Wie ein Streit um die Trinker- und Mannesehre in Baden mit Meineiden endete und Richter im kaltherzigen Berlin sich in ihrer Beamtenehre gekränkt sahen. Ein Fall aus der alten Bundesrepublik voll grausamer Komik zwischen den Zeilen.
Um die deutsche Witz-, Schimpf- und Beleidigungskultur ist es derzeit nicht gut bestellt. Vor allem scheinen die Maßstäbe für ein ästhetisches Urteil abhanden gekommen zu sein, wann etwas schlimmer als verletzend ist – nämlich einfach nur schlecht.
Jüngst sorgte der Westdeutsche Rundfunk (WDR) mit seinem Lied "Oma ist ne alte Umweltsau" für Furore, und im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stand plötzlich die altersbezogene Grausamkeit und Ungerechtigkeit des von einem Kinderchor vorgetragenen Textes. Doch wie sollte eine leistungsfähige Humorproduktion ohne verbale Grausamkeiten auskommen, nicht zuletzt zwischen den Generationen?
Kein geringerer als Johann Sebastian Bach (1685–1750) hinterließ mit seiner sogenannten Kaffee-Kantate "Schweigt stille, plaudert nicht" (BWV 211) ein Beispiel für das durchaus boshaft, aber nach seinerzeitigen Maßstäben elaboriert komisch vorgetragene Unverständnis zwischen den Generationen zu einem sozial anstößigen Konsumverhalten.
Nichts zu lachen beim WDR
Das Problem der WDR-Redakteure lag womöglich weniger darin, dass ihre Vorstellung von einem musikalischen Witz grausam und ungerecht war – was sollte Humor sonst sein? –, sondern in ihrem Unvermögen, dafür eine geeignete ästhetische Form zu finden. Die Kaffee-Kantate gilt heute als hochkultureller Humor, weil sie mit Hörgewohnheiten bricht. Wer Bach hört, will vom ans Kreuz geschlagenen Jesus und der damit bewirkten Erlösung hören und erwartet keinen Gesang über barocke Koffein-Junkies. Das vom WDR boshaft verfremdete Kinderlied soll ein ästhetisch gelungener Bruch mit dem Gewohnten sein? Beleidigend ist hier höchstens das künstlerische Anspruchsniveau.
Über die Erkenntnis, dass man beim WDR keine gelungenen Witze produziert, darf sich aber niemand überrascht zeigen. Sendungen wie der "Tatort Münster" oder die eingestaubte "Stunksitzung" beweisen hinreichend, dass es hier nichts zu lachen gibt.
Der 12. Januar wurde, zunächst in den USA, als "Festtag der wilden Kerle" ausgerufen - einer der zahlreichen Feiertage, die krampfhaft komisch sein sollen und allein einer medialen Verwertung wegen existieren. Das spricht eher gegen den Versuch einer Humorsachbearbeitung. Doch aufs Stichwort "Kerle" findet sich ein Vorgang aus der Justizgeschichte, der die schwache gemeindeutsche Humorproduktion der vergangenen Monate ein bisschen kompensieren hilft. Und zwar durch ein hübsches Beispiel handfester Beleidigungskultur der alten Bundesrepublik und grausam unfreiwilliger Komik aus Richtermund.
In der Trinkerehre beleidigt
Anlass für ein Straf- und Disziplinarverfahren gab ein heute nur noch schwer nachzuvollziehender Wertekonflikt um die Ehre als Mann und Trinker, als Bahnbeamter und Bundesrichter.
Am 16. Dezember 1957 hatte zu nächtlicher Stunde in einer badischen Gastwirtschaft eine Grundstücksversteigerung stattgefunden, an der zwei Bahnbeamte von eher schlichtem Gemüt offenbar aus Gründen der Gaudi teilnahmen. Nicht nur auf dem Dorfe mochte derlei damals eher der Schadenfreude als einer gelungenen Vermögensverwertung dienen. Zum Bieten fehlte ihnen das Geld.
Der bis 1967 bestehende Bundesdisziplinarhof mit Sitz in Berlin (West) beschreibt die beiden Bahnbeamten später als ältere Männer von Anfang 60, die sich "geistig und körperlich nicht mehr in einem unverbrauchten Zustand" befanden. Wer subtile Grausamkeit schätzt, muss Gerichtsentscheidungen lesen.
Mehr als den Beruf eines verbeamteten "Oberladeschaffners" oder eines "Betriebsaufsehers" hatte die Erwerbsbiografie für sie nicht vorgesehen. Beide besaßen zwar je ein Eigenheim, dessen Wert von den Gerichten jedoch jeweils als dürftig taxiert wurde. Wiederholt teilt der Bundesdisziplinarhof mit, welch wirtschaftlich arme Bahnbeamtenkreaturen vor ihm standen.
Rauferei zwischen Lausbub und "Kerle"
Am Tisch des Oberladeschaffners und des Bahnbetriebsaufsehers hatten sich zwei weitere Trinker eingefunden, zwischen denen man schon seit einer Weile im Streit war. Dieser eskalierte neu, weil der eine sich vom anderen nicht das Bier bezahlen lassen wollte. Diese Ehrenlogik des trinkenden Abendlands dürfte in der leistungsoptimierten Gegenwart etwas verblasst sein.
Wie es kommen musste: Der eine beschimpfte den anderen – man beachte den südwestdeutschen Diminutiv – als "Kerle". Zur Antwort musste sich der Beleidiger als "donderschlächtiger Lausbub" bezeichnen lassen. Man umkreiste die Tische, ballte die Fäuste, riss sich an den Haaren – und fand sich später in einem Strafverfahren wegen Beleidigung und Körperverletzung wieder, abgeurteilt mit Geldstrafen in Höhe von 50 bzw. 100 DM.
Zeugen mit Gedächtnisverlust
Und es wurde noch schlimmer: Obwohl es einer ganzen Kaskade an Richtern – am Amts- und Landgericht, der Stuttgarter Bundesdisziplinarkammer, am Bundesdisziplinarhof – möglich gewesen war, sogar die Sitzordnung der Trinkenden im Detail zu rekonstruieren, hatten die beiden Bahnbeamten in ihrer Funktion als Zeugen wiederholt ausgesagt, sich nicht genau an den Verlauf der handfesten Kneipenkontroverse erinnern zu können.
Weil sie auf diese – nach Ansicht der Richter offenbar abgesprochene – Aussage vereidigt wurden, waren die beiden Bahnbeamten wegen Meineids zu Gefängnisstrafen von fünf bzw. sieben Monaten verurteilt worden. Die Härte der sieben Monate beruhte, kleine Grausamkeit zwischen den Zeilen, darauf, dass der eine 1950 bereits wegen eines Forstdiebstahls zu 10 DM und 1957 wegen Fahrens ohne Führerschein zu 30 DM Geldstrafe verurteilt worden war.
In Stuttgart wollte man gnädig sein
Die Bundesdisziplinarkammer Stuttgart wollte es im disziplinarrechtlichen Nachspiel – die beiden Beamten hatten bis zu ihrer Entlassung auf dem Gnadenweg zehn bzw. 14 Wochen im Gefängnis zugebracht – mit einer Herabstufung ihres Dienstrangs und der Kürzung ihrer Bezüge belassen.
Zwar hätten die beiden Bahnbeamten in der Frage, wer den Wirtshausstreit um die Beschimpfung als "Kerle" beziehungsweise als "donderschlächtiger Lausbub" eskaliert habe, einen Meineid geschworen. Aber es sei doch zuvor viel Bier getrunken worden. Ihre falsche Aussage vor dem Amts- und Landgericht habe keine schwerwiegenden Folgen gehabt. Mit Blick auf den zuvor im Wesentlichen unbeanstandeten Lebenswandel müsse disziplinarisch zwar hart, aber nicht überhart reagiert werden, so die Kammer in Stuttgart.
Mit der Berufung begehrte der Bundesdisziplinaranwalt die Entfernung der beiden Bahnbeamten aus dem Dienst. Der Bundesdisziplinarhof entsprach diesem Antrag. Die Richter in Berlin (West) konnten an der milden Entscheidung ihrer Kollegen in Stuttgart nicht viel Gutes entdecken. Selbst in den moralisch nachvollziehbaren Fällen des § 157 Strafgesetzbuch (StGB) bleibe der Meineid ein mit Zuchthausstrafe bedrohtes Delikt.
Die Berliner Richter waren strenger
Die Richter in Berlin (West) argumentierten mit rhetorisch ganz großem Besteck: "Ein Zeuge, der falsch schwört, gefährdet das ordnungsmäßige Funktionieren der Rechtspflege und damit die Sicherheit des Staates. Das ist jedem Staatsbürger bekannt. Hierüber und über die schweren strafrechtlichen Folgen der Eidesverletzung wird der Zeuge von dem Gericht vorher belehrt. Jedem ist deshalb das Risiko bewußt, das er mit einem Meineid eingeht. Das gilt in besonderem Maße für einen Beamten als Staatsdiener."
Für sich genommen ist es natürlich nicht komisch, auf der Wahrheitspflicht der Zeugen im Strafprozess zu beharren. Selbst wenn es sich um die Aufbereitung einer Wirtshausrauferei handelte, die mit Geldstrafen im Gesamtwert von 150 DM ihren Rechtsfrieden gefunden hatte.
Wir müssen auch ein volkstümlich gespaltenes Verhältnis zur Wahrheit vor Gericht nicht witzig finden, das zwar seine schönsten Blüten in Bayern trieb, eigentlich aber ein universaler Konflikt zwischen urbanem Juristenintellekt und bäuerlichem Sozialkonstruktivismus war. Als spezifisch bayerisches Klischee hielt sich das nur, weil 1961 der CSU-Politiker Friedrich Zimmermann (1925–2012) vom Vorwurf des Meineids freigesprochen wurde. Er war wegen einer "Unterzuckerung" im Zustand verminderter geistiger Leistungsfähigkeit gewesen. Der heilige Unernst seiner Partei, ihn zum Bundesinnenminister zu bestimmen, sollte erst 1982 folgen.
Jetzt sind auch noch die Richter beleidigt
Wahrhaft komisch ist jedoch, dass sich die Bundesrichter durch die Lügen der beiden kleinen Bahnbeamten aus dem Badischen auch selbst in ihrer Ehre verletzt sahen. Denn im Urteil vom 5. Juli 1962 (Az. I D 83-84/61) zeigten die Richter des Bundesdisziplinarhofs offen, welche Gefühle die beiden meineidigen Beamten bei ihnen ausgelöst hatten:
"Es war eine peinliche und dem Ansehen der Beamtenschaft äußerst abträgliche Situation, als das ordentliche Gericht in öffentlicher Verhandlung in zwei Instanzen verkünden musste, die beiden beamteten Zeugen seien unglaubwürdig und nur den Aussagen der nichtbeamteten Zeugen" – unter anderem einer Kellnerin – "sei zu folgen gewesen."
Wer bissige Komik sucht, grausam und unfreiwillig, jedoch diffizil und elaboriert, der wird bei Gericht fündig. WDR-Humorsachbearbeiter: "Schweigt stille!"
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Ohligs.
Zum Tag der 'Wilden Kerle': . In: Legal Tribune Online, 12.01.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39617 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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