2/2: Der Eigentumserwerb: sechs Stufen bis zur Unterrückgegenausnahme
Wer das im zweiten Semester mühelos verstanden oder zumindest auswendig gelernt hat, ist damit noch nicht auf der sicheren Seite. Spätestens in der Sachenrechtsvorlesung im dritten Semester wird es Zeit, sich mit den Voraussetzungen des Eigentumserwerbs an beweglichen Sachen unter besonderer Berücksichtigung des gutgläubigen Erwerbs veräußererfremder Sachen zu befassen.
Nach § 929 S. 1 BGB kann man Eigentum an einer beweglichen Sache nur vom Eigentümer erwerben. Eine recht bekannte Ausnahme enthält § 932 Abs. 1 BGB: Wenn der Erwerber gutgläubig ist, kann er von einem Nichteigentümer Eigentum erwerben. Nach der Rückausnahme des § 935 Abs. 1 BGB ist der Eigentumserwerb vom Nichteigentümer jedoch nicht möglich, wenn die Sache dem Eigentümer abhandengekommen ist.
Weniger bekannt ist da schon die Unterausnahme des § 935 Abs. 2 BGB, wonach der gutgläubige Erwerb abhandengekommener Sachen bei Geld und Inhaberpapieren wiederum möglich ist. Zugleich formuliert aber § 367 Abs. 1 Handelsgesetzbuch (HGB) die Gegen- der Unterausnahme: Ausgeschlossen ist der gutgläubige Erwerb eines Inhaberpapiers, dessen Verlust im Bundesanzeiger bekanntgemacht wurde.
Die Rück- zur Gegen- der Unterausnahme in § 367 Abs. 2 HGB lautet dann: Ist der kaufmännische Erwerber des abhandengekommenen Inhaberpapiers in Unkenntnis der Verlustbekanntmachung im Bundesanzeiger und ist diese Unkenntnis nicht grob fahrlässig, erwirbt er gutgläubig Eigentum auch von einem Nichteigentümer. Auf der sechsten Stufe des Schemas kehrt man also zurück zur zweiten Stufe, genannt: die Ausnahme.
Vom Anwendungsgebiet des § 367 Abs. 1 ordnet übrigens auch § 367 Abs. 3 HGB eine Abweichung an: Handelt es sich bei dem Inhaberpapier um eine Banknote, bleibt es bei der Unterausnahme des § 935 Abs. 2 BGB. Eigentlich klar, oder? Die ist aber – entgegen dem missverständlichen Wortlaut – gleichstufig zu § 367 Abs. 2 HGB.
Im dritten Semester ist man also immerhin bei sechsstufigen Regel-Ausnahme-Konstruktionen angekommen. Das lässt noch Platz nach oben für den Rest des Studiums.
Die 66,666…-Prozent-Ausnahme
Bisher war nur die Rede von Sonderregelungen, welche die Norm in ihr Gegenteil verkehren. Diese sind leicht zu handhaben, weil das Ergebnis immer um 180 Grad gedreht wird: schwarz/weiß/schwarz/weiß und so weiter. Es gibt aber auch andere, die nicht nach diesem simplen Schema funktionieren.
Jeder alltägliche Verkehrsunfall zeigt das. Wer den Unfall verursacht hat, haftet dem Unfallverletzten auf Schadensersatz. In der Regel vollumfänglich, ausnahmsweise aber nicht, wenn der Verletzte den Unfall mitverursacht oder mitverschuldet hat, § 254 BGB. Dann haftet der Hauptverursacher nur zu 90 Prozent. Oder zu zwei Dritteln oder zur Hälfte.
Auch solche Situationen fassen Juristen gern unter "Etwas anderes gilt, wenn…". Was die Bedeutung der Formulierung nicht klarer werden lässt. Aber das kennt man ja schon: Was der Jurist meint, wenn er "regelmäßig", und was, wenn er "grundsätzlich" schreibt, ist ja auch erst auf den zweiten oder dritten Blick zu verstehen.
Alles ein unproblematisches Problem?
In den Lehrbüchern zur juristischen Methodenlehre werden diese Fragen nur beiläufig oder gar nicht angesprochen. Unter dem Stichwort "Ausnahme" finden sich am ehesten noch Überlegungen zur Analogiefähigkeit von Ausnahmeregelungen. Selbst eine einheitliche Terminologie scheint es nicht zu geben. Die Verfasser gehen wohl davon aus, dass es sich bei den Regel-Ausnahme-Verhältnisse um ein unproblematisches Problem handelt. Was nichts daran ändert, dass sie ziemlich anstrengend sein können. Aber es geht eben nicht ohne.
Abgesehen davon hat die Anstrengung auch ihr Gutes. Angenommen, Sie wollten Ihrer Patentochter ausreden, Jura zu studieren. Alle Argumente haben nichts gefruchtet. Geben Sie ihr einen Schönfelder und einen Palandt, nehmen Sie ihr den Internetzugang (denn sonst findet sie diesen Text im Nullkommanix). Dann fragen Sie sie, ob und unter welchen Bedingungen man gutgläubig ein abhandengekommenes Inhaberpapier in Form eines Geldscheins erwerben könne.
Nach fünf Stunden schließen Sie die Tür wieder auf. Wenn sie richtig antwortet, eine leicht verständliche Grafik zum Regel-Ausnahme-Schema entworfen hat und immer noch Jura studieren will: Lassen Sie sie! Und schenken ihr den Palandt.
Der Autor Prof. Dr. Roland Schimmel ist Professor für Wirtschaftsprivatrecht an der FH Frankfurt am Main.
Roland Schimmel, Juristenlogik : . In: Legal Tribune Online, 13.01.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14341 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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