Die großen Kirchen erhalten aus allgemeinen Haushaltsmitteln derzeit rund 550 Millionen Euro jährlich. Wie kompliziert es werden könnte, die staatlichen Leistungspflichten abzulösen, zeigt zum Beispiel ein Urteil vom 22. November 1920.
In Bonndorf, einem 7.000 Seelen zählenden Städtchen im Schwarzwald, nah der Grenze zur Schweiz, begann vor gut einhundert Jahren ein Streit zwischen Kirche und Staat damit, dass Gottesdienstbesucher und Geistliche in den Räumen der römisch-katholischen Pfarrkirche St. Peter und Paul etwas weniger frieren und auch etwas klarer sehen wollten.
Um das Jahr 1918 herum war in Sakristei und Kirchraum eine moderne Heizung eingerichtet worden. Hinzu kam die Installation von elektrischem Licht. Der Streit betraf die Frage, wer dafür zu zahlen hatte.
Wie in Fällen dieser Art gar nicht selten, wurden rechtliche Gesichtspunkte angeführt, die historisch beeindruckend weit zurücklagen.
Unstrittig war, dass die Pfarrkirche von Bonndorf im Jahr 1403 in das ortsansässige Kloster der Pauliner "inkorporiert" worden war – eines seinerzeit noch sehr jungen Ordens.
Typisch war damals, dass sich neue klösterliche Gemeinschaften aufmachten, sobald die älteren zu reich und satt geworden waren. Weltliche Fürsten bedienten sich der ehrgeizigen Neugründungen wie heutige Wirtschaftsförderungsdezernate, freilich mit oft höherem Erfolg.
Mit dem Paulinerkloster war mithin eine sozial und ökonomisch potente Institution unweit der alpinen Wildnis ansässig geworden, die für die Seelen Bonndorfs eine "Kirchenfabrik" ("Fabrica ecclesiae") stellen konnte, also ein Vermögen, das unter anderem zum Unterhalt und bedarfsweisen Neubau des Gotteshauses dienen konnte. Nicht selten schlug etwa unter Gottes irdischen Dienern der Blitz ein, bis im 18. Jahrhundert endlich eine amerikanische Erfindung die zerstörerischen Himmelskräfte ableiten half.
Reichsdeputationshauptschluss – ein Verfassungsgesetz
Den wirtschaftlichen Bedarf des eingerichteten und ausgeübten Kirchenbetriebs deckte das Kloster, bis es im Jahr 1807 zugunsten des neuen Großherzogtums Baden säkularisiert wurde – und zwar nach den Regelungen des Reichsdeputationshauptschlusses vom 25. Februar 1803.
Dass mit dem Reichsdeputationshauptschluss die kirchlichen Territorien zugunsten der weltlichen Fürsten eingezogen wurden, ist heute meist nur ein etwas untotes Abiturwissen – für Juristinnen und Juristen handelt es sich aber selbstverständlich um ein lebendiges deutsches Verfassungsgesetz, wenn sie nur wollen.
Das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe hatte in dem Streit der Bonndorfer Katholiken gegen den badischen Staat § 35 Reichsdeputationshauptschluss (RDH), in dem es hieß, dass die kirchlichen Güter zur "freien und vollen Disposition der respectiven Landesherrn" überlassen worden waren, in einer Weise interpretiert, die den Bonndorfern nur wenig entgegenkam – denn diese "freie und volle Disposition" sollte einerseits den Zweck haben, den Aufwand "für Gottesdienst, Unterrichts- und andere gemeinnützige Anstalten" zu bezahlen, andererseits aber auch den deutschen Fürsten "zur Erleichterung ihrer Finanzen" dienen.
Mit dem Neubau der Pfarrkirche St. Peter und Paul in den 1840er Jahren sowie der Alimentation des Geistlichen war der badische Fiskus zwar einerseits diesen Pflichten aus § 35 RDH nachgekommen, spätestens im Jahr 1919/20 – eine gescheiterte (1848/49) und eine erfolgreiche Revolution (1918/19) weiter – hatten die Karlsruher Richter jedoch Vorbehalte, was derart neumodische Bedürfnisse wie die moderne Heizung und elektrische Beleuchtung eines Kirchenbaus auf Kosten des staatlichen Fiskus betraf.
Reichsgericht entscheidet kirchenfreundlicher als Oberlandesgericht
War das OLG Karlsruhe unter anderem davon ausgegangen, dass seit dem Jahr 1807 die privatrechtliche Pflicht des vormaligen Klosters, die Pfarrgemeinde auszustatten, in eine öffentlich-rechtliche "Dotationspflicht" des badischen Staates übergegangen sei – ein Akt juristischer Magie, der die materiellen Interessen der Gemeinde staatspolitisch disponibel machen müsste –, betonte das Reichsgericht mit Urteil vom 22. November 1920 (Az. IV 264/20) gerade die Pflicht der Republik Baden, die als privatrechtlich auffassbaren Verpflichtungen der nach 1803 aufgehobenen Klöster weiter zu bedienen.
Etwas trickreich erklärte das Reichsgericht zudem, es sei für die Geltung des Reichsdeputationshauptschlusses als Reichsgesetz unschädlich, dass das Heilige Römische Reich deutscher Nation im Jahr 1806 beendet wurde. Denn die begünstigten Fürsten hätten es nicht als Landes-, sondern als eine Art Reichsrecht ohne Reich verstanden.
Für die Bonndorfer Katholiken war die Sache damit rechtlich noch nicht ganz ausgestanden. Erst der sogenannte "Bonndorfer Vergleich" zwischen der Republik Baden und der kirchlichen Seite aus dem Jahr 1927 schrieb die Pflichten des staatlichen Fiskus fest – die Baulast für "neuartige Bedürfnisse" wie eine Heizungsanlage wurde im Verhältnis 60 zu 40 zwischen Staat und örtlicher Kirchengemeinde geteilt. Vergleichbares gilt regional bis heute.
Tadel des obersten Zivilgerichts in Leipzig an die Kollegen in Karlsruhe
In der Bonndorfer Sache tadelten die Leipziger Richter ihre Kollegen vom Karlsruher Gericht in einem Punkt – gemessen am Tonfall der Epoche und des juristischen Berufsstands – beinahe barsch.
Das OLG Karlsruhe hatte, gewiss ermutigt durch die soeben abgeschlossene Revolution des Jahres 1918/19, auf eine neue Interessenlage zwischen Staat und Kirche abgehoben und sich darauf berufen, es sei für beide Seiten doch unerfreulich, oft "unklare, Jahrhunderte zurückliegende Vorgänge" darauf zu überprüfen, ob der Staat seinerzeit – nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 – in die privatrechtlichen Rechte und Pflichten der säkularisierten Klöster eingetreten war, denen er dann weiter unterworfen sei. Bequemer sei es, nunmehr davon auszugehen, dass der Staat nur öffentlich-rechtlich verpflichtet ist, die örtlichen Seelsorgebedürfnisse zu alimentieren – eine feine Verschiebung, die ihm etwas mehr Handlungsfreiheit geben würde.
Dem mochte das Reichsgericht nicht folgen: Beweisschwierigkeiten aus historischen Umständen könnten kein Argument sein, das Gesetz nach neuem Zeitgeschmack auszulegen. Diese Schwierigkeiten seien "übrigens in zahlreichen Prozessen überwunden worden". So klingt es wohl, wenn Richter anderen Richtern übertriebene Bequemlichkeit vorwerfen.
Tadel trifft auch vier Bundestagsfraktionen
Der Vorwurf übertriebener Bequemlichkeit lässt sich auch vier Bundestagsfraktionen machen, die mit den Zahlungen der Länder an die Kirchen nunmehr aufräumen wollen.
Zur Erinnerung: Jahrhunderte lang bildeten kirchliche Einrichtungen Vermögenswerte, weil sich Erblasser vor der Hölle fürchteten und Leibeigene schufteten, aber auch, weil die Kombination aus Beten und Arbeiten in den Klöstern vor der Erfindung des Kapitalismus eines der besten Geschäftsmodelle war. An diesem Vermögen bedienten sich seit dem Jahr 1803 die deutschen Fürsten – Vorgänger der Rechtsvorgänger der heutigen Länder der Bundesrepublik Deutschland.
Weil sie dabei Pflichten übernommen hatten, schrieb Artikel 138 Abs. 1 der Reichsverfassung vom 11. August 1919 vor: "Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf." Das Grundgesetz übernahm mit Artikel 140 dieses Staatsziel, die Pflichten gegenüber den Religionsgesellschaften zu kapitalisieren, abzubezahlen und damit zu beenden.
Doch erst im Mai 2020 legten die Fraktionen von FDP, Linke und Grünen sowie die AfD-Fraktion Gesetzentwürfe vor, die beanspruchen, diese 1919 eingeforderten "Grundsätze" zu formulieren.
Gemessen an dem, was das Reichsgericht am 22. November 1920 zur Vergangenheitsaufklärung in Staats- und Kirchenvermögensfragen gefordert hatte, waren die Fraktionen nicht sehr fleißig.
Ein Beispiel dafür, wie genau die Gerichte arbeiten, gibt etwa das Urteil des Reichsgerichts vom 5. Juni 1880 (Az. II 142/80), in dem die Entfernung des Kölner Erzbischofs Paulus Melchers (1813–1895) auf die Auslegung der päpstlichen Bulle de salute animarum vom 23. August 1821 und die zugehörige königlich-preußische Kabinettsordre zum Eigentum an seinem Palais gestützt wird. In einer anderen Sache unterschied das Gericht fein zwischen Kaplänen und Priestern, was die Kosten ihrer Unterkunft betraf – mit Blick u.a. auf Vorschriften des Tridentiner Konzils aus dem Jahr 1563 (Urt. v. 23.11.1920, Az. VII 484/19).
Die historischen Interessen reichten von der eingeforderten Gebührenfreiheit vor Gerichten des Bundes (instruktiv: Bundesverfassungsgericht, Beschl. v. 30.09.2000, Az. 2 BvR 708/96) bis zur Frage, ob etwa das seit 1574 bestehende kommunale Patronat der Stadt Hannover für die evangelische Marktkirche von der Ablösung betroffen sein soll. Regulär sitzt dort bis heute der Oberbürgermeister im Kirchenvorstand.
Kurz: Man muss kein Immobilienfachwirt sein, um zu wissen, dass es schwer sein würde, die staatlichen Lasten, die nach der Säkularisation von Kirchengütern oder in anderen Zusammenhängen entstanden sind, konkret zu taxieren, zu kapitalisieren und abzulösen.
Der Gesetzentwurf von FDP, Linke und Grünen macht im Wesentlichen einen Vorschlag zur pauschalisierten Kapitalisierung. Der Entwurf der AfD-Fraktion beschränkt sich auf ein peinliches herrisches Posieren – ohne die von der Verfassung geforderten "Grundsätze" zur Ablösung der Staatsleistungen zu formulieren. Eine bemerkenswerte Leistung für eine politische Gruppierung, die gern deutsche Geschichte unter Ausklammerung von zwölf Jahren für sich in Anspruch nimmt.
Die Folgelasten für den fürstlichen Griff ins Kirchengut belaufen sich auf rund 550 Millionen Euro jährlich. Eine andere Tuchfühlung mit himmlischen Kräften kostet übrigens mehr als 800 Millionen pro Jahr – der deutsche Beitrag zur European Space Agency. Beides gehört durchaus zusammen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Staatlicher Geldsegen: . In: Legal Tribune Online, 22.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43505 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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