Eine Frage an Thomas Fischer: Müssen "Klima-Kleber in den Knast"?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Fischer

04.11.2022

Über einen von "Letzte Generation" verursachten Stau in Berlin ist verbreitet Empörung entstanden, weil er möglicherweise ein Menschenleben kostete. Was ist strafrechtlich dran, können Klimaaktivisten sogar Tötungsvorsatz haben?

Populistische Forderungen

Am 2. November 2022 veröffentlichte "BILD" unter der Dachzeile "Spitzenpolitiker fordern" die Schlagzeile: "Klima-Kleber in den Knast". Liest man die in "BILD" und vielerorts sonst verbreiteten Meldungen über die angeblichen "Forderungen", kommt allerdings durchweg nicht viel heraus: Die Justizminister Buschmann und Eisenreich teilten mit, Nötigung oder gefährlicher Eingriff in der Straßenverkehr könnten auch mit Freiheitsstrafe geahndet werden, was angesichts §§ 240, 315b Strafgesetzbuch (StGB) eine nicht wirklich überraschende Enthüllung ist. Alles andere als solche nichtssagenden, vagen rechtspolitischen Verlautbarungen wären für Justizministerien auch völlig unangemessen. Vielmehr ist es immer wieder deprimierend zu erleben, dass nicht unerhebliche Teile der Presse den Justizministern eine unmittelbare Durchgriffsmacht auf die Strafgerichte und Durchgriffspraxis auf die Staatsanwaltschaften zuschreiben, also eine glatt verfassungswidrige Staatspraxis insinuieren. 

Bislang bekannte Tatsachen

Die bisher (04.11.) bestätigten Informationen über den aktuellen Vorfall sind: Zwei "Aktivisten" fixierten sich an einer Autobahnbrücke über zwei Fahrstreifen. Die Polizei sperrte die zwei Streifen, um die Personen herunterzuholen. Im hierdurch verursachten Stau kam ein Rettungsfahrzeug mit Bergegerätschaften nicht so schnell zu einem Unfallort, wie es ohne den Stau dort gewesen wäre. Die verunglückte Person war inzwischen "auf andere Weise" geborgen und ins Krankenhaus gebracht worden. Sie ist am 3. November infolge des (mit der Protestaktion nicht zusammenhängenden) Verkehrsunfalls verstorben.

Unklar ist bislang: Wer war der unmittelbare Verursacher des Verkehrsstaus? Wie lange wurde das Rettungsfahrzeug aufgehalten? Entstand durch die verspätete Ankunft ein weiterer Personenschaden oder wurde der bestehende Schaden vertieft? Hat sich die Behinderung kausal auf den Gesundheitszustand der verunglückten Person ausgewirkt? War die Verspätung ursächlich für ihren Tod? Weiterhin: Welche subjektiven Vorstellungen hatte die "Aktivisten" von den Auswirkungen ihrer Aktion? Hätte die Sperrung eines Fahrstreifens durch die Polizei zur Bergung ebenfalls ausgereicht? Insoweit ist die Berichterstattung vorerst weithin spekulativ. Sie zieht allerdings vielfach schon weite Konsequenzen: Ein bedingter Vorsatz schwerster Schäden für Leib oder Leben wird unterstellt; über den Einzelfall hinaus werden "harte Maßnahmen" gegen die inzwischen massenhaften Blockade- und Vandalismus-Aktionen der "Letzten Generation" gefordert. 

Konkrete Rechtslage 

In Betracht kommen – neben Ordnungswidrigkeiten-Tatbeständen – verschiedene Straftatbestände: Nötigung (§ 240 StGB); Behinderung von hilfeleistenden Personen (§ 323c Abs. 2 StGB); gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b StGB); vorsätzliche (§ 223 StGB), ggf. gefährliche (§ 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB) Körperverletzung (§ 223 StGB, mit fahrlässiger Todesfolge, § 227) oder fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) oder fahrlässige Tötung (§ 222 StGB). Im Einzelnen: 

Eine Behinderung hilfeleistender Personen setzt ebenso wie die vorsätzliche Körperverletzung und der Totschlag, Vorsatz voraus. Ein direkter Vorsatz (oder gar Absicht) ist hier offensichtlich nicht gegeben. Es stellt sich also die Frage nach dem "bedingten Vorsatz", also einer subjektiven Sicht der Täter, den Eintritt des jeweiligen objektiven tatbestandlichen Erfolgs (Behindern, Verletzung, Tod) für möglich zu halten (sog. kognitives Element) und einen solchen Erfolgseintritt "billigend in Kauf zu nehmen" (sog. voluntatives Element"). 

Insoweit erinnert die Lage und Diskussion ein wenig an die "Raser"-Problematik, auch wenn die Motive des jeweiligen Täterhandelns natürlich in Inhalt und Bewertung ganz unterschiedlich sind. "Klimarettung" als Fernziel von Blockaden ist bekanntlich ein (fast) allgemein anerkanntes, moralisch hoch bewertetes Ziel. Allerdings sind solche "Fernziele" für die mögliche Tatbestandsmäßigkeit nach ständiger (und zutreffender) Rechtsprechung ohne Belang. Ziel von Blockaden ist das Blockieren, mittelbar das Demonstrieren, wiederum mittelbar die Veranlassung "der Politik", das jeweils Gewünschte zu tun oder das Kritisierte zu unterlassen. 

Trotz Bedauern ist Vorsatz möglich

Nun wird jeder "Aktivist" gewiss versichern, dass er keinesfalls Verletzungen von Leib und Leben Dritter billige und in Kauf nehme. Ganz so einfach ist es freilich nicht: Es gibt eine Grenze der Plausibilität, an welcher das bloße Wollen nicht mehr ausreicht, um das objektiv Offenkundige zu verdrängen. Wer jemand anderem gezielt in den Kopf schießt, kann nicht ernsthaft behaupten, er habe den Tod des Opfers nicht für möglich gehalten oder in Kauf genommen. Das bloße "Bedauern" des angeblich Unvermeidlichen reicht dafür nicht aus. 

Anders ist es, wenn die Verwirklichung des Tatbestands zugleich zwingend mit größter Gefahr oder gar unabsehbarem Schaden für den Täter selbst verbunden ist: Dass ein "Raser" die eigene Querschnittlähmung "billigt", bloß um ein sog. "Rennen" zu gewinnen, liegt eher fern und kann, wie der BGH entschieden hat, nur im Einzelfall aufgrund umfassender Prüfung angenommen werden. Die Literaturmeinung, wonach das "Vertrauen auf den glücklichen Zufall" nie ausreicht, um den bedingten Vorsatz auszuschließen, hat sich jedenfalls bisher nicht durchgesetzt. 

Noch einmal anders liegen die Dinge im "Kleber"-Fall. Wenn die Handlung auf das Blockieren der Straße – sei es unmittelbar (festkleben, anbinden, einbetonieren) oder mittelbar (Sperrung) – gerichtet ist, was aus Demonstrationszwecken regelmäßig der Fall ist, lässt sich gegen die Annahme, man habe Schäden billigend in Kauf genommen, kaum einwenden, dass man allen blockierten Verkehrsteilnehmern von Herzen gewünscht habe, dass sie keinen wichtigen Arzttermin, keine entscheidende berufliche Besprechung, keine Zahnschmerzen hätten. Denn all das lässt sich schlechterdings nicht ausschließen, sondern liegt eher nahe.  

Hier beginnen schwierige "Abwägungen", namentlich im Bereich der Grundrechte auf Meinungsfreiheit und "Spontan"-Demonstration. Unabhängig vom Fernziel ist klar: Wenn ein rechtswidriger (Gewalt-)Eingriff in fremde Rechtsgüter vorliegt, kann nicht zugleich diese Tat gerechtfertigt sein ("Einheit der Rechtsordnung"). Wann ein Eingriff rechtswidrig ist, ist damit aber nicht gesagt. Der Mensch und Bürger wird rund um die Uhr von allerlei fremden Betätigungen behindert, gehemmt, an der Entfaltung und Selbstoptimierung gehindert. Wer in der Fußgängerzone belästigend herumsteht, "zwingt" die anderen zwar zum Ausweichen, begeht aber ebenso wenig eine Nötigung wie der Straßenbahnfahrer, der zwischen den Haltestellen niemanden aussteigen lässt.   

Nötigung

Nach richtiger Ansicht begeht keine (Gewalt-)Nötigung, wer Dritte nur kurzfristig und im Rahmen des "sozial Hinnehmbaren" (Sozialadäquaten) zu bestimmten Handlungen zwingt. Dabei ist auch die so genannte "Zweite-Reihe"-Rechtsprechung zu beachten: "Gewalt" ist zwar nicht schon das Errichten einer bloß psychologisch wirksamen Hemmung (erste Reihe), wohl aber das mittelbare Errichten eines für andere physisch nicht überwindbaren Hindernisses (zweite Reihe). Wer Vorkehrungen trifft (z.B. Festkleben), um die zweite und unendlich viele weitere Reihen möglichst lange zu blockieren, kann sich nicht nachträglich darauf berufen, eine nur ganz kurzfristige Behinderung beabsichtigt zu haben. Das führt im Ergebnis dazu, dass die Blockierer sich in der Regel wegen Nötigung (durch Gewalt) strafbar machen. Der Einwand, mit einem raschen "Abräumen" der Störung durch die Polizei gerechnet zu haben, ist unbehelflich, da ja offenkundig das Gegenteil beabsichtigt wird. 

Vorsatz der Schädigung

Hinsichtlich des (bedingten) Vorsatzes der Verursachung von Schäden an Leib und Leben scheint mir die Sache komplizierter und im Ergebnis fraglich – unabhängig davon, ob sich auf objektiver Ebene die Kausalität erweisen lässt. Hier kommt es in hohem Maß auf die konkreten Einzelheiten an. Die "Aktivisten" der "Letzten Generation" bringen vor, bei Blockade-Aktionen stets auf das Einhalten von Rettungsgassen zu achten. Das ist ein ambivalentes Argument: Einerseits nimmt es – zu Recht – Bezug auf den "Vertrauensgrundsatz", wonach man sich in der Regel darauf verlassen kann, dass andere Personen sich rechtstreu verhalten (hier: die vorgeschriebene Rettungsgasse bilden). Andererseits ist die Berufung auf den Vertrauensgrundsatz kaum tragfähig, wenn der Täter selbst sich absichtlich rechtswidrig verhält. 

Damit nähert sich der Fall auf (auch für die Empörten) bedrohliche Weise derselben Grenze, die auch in den "Raser"-Fällen aufgeworfen ist, jedoch von der professionell "herrschenden Meinung" und erst recht von der allgemeinen Presse notorisch übersehen oder ignoriert wird: Wenn der "Raser" den glücklichen Zufall will, den unglücklichen aber nicht ausschließen kann, gilt dieser Erfahrungssatz ja nicht nur bei 130 km/h auf dem Ku’damm, sondern auch bei 50 km/h in der Dreißiger-Zone, und er gilt selbstverständlich nicht nur beim "Erfolg" (Unfall, Tod, Verletzung), sondern auch beim Versuch (heute wieder gut gegangen). Dann ist aber nicht nur jede Blockade ein versuchter Totschlag oder eine versuchte gefährliche Körperverletzung, sondern auch jede Risiko-Fahrt mit 50 km/h durch eine stille Wohnstraße. Diese Konsequenz möchte der rechtstreue und strafgeneigte Bürger allerdings keinesfalls ziehen. Die strafrechtsdogmatischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen für diesen Optimismus sind mir bisher nicht ersichtlich. 

Straßenverkehr

Ein vorsätzlicher (Außen-)Eingriff in den Straßenverkehr liegt bei Errichten von Hindernissen (§ 315b Abs. 1 Nr. 2) – seien sie unbelebter oder "aktivistisch"-menschlicher Art – objektiv zweifellos vor. Ob der subjektive Tatbestand erfüllt ist, ist nach § 315b Abs. 1 und Abs. 4 zu beurteilen: Gefährdet der Täter Leib oder Leben anderer oder fremde Sachen von bedeutendem Wert (bedingt) vorsätzlich (Abs. 1), fahrlässig (Abs. 4) oder nur zufällig (straflos)? Nach dem oben Gesagten scheint mir mindestens die mittlere Variante evident, die erste immerhin nicht fernliegend.  

Antworten, im Ergebnis:

  1. Faszinierend und verwirrend erscheint, dass das allgemeine Strafrechtsinteresse sich hier gegen ein Objekt richtet, das vermeintlich weit entfernt ist von der allgemein als hinnehmbar geltenden Lebenspraxis. Alle Fragen, die sich für die Blockaden von so genannten Aktivisten der "Letzten Generation" stellen, stellen sich allerdings auch im Hinblick auf zahlreiche (!) andere Handlungsweisen, die gemeinhin als sozialadäquat gelten. 
  2. Blockaden von Verkehrswegen sind in der Regel rechtswidrige Nötigungen mittels Gewalt. 
  3. Wenn es infolge von demonstrativen Blockaden von Verkehr (auch: Kommunikation oder sonstigen Einrichtungen der Infrastruktur) nachweislich (!) zu konkreten (!) Gefährdungslagen für Personen (Leib, Leben) oder fremde Sachen von bedeutendem Wert (Grenze: ca. 1.500 €; nicht umfasst: "Vermögen" im Allgemeinen!) kommt, liegt die Annahme eines vorsätzlichen Eingriffs in den Straßenverkehr (§ 315b Abs. 1 oder Abs. 4 StGB) nahe. 
  4. Wenn es infolge von Blockaden (nachweislich!) zu konkreten Schädigungen von Leben oder Leib (Gesundheit) dritter Personen kommt, ist die Annahme entsprechender Vorsatzdelikte nach der herrschenden Strafrechtsdogmatik nicht fernliegend, die Annahme von Fahrlässigkeitstaten (§§ 222, 229 StGB) naheliegend.  
  5. Allgemeine Strafzumessungsvorschläge der Exekutive oder der Pressemedien sind durchweg verfehlt, da sie meist schon die Grundlagen der Rechtsanwendung missachten.  
  6. Alle rechtlichen Konsequenzen gelten nicht meinungs- oder zielspezifisch. Die Fragen und Probleme des bedingten Schädigungsvorsatzes gelten für Klima-Aktivisten wie für Zweite-Reihe-Parker, Verursacher fehlender Rettungsgassen oder Karnevalisten gleichermaßen.
Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 04.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50073 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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