesse sind.
Da ist zunächst die höchstrichterlich gekürzte Zuchthausstrafe. Das Landgericht Hildesheim hatte die Angeklagte wegen Raubes und Körperverletzung zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Bundesgerichtshof reduzierte den Strafausspruch um drei Monate verbüßter Untersuchungshaft, weil das Revisionsverfahren auf sich hatte warten lassen. Zu dieser Haftreduzierung im Revisionsurteil sah sich der BGH frisch berufen – im Anschluss an den Obersten Gerichtshof für die Britische Zone, aber im Gegensatz zum Reichsgericht. Vielleicht wollte sich der BGH noch nicht auf die Milde festlegen.
Ein bisschen hässlich, aber von mehr historischem Interesse ist, was in der umfangreicheren LexisNexis-Dokumentation des Urteils zu entdecken ist. In der halbamtlichen Sammlung finden sich keine Hinweise auf die Lebenslage der Angeklagten, obwohl sich die Vorinstanzen mit der Frage nach "mildernden Umständen" auseinandergesetzt hatten. Die ungekürzte Urteilsversion bietet dazu folgende Auskunft:
"Die Strafkammer hat erkannt, dass sich die Tat der Angeklagten zum Teil aus ihrem ‚schicksalshaften Lebenslauf mit dem jähen Sturz aus gesicherter Lebensstellung und froher Jugendzeit in KZ-Lager, Kriegselend und wirtschaftliche Beengtheit nach dem Kriege erklären lässt. Mit Ausnahme der politischen Verfolgung weist dieser Lebensweg aber keine bemerkenswerten Abweichungen vom allgemeinen Schicksal breiter Massen auf, die gleich Schweres haben hinnehmen müssen. Die KZ-Haft lag zur Tatzeit schon mehr als 5 Jahre zurück."
Unzucht weckte bizarre Liebe zum strafjuristischen Detail
Sexuelles Fehlverhalten wurde bis zu den Reformen der 1970er-Jahre nicht als Verletzung der persönlichen Integrität verstanden, sondern als Verstoß gegen eine "objektive" sittliche Ordnung.
Im "BGHSt Band 1" begegnet man daher so vielen Unzuchtsdelikten wie vielleicht in heutigen Gefängnissen säumigen Schwarzfahrern. Viele Verurteilungen von damals sind heute noch nachvollziehbar. An den abgeurteilten Missbrauchsfällen zu Lasten von Minderjährigen (BGHSt 1, 71 ff.) oder elend eingepferchten Psychiatrieinsassen (BGHSt 1, 122 ff.) wundern weniger die Ergebnisse als die schiere Zahl der höchstrichterlichen Urteile.
Verstörend kann es auf heutige Leser eher wirken, wenn seinerzeit schon fragwürdige Strafnormen – wie etwa das Verbot einvernehmlicher homosexueller Handlungen unter erwachsenen Männern - mit einer bizarren Liebe zum strafjuristischen Detail zusammenkommen. Davon zeugt beispielsweise der folgende Leitsatz zu BGHSt 1, 107 (Urteil vom 12. April 1951, 4 StR 131/50):
"Nimmt der Täter eine unzüchtige Handlung an sich selber vor (Onanieren) und berührt er dabei und im Zusammenhang damit bewußt den Körper eines anderen Mannes, wenn auch nur an der Kleidung, so treibt er Unzucht 'mit' diesem." Zum subjektiven Tatbestand gehöre aber, dass "sich der Täter dabei der inneren Beziehung seines Unzuchttreibens zu dem Körper des anderen Mannes bewußt ist."
Der BGH enthüllt weiter, dass der "verheiratete Angeklagte ... zur gelegentlichen gleichgeschlechtlichen Betätigung ... neigt". Der bürgerlichen Existenz des Angeklagten dürfte das kaum gut getan haben, doch hätte es noch schlimmer kommen können: "Opfer" seines unzüchtigen Treibens war, so stellt das Gericht fest, ein 19-jähriger Maurer. Zwischen 1935 und 1969 sah § 175 a StGB einen Strafrahmen von bis zu zehn Jahren Zuchthaus unter anderem dann vor, wenn der 'Täter' über und das 'Opfer' unter 21 Jahren war.
Als im Jahr 2010 die gleichgeschlechtliche Liebesbeziehung zwischen dem scheidenden Bürgermeister von Hamburg und seinem 19-jährigen Freund bekannt wurde, war das kaum noch ein Thema für die Boulevard-Blätter, geschweige denn ein Rechtsproblem.
Dieses Thema darf also dank sozialliberaler Reformgesetze in den 1970er-Jahre mit einem wohligen Schaudern in der Akte "Rechtsgeschichte" abgelegt werden.
"Konzentrationslager des Ostens" – empathiefähige Bundesrichter?
Der 109. und letzte Fall, der in "BGHSt 1" veröffentlicht wurde, handelt von der Entführung einer früheren Mitarbeiterin des Reichssicherheitshauptamtes durch den sowjetischen Geheimdienst. Verurteilt wurde eine ehemalige Kollegin von ihr, die sich vom NKWD, dem Vorläufer des KGB, zur Mitarbeit hatte erpressen lassen. Das Opfer wurde im Juli 1945 aus dem Westteil Berlins entführt, in das Konzentrationslager Sachsenhausen überstellt und erst im August 1948 wieder entlassen.
Der Freispruch durch das Schwurgericht Braunschweig muss die BGH-Richter zunächst sprachlos vor Erstaunen gemacht haben. Als sie ihre Worte wiedergefunden hatten, kassierten sie ihn und führten als Begründung unter anderem aus, dass die Verhältnisse in dem – nunmehr sowjetrussischen – KZ Sachsenhausen "den einfachsten und selbstverständlichsten Geboten der Menschlichkeit widersprechen".
Dagegen kann und will man nichts einwenden. Nur, erinnern wir uns an den ersten Fall in "BGHSt 1": Die Bundesrichter fanden nichts daran auszusetzen, dass die Schuldfähigkeit einer früheren KZ-Gefangenen ungeprüft blieb, nachdem sie einen – insgesamt wohl folgenarmen – Säureanschlag begangen hatte. Im letzten Fall des Bandes finden die barbarischen Bedingungen eines Konzentrationslagers alle Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Woher kam nun diese Empathie?
Es war vermutlich Mitgefühl mit den früheren Kollegen vom Reichsgericht in Leipzig. Im August 1945 waren 37 Richter vom NKWD verhaftet worden. Hunger und Krankheiten während der Haft in Buchenwald überlebten nur vier der ehemaligen Reichsrichter, freigelassen zwischen 1951 und 1955.
Einladung zur Diskussion und Spekulation
Natürlich ist es reichlich spekulativ, hinter den Urteilsgründen der BGH-Richter ein Mitgefühl für ihre Kollegen vom Reichsgericht zu vermuten. Dazwischen stehen das Beratungsgeheimnis und 60 Jahre Zeitverlauf.
Solche Spekulationen, soweit sie fremde Völkchen betreffen, ironisierte der britische Ethnologe Edward Evan Evans-Pritchard mit der Formel "If I were a horse... – Wäre ich ein Pferd, würde ich wie ein Pferd denken." Nicht wenige jener Ansichten, die die Richter des Bundesgerichtshofs, im ersten Band ihrer strafrechtlichen Sammlung hinterließen, machen sie uns heute – neben Beratungsgeheimnis und 60 Jahren Zeitverlaufs – zu einem "fremden Völkchen".
Wäre nicht das spekulative Vordringen in ihre Gedanken- und Entscheidungswelt, in ihre "größeren Köpfe" eine Übung, mit der sich im rechtswissenschaftlichen Studium etwas anfangen ließe – neben dem Gutachtengeklapper?
Martin Rath ist freier Lektor und Journalist in Köln.
Die "Entscheidungen des Bundesgerichtshofs" in Zivil- bzw. Strafsachen erscheinen im Carl Heymanns Verlag, der seit 2006 eine Marke von Wolters Kluwer Deutschland ist, unter deren Dach auch "Legal Tribune Online" erscheint.
Als wichtiges Hilfsmittel für die Entschlüsselung der Paragraphenangaben im bis zur Unkenntlichkeit reformierten Strafgesetzbuch erwies sich die verdienstvolle Synopse von RA Dr. Thomas Fuchs, Mannheim, zu finden unter:
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Martin Rath, Literarische Leistung der Bundesrichter: . In: Legal Tribune Online, 06.02.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2486 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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