Die Hinrichtungen der Brüder LaGrand: Lau­ni­scher Rechts­schutz im Aus­land

von Martin Rath

03.03.2019

Am 24. Februar und 3. März 1999 wurden im Gefängnis von Florence die Brüder Walter und Karl LaGrand hingerichtet. Die Sache der beiden Deutschen beschäftigte u.a. den U.S. Supreme Court und den Internationalen Gerichtshof.

Anfang Januar 1982 unternahmen die Brüder Karl und Walter LaGrand, ausgestattet mit einer Spielzeugpistole, einen Bankraub in der Kleinstadt Marana (Arizona). Der Versuch, den Filialleiter Kenneth Hartsock – einen Mann von 63 Jahren – zu nötigen, ihnen den Tresor zu öffnen, misslang, da ihm nicht die vollständige Zahlenkombination bekannt war. Daraufhin fesselten die Brüder ihn und eine weitere Bankangestellte. Die nun einsetzenden Quälereien überlebte Hartsock nicht. Ihm wurden mit einem Brieföffner mehr als 20, seiner Kollegin sechs Stichwunden zugefügt. Noch am gleichen Tag inhaftiert, wurden die Brüder am 17. Februar 1984 zum Tod verurteilt.

Zum Tatzeitpunkt waren beide Brüder 19 Jahre alt.

Obwohl sie seit dem dritten Lebensjahr in den USA wohnten, waren sie deutsche Staatsangehörige. Weil sie während ihres Strafverfahrens niemand darüber informiert hatte, dass ihnen konsularischer Beistand durch Vertreter der Bundesrepublik zustand, kam es zwischen Deutschland und den USA zu einer diplomatischen, einfach- und völkerrechtlichen Auseinandersetzung, unter anderem um die Pflichten aus Artikel 36 Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen (WÜK) vom 24. April 1963.

Pflicht zur Unterrichtung über konsularischen Beistand

Nach Artikel 36 Abs. 1 lit. b) WÜK sind die Behörden, die den Bürger eines anderen Vertragsstaates in Haft nehmen, dazu verpflichtet, auf Verlangen des inhaftierten Ausländers unverzüglich die konsularische Vertretung seines Herkunftsstaats über die Freiheitsentziehung in Kenntnis zu setzen, seine Nachrichten an das Konsulat weiterzuleiten und – nicht zuletzt – den Inhaftierten darüber zu unterrichten, dass ihm diese Rechte zustehen. Zudem ist den Konsularbeamten nach lit. c) der Vorschrift die persönliche und schriftliche Kommunikation mit dem Inhaftierten zu gestatten.

Dieser Pflicht waren die örtliche Polizei-  sowie die Anklagebehörde in Arizona nicht nachgekommen. Deutsche Bemühungen, eine Prüfung des Rechtsbruchs zu bewirken, womöglich mit dem Ziel, das Leben der Brüder zu verschonen, setzten jedoch erst sehr spät ein – und trafen auf das entschlossene Bedürfnis von Gouverneurin Jane Dee Hull (1935–), die Todesurteile 15 Jahre nach der Tat vollstrecken zu lassen.

Verfahrensverstoß nach amerikanischem Recht?

Nachdem die Brüder von ihrem Recht auf konsularischen Beistand erfahren und sich mit den deutschen Dienststellen in Verbindung gesetzt hatten, waren diese mit einem weitgehend abgeschlossenen Strafverfahren konfrontiert.

Ein Ansatz von deutscher Seite ging nun dahin, die Gouverneurin und die Gnadenbehörde Arizonas darum zu bitten, das Leben der Brüder zu verschonen. Den Verstoß gegen das Recht auf konsularischen Beistand noch strafprozessual einzubringen, erwies sich hingegen als schwierig.

Im Strafverfahren nach dem Recht Arizonas wäre die rechtliche Hürde zu einer Wiederaufnahme zu überwinden gewesen – gegenüber einer Anklagebehörde, die überzeugend darlegen mochte, dass der Beistand kein anderes Urteil bewirkt hätte, und behaupten konnte, das Verfahren habe im Übrigen den allgemeinen Ansprüchen an Fairness genügt, eine schwer zu nehmende Hürde.

Rechtsschutz vor Bundesgerichten war ebenfalls wenig aussichtsreich. Um ein Übergreifen der bundes- in die einzelstaatliche Strafrechtspflege, gewiss auch die Arbeitslast der Gerichte zu begrenzen, müssen Gefangene belegen können, dass sie ihr nach Bundesrecht womöglich triftiges Argument, in ihren Verfahrensrechten verletzt worden zu sein, bereits adäquat vor dem einzelstaatlichen Gericht vorgetragen hatten. Soweit dies unmöglich war, verlangen die Bundesgerichte wiederum den Nachweis, dass dem Gefangenen daraus ein Nachteil erwuchs.

Am 24. Februar 1999 waren aus der Perspektive der Strafvollzugsbehörden des Staates Arizona die rechtlichen Hindernisse soweit beseitigt, dass Karl LaGrand mittels Giftinjektion getötet werden durfte.  Walter LaGrand hatte von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht, in der Gaskammer getötet zu werden. Seine Hinrichtung wurde für den 3. März 1999 geplant. In seiner Sache trat die Bundesrepublik vor dem U.S. Supreme Court sowie, wegen der Verletzung ihrer Rechte durch die USA, vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag auf.

Der Supreme Court lässt sich nicht beirren

Beim Obersten Gerichtshof der USA suchte die Bundesrepublik Deutschland am 3. März 1999 um vorläufigen Rechtsschutz gegen den amerikanischen Bund und die Gouverneurin von Arizona nach, unter anderem mit dem Ziel, die amerikanischen Behörden sollten von einer Hinrichtung Walter LaGrands absehen, bis der Internationale Gerichtshof über die Klage entschieden haben würde, die USA hätten die Rechte Deutschlands aus dem Wiener Übereinkommen verletzt.

Am gleichen Tag hatte der Internationale Gerichtshof eine Eilverfügung erlassen, die im Wesentlichen dem deutschen Standpunkt entsprach.

Der Supreme Court folgte dem Antrag der Bundesrepublik aus einem Bündel von Gründen nicht. Die Vereinigten Staaten seien etwa gegen Klagen seitens des fremden Staats grundsätzlich immun, eine Ausnahme von diesem Grundsatz sei nicht erkennbar. Unmittelbar zuständig sei der Supreme Court nach Artikel III § 2 Absatz 2 der US-Verfassung nur in Fällen, in denen ausländische Botschafter, Konsuln oder Gesandte in Person mit amerikanischen Strafansprüchen konfrontiert würden.

Der Staat Arizona sei zudem durch den 11. Zusatzartikel zur US-Verfassung geschützt, der unter anderem ausländische Regierungen davon abhält, US-Einzelstaaten vor US-Bundesgerichten zu verklagen. Zudem finde sich im Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen kein Argument, das diese innerstaatlichen Vorbehalte des US-Bundesrechts überwinde. Das Büro des U.S. Solicitor General, Seth Waxman (1951–), ließ erklären, dass auch die Eilverfügung des Internationalen Gerichtshofs keine bindende Wirkung habe. Dem schloss sich der Supreme Court mehrheitlich an.
Im Laufe des 3. März 1999 durfte Walter LaGrand sechs Spiegeleier, 16 Streifen Speck, einen großen Kartoffelpuffer, einen halben Liter Ananassorbet, verschiedene Limonaden und eine Tasse Kaffee zu sich nehmen. Danach wurde er vergast.

Ein wertloser (?) Erfolg vor dem Internationalen Gerichtshof

In dem anderen Verfahren, das die Bundesrepublik Deutschland am 2. März 1999 gegen die USA angestrengt hatte, obsiegte sie am 27. Juni 2001 vor dem Internationalen Gerichtshof.

Die USA verstießen nach der Überzeugung dieses Gerichts nicht nur gegen die insoweit eindeutigen Regelungen des Artikels 36 WÜK, weil die US-Behörden die Brüder LaGrand nicht über ihr Recht auf konsularischen Beistand unterrichtet hatten, sondern auch dadurch, dass ihre dahingehenden Einwände im späteren Verfahren nicht mehr weiter berücksichtigt wurden.

Außerdem erklärte der Internationale Gerichtshof erstmals, dass auch seine vorläufigen Maßnahmen für die Prozessparteien bindend seien.

Fragwürdige Fälle zögerlichen konsularischen Beistands

Die Grundsätze des Internationalen Gerichtshofs umzusetzen, fällt der jeweiligen innerstaatlichen Justiz per se nicht leicht. Selbst wenn er mangels Aufklärung durch die Ermittlungsbehörde keinen konsularischen Beistand erhält, leuchtet es kaum ein, z.B. ein Geständnis nicht zu verwerten, solange dem ausländischen Beschuldigten alle übrigen ihm wie jedem anderen zustehenden Rechte effektiv zugänglich waren.

Denn aus dem Normzweck der WÜK, dass Menschen nicht ohne Kenntnis des Staates, dem sie angehören, von fremder Staatsgewalt kujoniert werden sollen, lässt sich nicht ohne Weiteres ein strafprozessuales Individualrecht modellieren.  Ein Beispiel für die Schwierigkeiten, die aus der LaGrand-Entscheidung folgten, bietet der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juli 2010 (Az. 2 BvR 2485/07). Für die USA gibt u. a. Philip V. Tisne einen Überblick zur LaGrand- und anschließenden Rechtsprechung.

Zusätzlich muss beunruhigen, wie willkürlich das Interesse eines Staates ausfallen kann, seinen im Ausland inhaftierten Staatsangehörigen beizustehen. Gerade Deutschland gibt ein beeindruckendes Beispiel: Das Spektrum reicht hier von den "Liebesgabenpaketen" und bis in die späten 1980er Jahre von allen Bundesregierungen großherzig übernommenen Anwaltskosten für im Ausland inhaftierte NS-Verbrecher bis zu den Erfahrungen, die Murat Kurnaz (1982–) machen musste.
Angesichts der zweifelhaften Rolle der Bundesregierung, die auch im Fall LaGrand erst spät auf den Plan trat, fragt sich, warum eine entschiedene Haltung der so oft gerühmten "Zivilgesellschaft" weitgehend ausblieb.

Deutsche in ausländischen Gefängnissen – kein Anliegen der Zivilgesellschaft?

Rund 50 Millionen Deutsche reisen jedes Jahr zum Urlaub ins Ausland. Geschäftsreisende und Expats, die z.B. in der Türkei, der Volksrepublik China oder den Philippinen in die Gewalt sehr zweifelhaft arbeitender Polizeibehörden geraten können, sind noch hinzuzurechnen. Merkwürdig, dass nicht längst beim Deutschen Anwaltverein oder der Bundesrechtsanwaltskammer ein aus Spenden jährlich mit 50 Millionen Euro gefülltes Anderkonto geführt wird – 50 Cent oder ein Euro je Kopf und Auslandsreise, um bei Bedarf deutsche Konsuln zum Jagen zu tragen oder ihnen zusätzliches Handgeld mitgeben zu können.

Und dass zwar fast jedes Jahr beispielsweise das materielle (Sexual-)Strafrecht ergänzt wird, manchmal bis an die Grenze zur dogmatischen Idiotie, aber ein Tatbestand, der ausdrücklich Amtspflichtwidrigkeiten pönalisiert, wie sie im Fall LaGrand oder Kurnaz beklagt wurden, noch nicht einmal öffentlich eingefordert wird, lässt sich angesichts von Millionen deutscher Auslandsaufenthalte als eigenartiger Beleg fehlenden Gemeinsinns und Eigeninteresses sehen.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Die Hinrichtungen der Brüder LaGrand: . In: Legal Tribune Online, 03.03.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34165 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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