Kaum war der Kaiser geflohen, diskutierte die juristische Fachpresse bereits die rechtliche Problematik. Und auch die Flucht eines Liebknecht/Luxemburg-Mordgehilfen wurde fast "live" besprochen. Ein Blick zurück ins aufregende Jahr 1919.
Der britische Premierminister David Lloyd George (1863–1945) hatte seinen Sieg bei den Unterhauswahlen vom 14. Dezember 1918 nicht zuletzt der Forderung zu verdanken, den deutschen Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) vor ein alliiertes Gericht zu bringen – der populäre Slogan hierzu: "Hang the Kaiser!"
Neben der Pflicht, den alliierten Behörden Personen auszuliefern, denen vorgeworfen wurde "gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges" verstoßen zu haben, regelte der vom Kriegsgegner Deutschland am 28. Juli 1919 unterzeichnete Versailler Vertrag (VV) ausdrücklich auch, dass ein Tribunal über den deutschen Ex-Kaiser richten sollte – Artikel 227–230 VV.
Lange vor der Unterzeichnung des Friedensvertrags, keine sechs Wochen nachdem der preußische König und vormalige Kaiser im November 1918 in die Niederlande abgereist war, nahm sich bereits ein gewitzter Professor in der prominenten "Deutschen Juristen-Zeitung" (1919, Spalten 41–47) des Themas an.
Im Original las sich das so: "W. II. war vor seinem Regierungsantritt preußischer Offizier. Mit der Thronbesteigung ging diese durch Ernennung unter und machte Platz dem unmittelbar aus der Verfassung fließenden Oberbefehl über das preußische Heer, die gesamte Landmacht des Reichs, die Kriegsmarine […]. Der Offizier schlummerte unter dem Höchstbefehlshaber nicht etwa weiter, um im Falle der Thronentsagung wieder zu erwachen. Folglich bedeutet die Thronentsagung zugleich Ausscheidung aus Heer und Marine. […]
W. II. war also beim Überschreiten der niederländischen Grenze weder Monarch noch Offizier. Daraus folgt: 1. Er war und ist für seine Person den Niederlanden gegenüber nicht exterritorial; 2. er gehörte beim Überschreiten der Grenze nicht mehr zu den ‚Truppen der kriegführenden Heere‘ (Art. 11 des V. Haager Abkommens vom 18.10.1907), konnte und kann daher nicht kriegsrechtlich interniert werden; 3. er beging durch die Flucht ins Ausland keine Fahnenflucht."
Gewitzter Professor des Öffentlichen Rechts
Nicht ohne Witz – das etwas despektierliche "W.II." für den vormaligen Fürsten steht im Original – argumentierte hier der Kieler Professor Walter Jellinek (1885–1955), dass die Niederlande sich unter anderem deshalb an einer Auslieferung Wilhelms II. an oder auch seine Ausweisung in Richtung der alliierten Mächte gehindert sehen müssten, weil die niederländische der deutschen Rechtslehre darin nahestehe, dass Staatsunrecht nicht zugleich Herrscherunrecht sei, man dem früheren Kaiser also nicht ohne Weiteres etwaige Kriegsverbrechen zurechnen könne.
Deutschland selbst würde sich, so Jellinek, einer Überstellung Wilhelms II., sollte man seiner habhaft werden, durch das in § 9 Strafgesetzbuch (StGB) a.F. normierte Verbot gehindert sehen, Deutsche an das Ausland auszuliefern.
Der in seiner Verwaltungsrechtslehre liberale Jellinek – Sohn des berühmten "Drei-Elemente"- Staatsrechtslehrers Georg (1851–1911) und der Feministin Camilla Jellinek (1860–1940) – formulierte damit bereits zum Jahreswechsel 1918/19 eine Position, die Niederländer und Deutsche später zur (völker-) strafrechtlichen Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg einnehmen sollten: Die niederländische Regierung verweigerte die Auslieferung Wilhelms II. aus Argumenten, die Jellineks recht ähnlich waren. Und wegen Kriegsverbrechen kamen ausgewählte deutsche Offiziere aufgrund des Auslieferungsverbots, § 9 StGB a.F., nicht vor alliierte Tribunale. Gegen sie verhandelte stattdessen das Reichsgericht in Leipzig, das zu diesem Zweck sondergesetzlich erst- und letztinstanzlich zuständig wurde.
Der Vorgang hat eine etwas abgründige Seite: Die Auslieferungsfrage hatte 1919 mindestens so heftige Empörung in Deutschland ausgelöst wie der berühmte "Kriegsschuld-Artikel" (Art. 231 VV), der erst Monate später die formale Rechtsgrundlage für die alliierten Reparationsforderungen gegen Deutschland legen sollte. Jellinek, der zur Entschärfung der Auslieferungsanliegen maßgeblich beigetragen hatte, wurde von eben jenen Kräften, die am heftigsten gegen die Auslieferung und Kriegsschuld-Feststellung polemisiert hatten, keine 16 Jahre später wegen der jüdischen Herkunft seiner Mutter aus dem Staatsdienst beseitigt – ein Bruder starb an den Folgen von Gestapo-Misshandlungen, seine Schwester überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt.
Fußnoten zum Mord an Luxemburg und Liebknecht
Das niederländische Ausländer- und Auslieferungsrecht sollte wenige Monate später in Deutschland noch einmal von erheblicher innenpolitischer Bedeutung werden – in einem ausgewachsenen Justiz- und Geheimdienstskandal.
In einem kurzen Beitrag zur "Auslieferung oder Ausweisung des Oberleutnants Vogel" (Deutsche Juristen-Zeitung 1919, Spalten 595–596) verneinte der Berliner Kammergerichtsrat Hans Delius eine Pflicht der Niederlande, den vormaligen Freikorps-Soldaten Kurt Vogel (1889–1967) an Deutschland auszuliefern.
Am 14. Mai 1919 war dieser Oberleutnant a.D. Vogel vom Militärgericht der Garde-Kavellerie-Schützen-Division unter anderem wegen "Beseiteschaffung einer Leiche" und "vorsätzlicher unrichtiger Abstattung einer dienstlichen Meldung" zu zwei Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt worden.
Bei der Leiche handelte es sich um jene der Ex-SPD-Politikerin Rosa Luxemburg (1871–1919), die wohl von einem Freikorps-Kameraden Vogels am 15. Januar 1919 ermordet und von ihm im Berliner Landwehrkanal beseitigt worden war.
Die Untersuchung zur Tötung von Luxemburg und Karl Liebknecht (1871–1919) unter Kriegsgerichtsrat Paul Jorns (1871–1942) blieb hoch umstritten und wurde 1928 nochmals Gegenstand eines Beleidigungsprozesses, nachdem in der Presse Zweifel an dem zum Reichsanwalt aufgestiegenen Jorns laut geworden waren.
Dem Oberleutnant a.D. Vogel war derweil am 17. Mai 1919 die Flucht gelungen, nachdem im Gefängnis Moabit ein "Leutnant Lindemann" eine vermeintlich von Jorns unterzeichnete, mit dem Stempel der Garde-Kavellerie-Schützen-Division versehene Urkunde vorgelegt hatte, mit der seine Überführung ins Strafgefängnis Tegel durch den Überbringer des Papiers angeordnet wurde. Beim "Leutnant Lindemann", der den Mordhelfer Vogel mit falschem Pass und Bargeld ausgestattet in die Freiheit entließ, handelte es sich um den späteren Abwehr-Chef Wilhelm Canaris (1887–1945), der als Beisitzer des Militärgerichtsverfahrens bereits daran mitgewirkt hatte, die Verantwortlichen für die Tötung von Luxemburg und Liebknecht vor der Öffentlichkeit zu verbergen.
Juristische Fachzeitschrift: Fast ein zeithistorisches Revolverblatt
Kammergerichtsrat Delius, dem Details der Vogel-Flucht bekannt gewesen sein mögen oder auch nicht, deklinierte die niederländische Rechtslage wie folgt durch: Wegen reiner Fahnenflucht lieferten die Niederlande niemanden aus. Wegen anderer Delikte eines Soldaten nur dann, wenn die nicht als militärische Straftat verfolgt gesondert verfolgt werden könne – wobei das militärische Delikt allerdings völlig außer Betracht bleiben müsse.
Im Falle Vogels sei diese Trennung von militärischer und ziviler Straftat aber ohnehin nicht zielführend, da die Niederländer die deutsche Strafverfolgung in der Sache Luxemburg/Liebknecht als – nicht auslieferungsfähiges – politisches Delikt betrachten müssten. Vogel sei damit auch anderenorts im Ausland vor deutscher Strafverfolgung sicher.
Im Rückblick, aus 100 Jahren Distanz, nimmt sich damit die "Deutsche Juristen-Zeitung" – sie wurde übrigens herausgegeben von jenem Otto Liebmann (1865–1942), dessen erfolgreiche Taschen-, nunmehr "Kurz-Kommentare" 1933 vom Beck-Verlag übernommen wurden – beinah wie ein tagesaktuelles Medium aus: Keine sechs Wochen, nachdem der Kaiser in die Niederlande geflohen war, stand die Expertise für eine Abwehr seiner Auslieferung zur öffentlichen Diskussion. Wenige Wochen nach der Flucht des Luxemburg/Liebknecht-Mordgesellen Vogel publizierte ein prominenter Kammergerichtsrat zu seinen Optionen, deutscher Strafverfolgung zu entkommen. Gemessen daran sieht heute manches Online-Medium zu juristischen Fragen geradezu brav aus.
Anmerkungen: (1) Das Jellinek-Zitat wurde formal und orthografisch angepasst. (2) In der Canaris-Literatur wird die Vogel-Flucht teilweise auf den November 1919 datiert, was vermutlich auf einer Verwechslung des Fluchthelfer-Alibis beruht (Canaris’ Verlobung/Hochzeit).
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Exilgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 06.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33033 (abgerufen am: 24.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag