Die Vereinten Nationen haben den 15. Oktober zum Welttag des Händewaschens erklärt. Zum Nachdenken über symbolische Formen im Recht laden saubere Hände jedenfalls auch ein. Von Martin Rath.
Ein Wehklagen gibt es über die starke Präsenz von antiken Fax-Geräten oder die schleichende Einführung von digitalen Dienstpostfächern. Einerseits leidet die deutsche Justiz gar nicht selten unter sich selbst, wenn es um ihre Schwierigkeiten geht, den Geschäftsverkehr ebenso elektronisch abzuwickeln wie es andere Branchen vormachen.
Andererseits fragt sich, wohin das noch alles führen soll. In jedem Jahr schreiten nach wie vor tausende junger Leute durch die Pforten der juristischen Fakultäten, um sich dort wie ein i-Dötzchen in Hogwarts zu fühlen, verzaubert von den Möglichkeiten der Rechtswissenschaft und in der Hoffnung, dass sie dermaleinst mit den Staatsprüfungen keinen Bethlehemitischen Kindsmord erleben müssen.
Performatives Handeln in der digitalen Welt?
Was wird erst geschehen mit den unzähligen richteramtlich Befähigten in diesem Land, wenn auch Privatleute ihre Verträge, mehr noch als heute, elektronisch vor- und aufbereiten lassen und noch das kleinste Unternehmen bei Änderungen der Rechtslage den automatischen Hinweis auf die notwendigen Vertragsanpassungen erhält? Auch von der Betriebswirtschaftslehre her weht da ein kalter Wind, hält man dort den juristischen Blick auf den Vertrag doch mitunter für vertrauens- und damit geschäftsschädigend.
Eine – zugegeben subjektive – Vermutung: Neben der Beratung wird die darstellerische Leistung belohnt werden. Allgemeiner formuliert: Die performativen Leistungen, die sich nicht durch digitale Surrogate verdrängen lassen, könnten an Wert gewinnen. Bestimmt tröstet Sie, liebe Leserin, verehrter Leser, dieser Gedanke: Vielleicht müssen Artikel wie der vorliegende dann vom Autor eurythmisch vorgetanzt werden statt sie bloß aufzuschreiben – denn Schreiben kann die Künstliche Intelligenz dann vermutlich auch schon ganz alleine.
In den juristischen Berufen hat das Performative ja schon immer seinen Rang behalten, man denke da ans Aufstehen des Publikums vor dem Gericht oder die schicke Dienstbekleidung.
Statt Normenketten: Händewaschen
Wie leistungsfähig das performative Handeln ist, zeigt ein Blick auf den folgereichsten Strafprozess der Weltgeschichte, überliefert beim Evangelisten Matthäus (27, 24): "Als Pilatus sah, dass er nichts erreichte, sondern dass der Tumult immer größer wurde, ließ er Wasser bringen, wusch sich vor allen Leuten die Hände und sagte: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache."
Bei der Urteilsbegründung wird man etwas ins Zweifeln geraten müssen, doch die Darbietung war sehr eindrucksvoll: Mit der performativen Übung des Händewaschens wurde erklärt, wozu das deutsche Recht gleich eine Vielzahl von Normen benötigt, vom jeweiligen dogmatischen Überbau gar nicht zu reden. Zum Beispiel drückte der römische Richter hier etwas aus, was sich inzwischen in § 839 Absatz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) findet: das berühmte Spruchrichterprivileg.
Um für das eigene richterliche Handeln dann auch noch das Volk statt die eigene Person in symbolische Haftung zu nehmen, benötigt das deutsche Recht heute gleich in jeder Prozessordnung eine eigene Vorschrift zum "Namen des Volkes": §§ 311 Zivilprozessordnung, 268 Strafprozessordnung, 117 Verwaltungsgerichtsordnung und viele andere mehr.
Vor der weiteren Auflösung dieser etwas vorwitzigen These sprechen wir doch kurz von der mehr alltagspraktischen Dimension dessen, was Pontius Pilatus da prozessual verrichtete: nämlich vom Händewaschen.
Händewaschen als Frage des positiven Rechts
Die symbolische Bedeutung des Händewaschens ist naturgemäß in der neueren Rechtsprechung stark verblasst. Am nächsten kommt ihr, wie könnte es anders sein, das Bundesverfassungsgericht.
Im Rahmen von Protesten gegen die Spedition von Atommüll durch Niedersachsen ("Castor-Transporte") war eine Bürgerin nach einer Sitzblockade am 13. November 2001, 10.20 Uhr, von der Polizei in Haft genommen, am 14. November um 8.23 Uhr entlassen worden.
Neben den wirklich grässlichen Umständen der Freiheitsentziehung, die zunächst mit vier Personen in einer nur zwei Quadratmeter großen Zelle erfolgt war, wurde nach drei Stunden die Benutzung einer Toilette erlaubt. Ein Umstand, der durch die fehlende Gelegenheit zum Händewaschen aber auch gleich wieder entwertet wurde (BVerfG, Beschl. v. 13.12.2005, Az. 2 BvR 447/05).
Bewerten wir das einmal vorsichtig: Obwohl die Anti-Atomproteste dem Konzept des zivilen Ungehorsams folgten, das einen Bruch positiven Rechts in Kauf nimmt und von seinem bekanntesten Vertreter, Mohandas K. Gandhi (1869–1948) mit dem Prinzip verbunden wurde, die staatliche Repression gelassen zu ertragen, ist hier die verweigerte Handwaschung ein Problem, das verfassungsrichterliche Aufmerksamkeit verlangt.
Zum Vergleich mag ein Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg dienen. Im Streit stand die Frage, ob das Krebsleiden des Klägers als Berufskrankheit anerkannt werden müsse. Den Hintergrund für die ablehnenden Entscheidungen der Berufsgenossenschaft sowie der Gerichte bildet hier unter anderem eine Praxis des Händewaschens mit benzolhaltigen Treibstoffen, die von Arbeitern in technischen Berufen erwartet oder unter ihnen jedenfalls geduldet wurde – das Gericht ordnet sie dem widerwärtigen Menschenverschleiß in den chemischen Betrieben der früheren DDR gleich (LSG, Urt. v. 26.09.2013, Az. L 6 U 1510/12).
Martin Rath, Hygiene als juristischer Streitfall: . In: Legal Tribune Online, 16.10.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20870 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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