"Du wüsstest nie, wann man dich verhaftet." Mit "The Court" kommt eine Dokumentation ins Kino, die eigentlich ein Politthriller ist. Über ein außergewöhnliches Gericht, einen juristischen Versuchsaufbau zwischen Den Haag, Kongo und Palästina, seine Ankläger und Richter. Von Markus Sehl.
"No."
Eine klare Antwort. Nur ein Wort. "No." Fatou Bensouda hat es gehört. Sie schluckt und starrt in den Gerichtssaal. Hält sich irgendwo fest in der Stille. Sie setzt nochmal an. "Sie müssen wissen, dass wir nur daran interessiert sind, was Ihnen passiert ist." Stille. Der Zeuge ist hinter den flackernden Pixeln nicht zu erkennen. "Und die Wahrheit."
Am Donnerstag ist die Dokumentation über den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, "The Court", in den deutschen Kinos angelaufen. Langsam branden die Streicher an, ein tiefer Bass setzt ein, die Kamera rast dazu über das Kapitol in Rom, brennende Dörfer im Kongo und New Yorker Straßenschluchten. Der Dokumentarfilm der deutschen Regisseure Marcus Vetter und Michele Gentile will die Form des Spielfilms.
Schon sein Plakat im Foyer erinnert an einen Politthriller wie zuletzt L'Exercise de l'État oder Ides of March. Nicht aber zuerst an einen Dokumentarfilm über den Internationalen Strafgerichtshof (ICC). Zu einem mächtigen Triptychon arrangiert stehen da eine Frau und zwei Männer. Die Arme verschränkt, streng, gelassen und überzeugt von etwas Unsichtbarem. Darüber ihre Namen: Fatou Bensouda, Luis Moreno-Ocampo und Sir Adrian Fulford. Alle drei alles andere als Schauspieler, sondern Ankläger und Richter am Internationalen Strafgerichtshof.
Überraschende Gründung
Während der gut 80 Minuten bleibt das deutsche Filmteam dicht am ersten Chefankläger des Gerichts Luis Moreno-Ocampo. Es begleitet ihn über sieben Jahre zwischen Den Haag, Libyen, Gaza. Seine Ausdauer und Überzeugung aber auch seine Selbstdarstellung und Erschöpfung.
Der Film verlässt sich nicht auf klassische Dokumentarsituationen, die den Protagonisten aus dem Sessel heraus mit übergeschlagenen Beinen erzählen lassen. Moreno-Ocampo ist nicht allein. Am Bürotelefon mit dem lybischen Außenminister, auf der Rückbank seines Dienstwagens und bei den gemeinsamen Entspannungsübungen im Konferenzraum. So gewährt der Film Einblick in ein außergewöhnliches Gericht.
Schon die Entstehung des Gerichts gleicht aus heutiger Sicht mehr einem Wunder als einem Gründungsakt. Als sich 1998 in Rom die Vertreter von 160 Staaten treffen, hielt es niemand für wahrscheinlich, dass am Ende die Gründung des ICC stehen würde. Erst in der letzten Verhandlungsnacht entsteht der Entwurf, dem überraschend 120 Staaten zustimmen. Nicht weniger unerwartet geschieht die schnelle Ratifizierung des völkerrechtlichen Statuts in den Nationalstaaten. Und so konnte der Gerichtshof bereits 2002 offiziell seine Arbeit aufnehmen.
Ein juristischer Versuchsaufbau
Unscheinbar liegt sein Bürogebäude an einer großen Straßenkreuzung am Stadtrand von Den Haag. Zuerst müssen Computer und Datenbanken aufgebaut und überhaupt eine Methodik entwickelt werden. Es fehlt noch an Mitarbeitern und Strukturen. Seine schnelle völkerrechtliche Existenz und Anerkennung kann sich zunächst nicht auf ein tatsächliches Gericht verlassen. Ein juristischer Versuchsaufbau beginnt.
Mittlerweile haben 116 Staaten auf der Welt das Statut anerkannt und damit seine Anwendung für ihre Staatsterritorien hergestellt. Danach können vier Formen von Verbrechen geahndet werden, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und – noch nicht von allen ratifiziert – Verbrechen der Aggression, also des Angriffskrieges.
Wichtige globalpolitische Akteure haben das römische Statut nicht angenommen. Darunter Russland, China und die USA. Vor allem Letztere fürchten ein starkes internationales Strafgericht, das ihre eigenen Staatsangehörigen zur Verantwortung ziehen könnte. Die USA verabschiedeten nach der Gründung des Gerichts sogar ein Gesetz, dass unter anderem vorsah, in der Untersuchungshaft des Gerichts festgehaltene amerikanische Staatsbürger notfalls mit Militärgewalt wieder zu befreien. Auf der Liste der Vertragsstaaten sucht man auch vergeblich nach Indien, Israel und Iran.
Damit sind auch die Grenzen für die Ermittlungsarbeit des Gerichts abgesteckt. Seine Reichweite und Vollstreckungskraft hängt von seiner politischen Akzeptanz ab. Aber selbst bei den laufenden Verfahren kämpft das Gericht mit seiner Entfernung zu den Schauplätzen. Vom Maanweg in Den Haag ist es verdammt weit nach Kongo, nach Darfur, nach Palästina.
Portrait eines außergewöhnlichen Gerichts
Mit dem Gerichtshof verbindet sich die Hoffnung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit dauerhaft verfolgen zu können, nachdem der Nürnberger Militärgerichtshof nach dem Zweiten Weltkrieg nur zeitlich beschränktes Unrecht verhandeln konnte. Dennoch findet das heutige Gericht hier sein Vorbild. Das wird auch deutlich, wenn der Film ausführlich den mittlerweile 93 Jahre alten damaligen Chefankläger Benjamin Ferencz zu Wort kommen lässt. Der in Siebenbürgen geboren amerikanische Jurist unterstützt die Anklage gegen den ehemaligen kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga Dyilo. Er muss sich wegen Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten verantworten. Es ist der erste und damit gleichzeitig für das junge Gericht besonders wichtige Fall. Weitere prominente Unterstützung erhält das Gericht von Angelina Jolie. Die Schauspielerin bringt ihm die gewünschte Aufmerksamkeit und hilft der juristischen Institution ein Gesicht zu bekommen.
Während Richter und Gerichte sonst schon kraft Gesetzes Kameras scheuen und sich lieber auf Stellungnahmen ihrer Sprecher zurückziehen, geht der Internationale Strafgerichtshof einen anderen Weg und drückt mit diesem Film auf den Selbstauslöser.
Schon dadurch wird deutlich, dass hier ein besonderes Gericht portraitiert werden soll. Das Gericht kann nicht nur zeitlich ungebunden Verbrechen seit 2002 verfolgen, es ist grundsätzlich auch im Aktionsradius seines Statuts räumlich ungebunden. Das unterscheidet es von den internationalen Strafgerichten für Jugoslawien und Ruanda, umgangssprachlich auch "UN-Kriegsverbrechertribunal" genannt. Letztere sind nicht direkt durch die Staatengemeinschaft, sondern durch den UN-Sicherheitsrat ins Leben gerufen worden.
Die Wirkung des Gerichts liegt weniger in seiner abschließenden juristischen Verfolgung schwerster Verbrechen, als in der Abschreckung dieser Verbrecher. "Stell Dir vor, Du wirst vom Internationalen Strafgerichtshof angeklagt. Du wüsstest nie, wann man dich verhaftet", sagt Moreno-Ocampo auf dem Weg zur nächsten Verhandlung, zur nächsten Besprechung, zum nächsten Interview. Der Film verlässt ihn erst, als er selbst gehen muss.
Das Urteil
Moreno-Ocampo räumt die Regale in seinem Büro aus. Bücher und Aktentürme kommen in Umzugskartons. 2012 endete seine Amtszeit als Chefankläger. Seine Position am Gerichtshof übernimmt seine bisherige Vetreterin Fatou Bensouda. Sie schluckt. Ihr Blick geht in den leeren Raum. Sie kann den Zeugen nicht sehen. "Sie müssen wissen, dass wir nur daran interessiert sind, was Ihnen passiert ist." "Und die Wahrheit." - "Waren Sie jemals in einem Trainingscamp?"
"No."
Thomas Lubanga Dyilo wird 2012, weil er Kindersoldaten in Kongo einsetzte, zu 14 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Es ist die erste und bisher einzige Verurteilung des Gerichts.
Szenen aus dem Film "The Court"
Markus Sehl, Doku über den Internationalen Strafgerichtshof: . In: Legal Tribune Online, 04.05.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8667 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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