Fortschritt und Ethik: Bürger, schützt Eure Hirn-Anlagen

von Martin Rath

09.07.2017

2/2: Biologen fragen schon mal bei Ethikern an

Doch im Vergleich zu einem sich selbst steuernden Kraftfahrzeug werden sich die BMI-Verhältnisse deutlich vertrackter darstellen. Für das robotisierte Auto lässt sich eine Steuerungssoftware denken, die in einer Vielzahl von Fahrzeugen und in einer Vielzahl von Verkehrssituationen die Verantwortung an den Menschen zurückdelegiert. Hier ist die Risikoverteilung zwischen Anwender und Hersteller der Maschine kalkulierbar, sie steht der Einführung des Systems wohl nicht dauerhaft im Weg.

Eine Beinprothese beispielsweise, deren Steuerung aus den ausgelesenen Hirnaktivitäten erfolgt, wird dagegen oftmals wohl zwingend in Rückkoppelungsfunktionen zwischen prothetischer IT und Gehirn tätig sein müssen: ein Bewegungswunsch weckt das Aktivitätspotenzial der Maschine und kündigt eine Bewegungsrichtung an. Die unbewussten Hirnaktivitäten, die das Gegenstück zur Willensbildung darstellen, lösen die maschinelle Aktivität aus – erst hinterher sagt sich der Prothesenträger bewusst, dass er das, was er getan hat, auch wollte. Bewegungen mit natürlichen Organen laufen regelmäßig so ab.

Berücksichtigt die Beinprothese etwa auch alle Reize, die mit der Wahrnehmung zusammenhängen: "Ich stehe aber unbequem" und verarbeitet sie mit einem: Ich stelle mich etwas gerader hin", wird die Zahl der Hirn-Maschine-Interaktionen schnell unüberschaubar groß.

Ein von den "Science"-Autoren gewähltes Beispiel für die Verwendung von Veto-Funktionen in semiautomatischer Prothetik betrifft Armprothesen: Soll es mit ihnen möglich sein, einen Säugling zu greifen oder soll ihr Gebrauch auf weniger heikle Gegenstände beschränkt sein?

Utopie oder Dystopie oder beides zugleich

Intelligente Prothetik wirft unter anderem Fragen nach der Datensicherheit auf, denn sie umgibt ihre Anwender mit einer Wolke aus potenziell sehr intimen neuronalen Informationen – ausgestrahlt mittels Bluetooth oder WLAN. Hier darf man schon heute auf die Suche nach Konfliktfeldern zwischen Datenschutz und medizinischer Forschungs- bzw. ärztlicher Berufsfreiheit gehen.

Am Beispiel des Säuglings, dessen Mutter auf eine Armprothese angewiesen ist, lässt sich auch leicht erkennen, dass die normativen Probleme nicht allein über die üblichen ethischen Fallidealisierungen zu lösen sind, also über abstrakte Fragen vom Typ: "Ein robotisiertes Fahrzeug kann nicht rechtzeitig bremsen und muss entweder a) eine Frau mit Kinderwagen oder b) einen herzkranken 90-Jährigen töten. Wenn soll es überfahren?"

Die Ethikkommission beim Bundesverkehrsminister schlägt bekanntlich das Verbot einer kriteriengestützten Auswahl vor. Das mag man bei einer so grobschlächtigen Sozialaktivität wie dem Autofahren für annehmbar halten, wenngleich auch hier Zuspitzungen zu erwarten sind, wenn Kinderwagen ebenso mit WLAN-Tools ausgestattet sind wie Herz- und sonstige Schrittmacher. Darf ein depressiver Parkinson-Erkrankter über seinen Hirnschrittmacher einwilligen, dass das Roboter-Taxi lieber ihn als das Kind töten möge?

Bei der Nähebeziehung zwischen einer körperbehinderten Mutter und ihrem Kind sollten selbst die Ethikkommissare des Bundesverkehrsministers Zweifel bekommen, ob es damit getan ist, den technologischen Hilfsmitteln Selbstbeschränkungen aufzuerlegen – analog zum Verbot der Diskriminierung bei unausweichlichen Unfällen. Wäre die Gesellschaft überhaupt bereit, technologischen Fortschritt zu finanzieren, dem solche Selbstbeschränkungen auferlegt werden?

Wo ist für den Menschen, der sich auch in biologischer Regelausstattung als Mängelwesen sieht, die Grenze der prothetischen Versorgung zu ziehen?

Leistungsfähige Rechtspolitik?

Von den Antworten auf entsprechende Wertungsfragen hängt nicht zuletzt ab, in welchen Ländern, mit wie viel Kapital und Forschergeist an technologischen und ethisch konsensfähigen Lösungen gearbeitet wird.

Ethikkommissionen werden hierzulande traditionell stark mit Theologen besetzt. Dass sie zu den normverarbeitenden Berufen zählen, ist unbestritten, ihre demokratische Legitimation ist es durchaus. Dieser Mangel zeigt sich bereits in Handlungsfeldern, in denen die notwendige Technologie nicht erst erfunden werden muss – Stichwort: Sterbehilfe. Um wie viel mehr muss er sich zeigen, wo es um die Frage geht, wie viel Kapital es einzusetzen lohnt, um Technik zu entwickeln, die z.B. einen künstlichen Arm einem natürlichen nahezu gleichen lässt – dafür aber eine tiefe Interaktion zwischen neuronalen Strukturen des Gehirns und der Sensorik, Mechanik und Künstlichen Intelligenz der Prothese verlangt?

Man möchte den Bundestagsabgeordneten seines Vertrauens fragen, wie er es hält – mit einer dynamischen Technologie, die tief in soziale Lebensräume eindringt und auf mittlere Sicht unser Verständnis davon, was den Menschen ausmacht, verändern wird.

Beobachtet man, wie zäh die Debatte über technische Zukunfts- oder auch nur Gegenwartsthemen hierzulande meist verläuft, muss man vermuten: Ebenso gut, wie die demokratisch berufenen Normhersteller in Berlin zu befragen, kann man den metaphorischen Frosch in einen Topf und diesen auf den Herd setzen.

Hinweise: Clausen, Fetz, Donoghue, Ushiba, Spörhase, Birbaumer & Soekadar: "Help, hope, and hype: Ethical dimensions of neuroprosthetics. Accountability, responsibility, privacy, and security are key" online verfügbar in "Science". Als Erzählung davon, wie neue neurowissenschaftliche Technologie im politischen und juristischen Kontext verarbeitet wird, ist empfehlenswert: Ramez Naam, "Nexus" (2013/2014).

Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs (Solingen).

Zitiervorschlag

Martin Rath, Fortschritt und Ethik: . In: Legal Tribune Online, 09.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23400 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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