Im 19. Jahrhundert wurde das Down-Syndrom erstmals im Sinn der modernen Medizin beschrieben, aber erst in den 1960er Jahren wurden seine Ursachen konsentiert geklärt. Unsicherheit bestimmte das Verhältnis von Natur- und Rechtswissenschaft.
Dass seit dem Jahr 2006 der 21. Tag des dritten Monats als sogenannter "Welt-Down-Syndrom-Tag" im Kalender steht, der seit dem Jahr 2012 der Weltöffentlichkeit auch von den Vereinten Nationen ans Herz gelegt wird, hat seinen Grund in einer zahlensymbolischen Anspielung: Bedingt wird die heute meist als Down-Syndrom, früher als Mongolismus bezeichnete Mischung aus Merkmalen geistiger Behinderungen und körperlicher Fehlbildungen durch das dreifache Vorhandensein des 21. Chromosoms.
Menschen mit Down-Syndrom werden in Europa und in den USA, bedingt durch eineugenisches Nutzenkalkül, immer seltener. In den USA ging mit der Verfügbarkeit von Pränataldiagnostik und der Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs die Zahl neugeborener Kinder mit Trisomie 21 beispielsweise um 30 Prozent zurück. Für den Zeitraum 2011 bis 2015 stellten Gert de Graaf, Frank Buckley und Brian G. Skotko in Europa einen Rückgang um 54 Prozent unter den Lebendgeburten fest (European Journal of Human Genetics 2021, S. 402–410).
Die ethischen, ökonomischen und eugenischen Kalküle, die zu dieser Entwicklung geführt haben, sollen hier aber nicht behandelt werden. Gegenstand der nachfolgenden Darstellung wird der Erkenntnisfortschritt sein, der sich hinter der Zahlensymbolik vom 21. Tag des dritten Monats verbirgt.
Holocaust-Überlebende bekommen ein Kind mit Down-Syndrom
Durch Urteil vom 28. Januar 1959 wies der Bundesgerichtshof (BGH) die Revision des elfjährigen Mosche Szaja gegen ein Urteil des Oberlandesgerichts München vom 11. Juli 1958 zurück, der Leistungen nach dem Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (Bundesentschädigungsgesetz – BEG) begehrt hatte (Az. IV ZR 227/58).
Das Kind war im Jahr 1947 als Sohn jüdischer Eltern zur Welt gekommen und litt – in den Worten der Zeit – "an Mongolismus mittleren Grades". Diesen Gesundheitsschaden führten die Eltern auf eine "Keimschädigung" zurück, die seine Mutter durch die Leiden im Konzentrationslager erlitten habe. Der von seinem Vater vertretene Junge scheiterte mit dem Entschädigungsbegehren in allen Instanzen, und zwar aus rechtlichen Gründen.
§ 1 Abs. 1 BEG definierte: "Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ist, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat (Verfolgter)."
Obwohl der deutsche Staat den Völkermord an den Juden in seinem Herrschaftsbereich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sogenannten Rasse organisiert hatte, stellte der Bundesgesetzgeber hier auf das individuelle Verfolgungsschicksal ab – nach Ansicht der bayerischen Behörden und der Gerichte war für das jüdische Kind schon deshalb kein Raum für Entschädigungsansprüche, weil die Verfolgung seiner Eltern am 8. Mai 1945 beendet worden war.
Eine weniger enge Auffassung vertrat allein Otto Küster (1907–1989) – ein eigensinniger Rechtsanwalt aus Stuttgart, dessen Biografie die deutsche Rechtswissenschaft bisher leider kaum erschlossen hat – mit Blick auf § 1 Abs. 2 Nr. 3 BEG. Diese Norm stellte seit 1956 mit dem unmittelbar Verfolgten einen Menschen gleich, der verfolgt worden war, "weil er einem Verfolgten nahegestanden hat".
Der BGH betonte, dass der Gesetzgeber hiermit aber keine Ausweitung des Anspruchs etwa auf Familienangehörige der unmittelbar vom NS-Terror getroffenen Menschen bezweckt habe, solange nicht auch auf sie "Verfolgungsmaßnahmen … gerichtet" gewesen waren. Das konnte nach Auffassung von Behörden und Richtern für das zweieinhalb Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft mit Trisomie 21 geborene Kind nicht zutreffen.
Ungesicherte Ätiologie und eng gefasstes Entschädigungsrecht
Heute ist das Wissen um die Chromosomen ein Teil des Curriculums für die Klassen 9 und 10. Je nach Unterrichtsgestaltung erfahren die Jugendlichen auch von der Trisomie 21. Vor dem Hintergrund dieser biologischen Grundbildung mag es verwundern, dass die Behörden und der BGH das Begehren seinerzeit nicht auch aus Kausalitätserwägungen abwiesen. Tatsächlich wussten es die Juristen seinerzeit noch nicht besser.
Denn die Ätiologie, also die Lehre zu den Entstehensbedingungen des heute meist nach dem britischen Mediziner John Langdon-Down (1828–1896) bezeichneten Syndroms wurde erst 1959 – just in dem Jahr, in dem der BGH zur Sache des jüdischen Kindes entschied – einigermaßen konsentiert von Medizinern geklärt.
Nach der Logik der seinerzeit als wissenschaftlich anerkannten Rassenlehre kam damit die ätiologische Erklärung in Betracht, dass ein Elternteil, insbesondere die Mutter, durch einen Umwelteinfluss – neben Tuberkulose wurde unter anderem an gescheiterte Schwangerschaftsabbrüche mit chemischen Substanzen gedacht – im Erbgut geschädigt sei, sodass das Kind in der äußeren Erscheinungsform der "mongolischen Rasse" geboren werde. Verstanden wurde das teils als ein "Zurückfallen" des behinderten Kindes auf die Stufe eines "primitiveren" Menschentyps.
Der akademische Rassismus in seiner Epoche war dabei eine komplexe Angelegenheit. So war Langdon-Down auch ein Menschenfreund. Unter seiner Verantwortung endete der offene Terror der Disziplinierungsbemühungen, der gegen Patienten in psychiatrischen Einrichtungen bis dahin vorgeherrscht hatte.
Ein Beispiel für gelehrte Diskurse, die sich durch ihre Binnendifferenziertheit selbst von ihrer Rationalität überzeugten, gaben etwa deutsche Rassenhygieniker, die gegen die genannte Gleichsetzung von "mongolischer Rasse" und "mongoloiden Idioten" opponierten, weil sie unter den Menschen im fernen Osten zu viele Individuen mit "höherwertigen Rasseneigenschaften" entdeckt hatten.
Naturwissenschaftliche Unsicherheit einerseits, obskures Geschichtsdenken andererseits
Erst seit den 1930er Jahren fand die – letztlich zielführende – Hypothese in der akademischen Welt Gehör, es könnte sich zu untersuchen lohnen, ob beim sogenannten Mongolismus vielleicht eine chromosomale Abweichung ursächlich sei. Zwar wurde noch bei einer Tagung der amerikanischen "National Association for Retarded Children" im Oktober 1959 der Ansatz von "Mongolismus als Rückfall in einen primitiven Urtyp" des Menschen gewürdigt, wissenschaftliche Publikationen aus dem gleichen Jahr wiesen jedoch auf das zusätzliche Chromosom 21 bei den betroffenen Personen hin – auch wenn noch fraglich blieb, wie es zustande kam.
Aus der Perspektive der Entschädigungsbehörden, des Gesetzgebers und der Gerichte war es damit jedenfalls entscheidungsökonomisch von Vorteil, dass das Bundesentschädigungsgesetz gar keine denkbaren Erbgutschäden der in den Konzentrationslagern misshandelten Menschen berücksichtigt sehen wollte.
Die Unsicherheit, was die naturwissenschaftlich erfassbaren Ursachen der Trisomie 21 betraf, wirkte auch in späteren Fällen nach. Soweit sich Erwägungen zur ätiologischen Kausalität finden, gingen sie mitunter in obskure Vorstellungen zur jüngeren deutschen Zeitgeschichte über. Für einen im Jahr 1938 mit Down-Syndrom zur Welt gekommenen Kläger traf etwa das Oberlandesgericht Düsseldorf 1968 die merkwürdige Feststellung, zum Empfängniszeitraum habe es "für Juden noch keine unmittelbare Existenzgefährdung gegeben" – was der BGH schonend dahin auslegte, es habe ein möglicherweise die Krankheit auslösendes Trauma wie "in Fällen längerer Konzentrationslagerhaft der Mutter" gefehlt.
Nicht berücksichtigen wollten die Düsseldorfer Richter – vom BGH unbeanstandet –, dass die Eltern angesichts der mörderischen Zeitumstände "nicht auf den Gedanken gekommen" waren, "ihn in einem Institut für Mongolismus erziehen zu lassen", weil dies "offensichtlich nichts mit der Verfolgung zu tun" gehabt habe (BGH, Beschl. v. 21.12.1971, Az. IX ZB 152/69).
BGH erwägt, dass Trisomie 21 erblich sein könnte
Auch in Entscheidungen außerhalb des Entschädigungsrechts findet sich die Unsicherheit, was die Entstehungsbedingungen der Trisomie 21 betrifft. In einem bemerkenswerten Urteil vom 16. November 1962 hob etwa der 4. Strafsenat des BGH ein Urteil des Landgerichts Essen auf (Az. 4 StR 82/62): Allzu großzügig waren die Essener Richter über den Antrag des Angeklagten hinweggegangen, der angestrebt hatte, in einer psychiatrischen Anstalt auf seine Zurechnungsfähigkeit hin untersucht zu werden – begründet unter anderem damit, dass einer seiner Vettern an "Schwachsinn" und ein Neffe an "Mongolismus" leide.
Der BGH hielt hier eine erbliche Vorbelastung für möglich und tadelte, dass sich das Landgericht zu sehr von seiner Kommunikation mit dem Angeklagten in der Hauptverhandlung habe leiten lassen – und verwies die Sache ans Landgericht Bochum zurück.
Während die Interessenlage des Staates im Fall des Entschädigungsrechts die Neugier an naturwissenschaftlichen Befunden eher lähmte, konnte sie durch das individuelle Drama des Strafprozesses geweckt werden.Ob diesbei naturwissenschaftlich-medizinischem Aufklärungsbedarf heute immer noch funktioniert – und warum das je nach Prozess- und Anspruchsart womöglich nicht der Fall ist – bleibt eine über den 21. Tag im dritten Monat und die Trisomie 21 hinausgehende Frage.
Welt-Down-Syndrom-Tag 2021: . In: Legal Tribune Online, 21.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44547 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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