Am 26.11.1961 stellte die Welt am Sonntag den Zusammenhang zwischen missgebildeten Kindern und Contergan her, der bis dahin nur in der Luft lag. Zeitgleich wurde das Mittel vom Markt genommen – der Beginn einer langen Rechtsgeschichte.
Als die Firma Grünenthal aus Stolberg bei Aachen das beliebte Schlafmittel "Contergan" Ende November 1961 vom Markt nahm, war es in Bayern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz noch frei in Apotheken zu erwerbe. Die Gesundheitsbehörden unter anderem in Nordrhein-Westfalen und Hessen hatten es seit dem 1. August 1961 immerhin unter Rezeptpflicht gestellt.
Den Anlass für diese Beschränkung gab nicht etwa die schädliche Auswirkung von Thalidomid-Präparaten auf den Embryo, die dann ab dem 26. November 1961 als "Contergan-Skandal" bekannt wurde. Vielmehr waren einigen Ärzten Zusammenhänge zwischen den körperlichen Beschwerden und dem regelmäßigen Konsum dieses Wirkstoffs aufgefallen, der nicht nur als Schlafmittel, sondern auch als Mittel gegen die morgendliche Übelkeit von Schwangeren und zur Unterdrückung von allerlei körperlich-seelischen Unruhe-Zuständen verkauft wurde.
Schwache Aufsicht und selbstherrliche Ärzteschaft
Zwar war am 1. August 1961 das Arzneimittelgesetz in Kraft getreten, doch ließ es der pharmazeutischen Industrie weitreichende Freiheiten bei neuen Medikamenten - bei bereits im Handel befindlichen ohnehin. Mit den schier unglaublich schwachen gesetzlichen Regularien ging staatliche Fahrlässigkeit einher: Das Bundesgesundheitsamt beschäftigte gerade einmal vier Apotheker, deren Aufgabe sich im Wesentlichen darin erschöpfte, die Anmeldung neuer Medikamente formal zu prüfen und abzuheften.
Den Gesundheitsbehörden der Länder durfte das Bundesgesundheitsamt immerhin mögliche Bedenken mitteilen. Ob diese daraus die richtigen Schlüsse zogen, stand auf einem anderen Blatt.
Wohl aus der Tradition ihrer staatlich besonders anerkannten Medizinalberufe pflegten Ärzte und Apotheker in den 1950er Jahren ein von Selbstherrlichkeit kaum zu unterscheidendes Selbstbewusstsein. Gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 16. Januar 1959 (Az. VI ZR 179/57) beispielsweise, das der ärztlichen Schadensersatzpflicht den Weg ebnete, wenn eine hinreichende Patientenaufklärung unterlassen worden war, opponierten nicht wenige Mediziner mit der Haltung, der Patient sei vielfach ohnehin zu dumm.
Rechtsfälle illustrieren gesellschaftlichen Wandel
Im Strafprozess, den das Landgericht Aachen aufgrund der Anklageschrift vom 13. März 1967 – also mehr als fünf Jahre nach Bekanntwerden des Skandals - gegen verantwortliche Mitarbeiter und Eigentümer der Firma Grünenthal unter anderem wegen Körperverletzung zuließ, erklärte ein Vater, wie ihm das Erscheinungsbild seiner Tochter – Finger an den Schultern, Unterschenkel am Rumpf des Körpers – auf der Entbindungsstation nahegebracht wurde: "Wir hätten es ja in den Eimer fallen lassen können. Nur waren zu viele herum. – Vielleicht überlebt es die ersten Tage nicht, vielleicht haben Sie Glück."
Statt moralischer Empörung war seinerzeit durchaus mit erklärtem Einverständnis zu rechnen, was Tod, Tötung oder Absonderung behinderter Kinder betraf. Das Kind, ohne Arme geboren, ist aufgeweckt und kommt in der Volksschule gut mit (damals ein Kinderpferch ohne Inklusionspädagogik). Dem Vater, im Staatsdienst beschäftigt, erklärt seine fürsorgliche Behörde, ein Drittel der enormen OP-Kosten sei ihm zuzumuten, der Großvater könne ja etwas beitragen. Von dem heißt es: "Aus dem Elend wird doch nichts Rechtes. Das Kind gehört in eine Anstalt."
Der Contergan-Prozess, für den das Landgericht Aachen 1967/68 eigens eine Halle anmieten und umbauen lässt, ist in aller Munde. Nicht nur, dass für Richter und Schöffen Ersatzleute bestellt sind, man fährt sie, so wie Queen Elizabeth und Prince Charles bei Staatsbesuchen, sicherheitshalber auch stets getrennt an. Die Verhandlungen geraten zu einem der größten Strafverfahren der Bundesrepublik. Es wird am 283. Verhandlungstag, am 18. Dezember 1970, nach § 153 Strafprozessordnung (StPO) eingestellt – Absehen von Verfolgung bei Geringfügigkeit. Erst am 10. April 1970 kommt ein Vergleich zustande, aufgrund dessen ein "Hilfswerk für behinderte Kinder" mit 100 Millionen Mark ausgestattet wird. Das hierzu erlassene Bundesgesetz wird 1976 Gegenstand einer der nicht eben wenigen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen in Contergan-Angelegenheiten.
Martin Rath, Contergan-Skandal: . In: Legal Tribune Online, 27.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21269 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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