Ende Oktober 1966 zerbrach die Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP, keine zwei Monate später war die erste GroKo mit der SPD perfekt. Eine Bilanz, gezogen aus dem Bundesgesetzblatt, als Vergleich mit der heutigen GroKo 50 Jahre danach.
Nach der Bundestagswahl von 1965 hatte es Bundeskanzler Ludwig Erhard (1897–1977) mit einem Kabinett zu tun, in dem die Minister aus den tragenden Parteien CDU, CSU und FDP in teils fröhlichem "Hauen und Stechen" miteinander arbeiteten. Teile der FDP zog es zur Sozialdemokratie, vollzogen unter anderem mit einer Koalition im wichtigsten Bundesland, Nordrhein-Westfalen, im Herbst 1966.
Auch in der Union hing der Haussegen schief, stand der führende CSU-Bundespolitiker Karl Theodor zu Guttenberg (1921–1972) im Verdacht, sich im CDU-geführten Außenamt einen eigenen Whistleblower zu halten. Schließlich ging die bürgerliche Koalition am 27. Oktober 1966 mit dem Rücktritt der FDP-angehörigen Minister zu Ende, der Versuch eines Neustarts unter Kurt Georg Kiesinger (1904–1988) misslang, der daraufhin mit der SPD die erste Große Koalition auf Bundesebene schloss.
1966 vs. 2016: Weniger Papier, mehr Leistung
Politische oder auch nur rechtspolitische Leistungsbilanzen zu ziehen, ist ein garstig Ding. Für die gut zweieinhalb Jahre dieser ersten "GroKo" lohnt sich immerhin der Blick in ein halbwegs nüchternes Portfolio: das Bundesgesetzblatt.
1966 war ein Jahr, in dem Politik auf Bundesebene nicht nur gemacht wurde, sondern es auch noch über weite Strecken genügte, über sie zu reden. Heute ist dies ja kein kleines Defizit: der Bundesgesetzgeber produziert sehr viel mehr Papier. Das Bundesgesetzblatt umfasste am Ende des sehr aktiven Jahres 1968 beispielsweise insgesamt 1.478 Seiten. Zum Vergleich: Im Oktober 2016 ist das Bundesgesetzblatt schon bei 2.392 Seiten angekommen - und das das Jahresende ist noch nicht erreicht.
Über Politik zu reden, das hieß: Die Regierung erklären. Hat es sich inzwischen eingebürgert, dass die Parteien beim Abschluss politischer Vereinbarungen sogenannte Koalitionsverträge schließen, gern mit sprechenden Titeln wie "Deutschlands Zukunft gestalten" oder "Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert" – Katholiken fühlen sich hier an die berühmten Einleitungen päpstlicher Enzykliken, Protestanten an Kirchentagsmottos erinnert – kannte die Große Koalition von 1966 derlei nicht.
Bundeskanzler Kiesinger gab vor dem Bundestag eine sehr erschöpfende Regierungserklärung ab, man hatte noch ein Gefühl dafür, dass dies der formal gebotene Weg sei und den Verfahrensregeln einer parlamentarischen Demokratie entspreche. Das gute Pathos der Erklärung passt auch gut dazu.
Franz Josef Strauß darf endlich wieder gegenzeichnen
Der erste Bundesminister der neuen Regierung, der sich im Bundesgesetzblatt (hier stets Teil I und nur mit Jahr und Seite zitiert) verewigen durfte, war der bayerische Nationalheros Franz Josef Strauß (1915–1988).
Nach der sogenannten "Spiegel-Affäre" war er von Bundeskanzler Adenauer nicht mehr als Bundesminister vorgeschlagen worden, vielleicht auch deshalb, weil er im Verteidigungsressort bei der Anschaffung der extrem absturzgefährdeten "Starfighter" keine allzu gute Urteilskraft unter Beweis gestellt hatte. In der Großen Koalition von 1966 reüssierte Strauß als Bundesminister der Finanzen. Sein erster Akt: die Änderung der Jahreszahl "1966" durch "1969" in einer Verordnung zur Änderung einer Verordnung (1966, S. 677). Sein CSU-Parteifreund, Landwirtschaftsminister Hermann Höcherl (1912–1989), übergab eine Verordnung zu den näheren Impfpflichten bei Maul- und Klauenseuche dem juristischen Publikum (1966, S. 680).
Interessanter als diese Regierungskunststücke der beiden CSU-Minister, für die ohnehin die Vermutung stammesgeschichtlicher Unfehlbarkeit gilt, sind natürlich die ersten Übungen jener Genossinnen und Genossen, die seit dem Ende der letzten parlamentarisch gebildeten Reichsregierung unter Hermann Müller (1876–1931) im März 1930 nicht mehr auf höherer Ebene mitregiert hatten.
Erster Auftritt der Sozialdemokratie nach über 35 Jahren: Das Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 22. Dezember 1966, gegengezeichnet unter anderem von Außenminister Willy Brandt als Stellvertreter des Bundeskanzlers und von Gustav Heinemann, Bundesminister der Justiz, diente allein der Aufhebung eines § 157 Verwaltungsgerichtsordnung, der es den Gerichten erlaubte, auch den "gesetzlichen Vertretern und Bevollmächtigten" jene Kosten aufzuerlegen, "die sie durch grobes Verschulden veranlaßt haben".
SPD: Kaum im Amt, schon eine Norm beseitigt, die potenzielle Staatseinnahmen betrifft. Aber im Ernst: Wahre Freunde des gediegenen juristischen Kalauers kommen eher mit der von Käthe Strobel (1907–1996) gegengezeichneten "Bestallungsordnung für Tierärzte" auf ihre Kosten. Diese tapfere Sozialdemokratin aus Nürnberg dürfte sich heute der Abneigung vieler Netzfeministinnen sicher sein, firmierte sie doch als "Der Bundesminister für Gesundheitswesen" (1967, S. 360).
Deutschland im Statistik- und Steuerungswahn
Die Große Koalition der Jahre 1966–1969 ließ ihre Vorstellung der politischen Gestaltung der Gesellschaft in einen breiten Strom an Gesetzen fließen. Bisher nicht oder nur unterregulierte Berufs- und Ausbildungswege erhielten Ausbildungsnormen, von der 18 Paragraphen zählenden "Prüfungsordnung für Bundeswehrfachschulen" (1967, S. 480), die "Prüfordnung für Luftfahrtpersonal" mit 118 Paragraphen (1967, S. 413) bis zur kurzen Verordnung über das Berufsbild des Zinngießer-Handwerks (1969, S. 37).
Während der Staatsmann von heute schaut, wie schön seine jüngsten Statements im Pressespiegel stehen, wollte die "GroKo" von 1966 wirklich wissen, was draußen im Land los war.
Irgendein Referent muss sich etwa wirklich gefreut haben, als endlich das "Gesetz über eine Geflügelstatistik" ins Gesetzblatt kam (1967, S. 388), das Rechenschaft über die monatlich geschlüpften Geflügelküken verlangte. Die Erfassung anderen Geflügels zog nach mit dem "Gesetz über die Luftfahrtstatistik" (1967, S. 1.053). Über die Bezahlung im öffentlichen Dienst wurde gesetzlich eine statistische Erfassung verlangt (1968, S. 385) und auch die Art, wie zu zählen und zu messen sei, fand mit dem "Gesetz über Einheiten im Meßwesen" nun die volle Aufmerksamkeit des Bundesgesetzgebers (1969, S. 709).
Die Mess- und Regelungslust an den Systemen der Gesellschaft könnte wie ein historischer Zufall wirken, wäre da nicht die erklärte Steuerungsabsicht: Das "Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" (1967, S. 582) gibt seither vor, dass die volkswirtschaftlichen Hauptgrößen Wirtschaftswachstum, Preisniveaustabilität, Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht zu befördern seien.
Dazu war zu planen, zu planen und noch einmal zu planen. Immerhin darf seit 1967 als Gegner der gesetzlich vorgezeichneten Wirtschaft geschmäht werden, wer zum Beispiel von den hohen Exportüberschüssen Deutschlands schwärmt. Allein, wer tut das schon.
Martin Rath, Aus dem Bundesgesetzblatt: . In: Legal Tribune Online, 30.10.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21015 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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