Intellektuelle in der Rechtsgeschichte: Nur Nörgler zum Beschimpfen?

von Martin Rath

03.07.2022

Zuletzt kam der Beruf der Intellektuellen wieder ins Gespräch, als sich ein Kreis um Alice Schwarzer zum Ukraine-Krieg äußerte. Wenig präsent: Entstanden ist der "Intellektuelle" als Reaktion auf einen juristischen Jahrhundert-Prozess.

Nach einer Rede vor dem Wirtschaftstag der CDU machte Bundeskanzler Ludwig Erhard (1897–1977, im Amt 1963–1966) einmal eine unangenehme Erfahrung mit dem Spott der Öffentlichkeit.

Am 9. Juli 1965 beklagte sich Erhard über die Kritik, die vermehrt aus den Kreisen von Schriftstellern und Professoren an der Regierungspolitik laut geworden sei:

"Neuerdings ist es ja Mode, daß die Dichter unter die Sozialpolitiker und Sozialkritiker gegangen sind. Wenn sie das tun, ist das natürlich ihr gutes demokratisches Recht, dann müssen sie sich aber auch gefallen lassen, so angesprochen zu werden, wie sie es verdienen, nämlich als Banausen und Nichtskönner, die über Dinge urteilen, die sie nicht verstehen."

Beim Namen nannte der Bundeskanzler den hartkantigen Dramatiker Rolf Hochhuth (1931–2020) und den für seine rüstungspolitische Kritik bekannten Atomphysiker Werner Heisenberg (1901–1976). Erhard beklagte, sie bildeten sich ein, wie gemeine Parteifunktionäre am politischen Meinungsstreit teilnehmen zu können, verlangten aber, "mit dem hohen Grad des Dichters ernst genommen zu werden".

Darauf fielen jene Worte, die Ludwig Erhard bis heute nachhängen wie seine Verdienste um das Wirtschaftswunder: "Nein, so haben wir nicht gewettet. Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an."

Zivilgesellschaft beginnt "Wau, wau, wau" zu kläffen

Diese Wortwahl war grob, drückte aber, mit viel Wohlwollen interpretiert, doch eine wichtige Beobachtung aus: Statt es ihrer – seit 1949 wieder demokratisch legitimierten – Obrigkeit zu überlassen, das Geschäft der Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung professionell und nach eigenen Rationalitätsprinzipien zu erledigen, äußerten sich nun Angehörige der heute sogenannten Zivilgesellschaft verstärkt kritisch und mit damals starker Öffentlichkeit zu allen erdenklichen Staatsaffären.

Denn diesen Professoren und Künstlern – den Intellektuellen –, die ihr akademisches und ästhetisches Vermögen dazu nutzten, sich politisch Gehör zu verschaffen, sprangen Teile der Öffentlichkeit zur Seite. So schallte seit seiner Rede dem Bundeskanzler bei Wahlkampfveranstaltungen, insbesondere in Universitätsstädten, ein lautstarker Chor ironischer Stimmen entgegen: "Pinscher, Pinscher! Wau, wau, wau!"

Auf die Frage, warum Erhard im Rückblick vielleicht ein wenig Wohlwollen verdient hat, wird noch zurückzukommen sein.

Im gleichen Jahr, in dem Bundeskanzler Erhard das böse Wort vom "Pinscher" fand, dokumentierte der Bundesdisziplinarhof eine noch deutlich aggressivere Haltung gegenüber den "Intellektuellen", die aber überraschend tief in das Berufsbild der politisch engagierten Gelehrsamkeit führt.

Das Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 24. März 1965 (Az. II (I) WD 149/64) befasste sich mit der Frage, wie hart ein Offizier zu maßregeln war, der einen wehrpflichtigen Soldaten als "Arschloch, Idiot, dummes Schwein", einen anderen als "Arsch" beschimpft und eine Beschwerde nicht pflichtgemäß bearbeitet hatte.

Der Bundesdisziplinaranwalt hatte gegen die Entscheidung des Truppendienstgerichts Berufung eingelegt, weil die Sanktion – eine Soldkürzung um fünf Prozent für ein Jahr – nicht ausreichend sei. Der Bundesdisziplinarhof sah das zwar ähnlich, bezog aber in seine Überlegungen ein, dass dem fraglichen Truppenteil insgesamt die richtige Führung gefehlt habe.

Als sich dessen Soldaten nicht anders zu helfen gewusst hätten, denn eine Beschwerde beim Wehrbeauftragten des Bundestages einzureichen – in den Augen des Gerichts ein Indiz für schlechte Führung –, habe der Vorgesetzte des Offiziers einen der Soldaten angeherrscht, die Beschwerde grenze an Meuterei, ihm rechtswidrig befohlen, ihm den Inhalt des Schreibens an den Wehrbeauftragten zu offenbaren und ihn dabei als "Knilch, Würstchen, sensibler Intellektueller" beschimpft.

Intellektuelle = Leute, die sich öffentlich beschweren

Das Urteil in dieser Disziplinarsache, ein insgesamt wunderliches juristisches Psychogramm der Truppe, können wir an dieser Stelle verlassen – hatte dieser vorschimpfende Vorgesetzte mit dem "sensiblen Intellektuellen" doch den Nerv der Sache getroffen, vermutlich ganz intuitiv und aus dem Bauch heraus.

Denn seit es den Begriff des "Intellektuellen" gibt, dient er zuerst als Schimpfwort und betrifft das Bemühen um Öffentlichkeit, wenn im Staatsbetrieb unzumutbare Fehler zu befürchten sind – und das wiederum gern im Dreieck von Justiz, Militär und kritischer Öffentlichkeit, hier einmal in Gestalt des wehrpflichtigen "Knilchs, Würstchens und sensiblen Intellektuellen".

In einer ungeheuer detaillierten Untersuchung hat der Historiker Dietz Bering (1935–) die Herkunft des Begriffs vom "Intellektuellen" und seine Verwendung herausgearbeitet. Es ist relativ bekannt, dass es zunächst jene kritischen Köpfe waren, die in der Affäre um den französischen Oberst Alfred Dreyfus eine juristische und politische Prüfung des fehlerhaften Urteils einforderten, die erstmals in der Mediengeschichte als "Intellektuelle" bezeichnet wurden.

Bering belegt aber, dass der Begriff nicht als Eigenbezeichnung und auch nicht, wie oft behauptet, vom bekannten Politiker und Journalisten Georges Clemenceau (1841–1929), einem Fürsprecher Dreyfus', aufgebracht wurde, sondern vom nationalistischen Schriftsteller Maurice Barrès (1862–1923). Barrès polemisierte in einem Artikel gegen die Verteidiger des jüdischen Offiziers Dreyfus, es handle sich um einen "Protest der Intellektuellen", deren öffentliche Solidaritätserklärungen einem "Adressbuch der Elite" entsprächen, in das nun viele gerne aufgenommen werden würden.

In Deutschland bleibt man bestenfalls "intellektuell"

Während sich in Frankreich die als "Intellektuelle" beschimpften Künstler und Gelehrten den Begriff positiv zu eigen machten, fremdelte man in Deutschland mit ihm.

Als beispielsweise August Bebel (1840–1913), der parlamentarische Führer der Sozialdemokratie, im Jahr 1903 unter stürmischem Beifall seiner Genossen dazu riet, es sich drei Mal zu überlegen, bevor man einen "Intellektuellen" in die Partei aufnehmen wolle, war – wie Bering zeigt – der deutschen Presse diese Vokabel noch fremd.

Für ihre spezifisch deutschen Gehirnfunktionen reklamierten Konservative und Nationalisten vorzugsweise den Begriff des "Geistes" und schimpften bis 1945, vereinzelt darüber hinaus, dass "Intellektuelle" blass und handlungsschwach seien, es ihnen an Willen und Instinkt fehle, ihr Denken abstrakt und nicht lebendig sei – oft verband sich die Feindschaft gegen Intellektuelle mit Antisemitismus.

In der juristischen Sprache tauchte deweil "intellektuell" fast ausschließlich im adjektivischen Gebrauch auf, als Synonym für kognitive Leistungsfähigkeit, beispielsweise im Fall der geistigen Behinderung – selten als positiver Ausdruck einer künstlerischen oder gelehrten Lebensart.

Ein deutscher Flüchtling beispielsweise, der sich zwischen 1940 und 1944 an einem magisch schönen Ort in Südfrankreich versteckt halten musste, in ständiger Furcht, von seinen Landsleuten physisch vernichtet zu werden, begehrte nach dem Krieg Entschädigung, denn "er sei ein Intellektueller, so daß für ihn ein Leben ohne Bücher, geistige Kontakte und kulturelle Möglichkeiten einer Haft gleichgekommen" sei. Der Bundesgerichtshof (BGH) sah aber keine Möglichkeit, diese Zeit der Isolation als eine Form von Haft anzuerkennen (Urt. v. 28.03.1972, Az. IX ZB 650/71).

Der Historiker Władysław Bartoszewski (1922–2015), der im Jahr 1941 als politischer Gefangener im Stammlager Auschwitz inhaftiert war, überlieferte eine Methode der deutschen Besatzungsmacht, polnische Intellektuelle zur Gefangennahme und Ermordung auszuwählen: "Ein Polizist hat mit dem Finger gewinkt: Du, Brillenträger, komm." – Wohin das führte, belegt ein Urteil des Entschädigungssenats des BGH vom 15. November 1961 (Az. IV ZR 182/61).

Beinahe verschroben, jedenfalls kaum von einem positiven Bild des Intellektuellen geprägt, blieb die Rechtsprechung auch überall dort, wo es nicht um die juristische Auseinandersetzung mit der Shoah ging.

Einerseits musste sich ein Apotheker, dem wegen Sexualdelikten die Zulassung entzogen wurde, vorhalten lassen, er habe "auf Grund seiner Erziehung und Ausbildung über das moralische und intellektuelle Rüstzeug verfügt" sich rechtmäßig zu verhalten (Bundesverwaltungsgericht, BVerwG, Beschl. v. 07.05.1965, Az. I B 125.64), andererseits klang die Vorstellung an, dass dank Abitur oder Studium "intellektuell" geprägte, also eigentlich wohl verdorbene Menschen durch sexuell anstößige Schriften – wie Ulrich Schamonis "Dein Sohn läßt grüßen" – weniger bedroht seien als sogenannte "durchschnittliche Kinder und Jugendliche" (BVerwG, Urt. v. 07.12.1966, Az. V C 47.64).

Immerhin verblasste die Idee, ein Intellekt stehe der Tiefendimension der deutschen Seele entgegen. So entschied das BVerwG mit Urteil vom 17. Dezember 1965 in bestechender Klarheit: "Eine zur Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe berechtigende Gewissensentscheidung kann durch die Betätigung des Verstandes ausgelöst worden sein" (Az. VII C 84.63).

Was Kanzler Erhard noch wusste und was noch nicht

Ludwig Erhard hätte also wissen können, dass die große Zeit plakativer Intellektuellen-Beschimpfung vorbei war.

So sehr nun Erhards Idee, dass die politischen Anliegen von gewählten Abgeordneten, weniger von Künstlern verhandelt werden sollten, noch im altliberalen oder obrigkeitsstaatlichen Denken wurzelte: Dass Macht, Kunst und Wissenschaft getrennte Sphären mit eigenen, autonomen Ansprüchen und Methoden sind, sah der Kanzler vielleicht klarer als die – seinerzeit immerhin noch meist in manierlichen Worten und mit profunden Essays – ihr Mitspracherecht reklamierenden Intellektuellen.

Restaurieren lässt sich diese Welt natürlich nicht, selbst wenn man das wollte. Aber wenn heute öffentliche "Debatten" oft klingen wie ein "Wau, wau, wau!" in 280 Zeichen, liegt das nicht allein am digitalen Wandel.

Tipps: Dietz Bering: "Die Epoche der Intellektuellen 1898–2001. Geburt, Begriff, Grabmal. Berlin 2010. Zu einer ähnlich gelagerten Kontroverse: Daniel-Pascal Zorn: "Die Krise des Absoluten. Was die Postmoderne hätte sein können". Stuttgart 2022.

Zitiervorschlag

Intellektuelle in der Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 03.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48917 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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