Oft werden die Anfänge der sogenannten Konfliktverteidigung im Strafprozess auf die 1970er Jahre datiert, also die Hochzeit des Linksterrorismus in Deutschland. Die Geschichte streitbarer Anwälte reicht jedoch deutlich weiter zurück.
Von der Festnahme dieser schwäbischen Pfarrerstochter in einem Hamburger Modegeschäft, am 7. Juni 1972, wird noch Jahrzehnte später gerne erzählt – vermutlich, weil sie so schön ihre mutmaßliche Doppelmoral illustriert: Dass Gudrun Ensslin (1940–1977), die steckbrieflich gesuchte Angehörige der "Roten Armee Fraktion", also einer kriminellen, dann terroristischen Vereinigung, deren krude Weltanschauung nicht zuletzt vom Kampf gegen die westliche, kapitalistische Konsumgesellschaft geprägt war, ausgerechnet in einer edlen Boutique am Jungfernstieg der Polizei in die Hände fiel, hatte durchaus ein "Geschmäckle".
Für Juristinnen und Juristen weitaus reizvoller als diese Szene zwischen Gucci- und Prada-Utensilien selbst sollte allerdings ein fast unmittelbar anschließender Prozess werden. Denn acht Tage nach der Inhaftierung Ensslins konnte die Polizei auch ihre RAF-Kollegin Ulrike Meinhof (1934–1976) festnehmen. Bei ihr wurde das später sogenannte "Ensslin-Kassiber" gefunden, ein Schriftstück mit Hinweisen und Aufträgen an die noch in Freiheit befindlichen Angehörigen dieser kriminellen Vereinigung, das augenscheinlich nach dem 7. Juni 1972 entstanden war.
Aufgrund der eng überwachten Haftbedingungen, denen Ensslin unterworfen war, zogen die Ermittlungsbehörden den Schluss, dass allein ihr Strafverteidiger in Betracht komme, das Schriftstück transferiert zu haben. Der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof (BGH) schloss ihn daraufhin auf Antrag des Generalbundesanwalts von der Verteidigung aus, weil er dringend verdächtig sei, als Mittäter an Straftaten beteiligt zu sein, die seiner Mandantin zur Last gelegt wurden.
Nachdem der BGH der Beschwerde von Mandantin und Verteidiger nicht abhalf, erhob letzterer Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht entschied mit Beschluss vom 14. Februar 1973 (Az. 2 BvR 667/72), dass eine Rechtsgrundlage für den Ausschluss des Anwalts von der Strafverteidigung fehlte. Ein Beweis dafür, dass er das Kassiber vermittelt hatte, wurde nicht erbracht.
Sieben Jahre nach diesen Vorgängen gehörte dieser Jurist, Otto Schily (1932–), zu den Gründern der "Grünen", nach dem Wechsel zur SPD diente er 1998 bis 2005 als Bundesinnenminister.
Was als "Konfliktverteidigung" gilt, bleibt nebulös
Die Anfänge einer sogenannten "Konfliktverteidigung" werden oft auf diese 1970er Jahre datiert. Angesichts derart haarsträubender Vorgänge, die aber wesentlich zur verfassungsjuristischen Klärung des anwaltlichen Berufsrechts beitrugen, ist das auch kein Wunder.
Bei Schily blieb es beim Verdacht, er habe sich auf kriminelle Weise mit seiner Mandantin gemein gemacht. In einer ganzen Anzahl weiterer Fälle traf der Verdacht zu. Das prominenteste Beispiel gab der damals mit Schily befreundete Anwaltskollege Horst Mahler (1936–), der zu den Gründungsmitgliedern der RAF zählte.
Das rhetorisch und performativ oft aggressive Auftreten von politisch-ideologisch motivierten Strafverteidigern dieser Generation trug dazu bei, den Begriff der "Konfliktverteidigung" pejorativ aufzuladen. Es hatte damit den Anschein, dass zunächst links-, dann rechtsextreme Juristen sich an den geschriebenen wie ungeschriebenen, sicher geglaubten Spielregeln des Strafprozesses zu schaffen machten – gefolgt von einer Generation von Verteidigern, die oft in Steuer- und Wirtschaftsstrafsachen von den Verfahrensrechten mehr Gebrauch machten, als dies jahrzehntelang Brauch gewesen war, was eine schier endlose Diskussion um die Effizienz der Strafrechtspflege samt gerichtlicher Einhegungsversuche nach sich zog.
"Es gibt keine Pflicht des Bürgers", stellte Thomas Fischer das hier an sich Selbstverständliche in seiner Antwort auf die Frage fest, ob Konfliktverteidigung legitim sei, "an der staatlichen Verwirklichung von Gerechtigkeit gegen ihn selbst 'konstruktiv' mitzuwirken, und kein Recht des Staates, einen Mangel an selbstsanktionierender Konstruktivität zu bestrafen."
Ob und wie weit jedoch vom Strafverteidiger konstruktives Mitwirken verlangt werden kann, war historisch strittig – vielleicht aber doch deutlich weniger, als man glauben möchte.
Kampf gegen herzensträge oder faule Revisionsrichter
Schon in der tiefen sozialen und kulturellen Krise der 1920er Jahre lassen sich Extrembeispiele finden, was die Erwartungen an eine konstruktive Tätigkeit des Strafverteidigers betrifft, die weit über die vermeintlichen Anfänge einer "Konfliktverteidigung" in den 1970er Jahren hinausgehen.
An Ekel grenzte etwa die Abneigung des Rechtsanwalts Walther Rode (1876–1934) gegen die Strafjustiz Österreichs. Seinem Werk "Justiz" stellte Rode 1929 als Motiv unter anderem voran: "Es ist mir nicht gegeben, den täglichen Justizbetrieb als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Nicht nur das bösartige oder das dumme Gericht, das Gericht an sich empört mich."
Als bösartig hatte Rode nicht nur die im Ersten Weltkrieg terroristische Militärjustiz Österreich-Ungarns erlebt. Auch die "zivile" Strafjustiz in Friedenszeiten empörte Rode, die ihn zu einer krassen Form der "Konfliktverteidigung" antrieb.
Am 7. März 1925 hatte der Oberste Gerichtshof in Wien als Revisionsinstanz das Strafurteil gegen eine 66 Jahre alte Angeklagte, Franziska Pruschka, bestätigt. Sie war wegen Mordes zu 15 Jahren schwerem Kerker verurteilt worden – seinerzeit kaum weniger* als ein Todesurteil durch schlechte Haftbedingungen. Zwei Tage später erschien in der Tageszeitung "Der Morgen" ein Artikel Rodes, in dem er dem Gericht einen "Justizmord" vorwarf, begangen durch die notorische "Wortklauberei" der Revisionsinstanz. Der Richter am Kassationshof an sich sei "eine Strafe Gottes", "verhängt über ein Volk, das unfähig ist, sich aus Beamtenhörigkeit zu befreien".
Rode wurde daraufhin wegen Beleidigung angeklagt, zuständig war hier aber ein Geschworenengericht, in dem allein Laienrichter über die Schuldfrage zu befinden hatten. Ihnen trug er ausführlich – über rund 50 Druckseiten – seine Anklage gegen den Obersten Gerichtshof vor – zu eklatanten Ermittlungs- und Verfahrensmängeln im Fall Pruschka und darüber hinaus. Seine letzten Worte an die Geschworenen: "Meine Herren! Ich weiß nicht, was Sie über mich und meinen Kampf denken. Aber ich sage Ihnen, wie immer Ihr Urteil ausfällt, ich werde meinen vieljährigen Kampf gegen den Kassationshof nicht aufgeben, bis er zur Grube fährt, fluchbeladen."
Die Geschworenen sprachen Rode vom Vorwurf der Beleidigung des höchsten österreichischen Strafgerichts mit zehn gegen zwei Stimmen frei.
Bitte um Protokollierung als "Konfliktverteidigung" gelesen
Während in Österreich eine starke Mitwirkung von Laien an der Strafjustiz bis heute besteht, wurden die echten Geschworenengerichte in Deutschland 1924 abgeschafft – ob aus sachlichen Gründen, wegen der häufigen Rechtsfehler oder aus Kostengründen, sei dahingestellt. Bis dahin hatten diese Gerichte den Strafverteidigern Optionen eröffnet, von der Sympathie der Laienrichter mit dem Angeklagten zu profitieren, zum Beispiel im Fall des "Hauptmanns von Köpenick".
Ein wenig bekanntes, gleichwohl dramatisches Beispiel für eine vermeintliche "Konfliktverteidigung" bot der sogenannte "Tscheka-Prozess" vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig vom 10. Februar bis 22. April 1925.
Insgesamt 17 Angeklagten wurde der Aufbau einer geheimdienstlichen Organisation der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) vorgeworfen, die in der Presse nach der vormaligen Bezeichnung des sowjetischen Geheimdienstes "(deutsche) Tscheka" benannt wurde. Die Rolle einiger Angeklagter, insbesondere des als Hauptzeuge auftretenden Felix Neumann, der später von der KPD in die NSDAP wechseln sollte, ist bis heute obskur. Die "Weltbühne" vermutete, dass es darum gehe, der KPD den Garaus zu machen.
Der Verteidigung wurde vom Gericht – gegen alle bisherige Übung – die Vernehmung ihrer unmittelbar geladenen Entlastungszeugen verweigert. Nach dem Bericht seines liberalen, dann sozialdemokratischen Kollegen Arthur Brandt (1893–1989), wurde dem Strafverteidiger Artur Samter (1886–1943), der der KPD nahestand, das Wort entzogen, als er einen der Angeklagten auf eine mögliche Aussageerpressung durch die Polizei ansprach.
Das Insistieren der Anwälte, einen als solchen ernsthaft erkennbaren Gerichtsbeschluss über diese Verhandlungsführung zu bewirken bzw. zu protokollieren, eskalierte dahin, dass der Vorsitzende, Alexander Niedner (1862–1930), den Strafverteidiger Samter unter Berufung auf ein "Notwehrrecht" aus dem Saal zerren ließ. Die Berliner Anwaltskammer fand zwar auch bei Samter ein gewisses Fehlverhalten, beließ es aber bei einer Rüge.
Natürliches Recht auf professionelle Verteidigung
Diese historischen Beispiele zur Rolle von Strafverteidigern in politischen Prozessen könnten zu dem Gedanken verführen, dass die Selbst- oder Fremdpositionierung als "Konfliktverteidiger" erst in der modernen Justiz des – an sich – liberalen Rechtsstaats möglich oder notwendig wurde.
In seinem ausgesprochen reichen Aufsatz "Zur Geschichte der Strafverteidigung" regte der Rechtshistoriker und Zivilrechtsprofessor Ulrich Falk (1957–) aber zu einer Neubewertung auch der "vormodernen" Anwaltstätigkeit an.
Falk zeigte, dass die Vorstellung einer gänzlich hoffnungslosen Verteidigung im Inquisitionsprozess des alten gemeinen Strafrechts falsch war. Unter anderem die Hexerei-Verfahren und die Androhung der Folter hatten seit dem 19. Jahrhundert unter Historikern zu Gerüchten angeregt, dass den Angeklagten im Fall schwerer Delikte nur der mehr oder weniger gerade Weg zum Galgen oder Scheiterhaufen geblieben sei.
Das gemeine Strafrecht im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation derart negativ zu zeichnen, diente vielfach dazu, die Fortschritte des 19. Jahrhunderts, etwa im Kampf um die freie Advokatur, in ein helleres Licht zu setzen. Einem prominenten Gelehrten des gemeinen Straf- und Strafprozessrechts wie Benedict Carpzov (1595–1666) wurde von liberalen, dann von feministisch inspirierten Historikern und Juristen unterstellt, er habe als Beisitzer des Schöffenstuhls Leipzig 10.000, 20.000 oder sogar 40.000 Todesurteile zu verantworten. Im Gegenteil, es bewirkte ein Gericht wie der Schöffenstuhl, dass in deutlich schwächerer Form die Folter angewendet wurde, die Todesstrafe durch erheblich mildere Sanktionen ersetzt, Freisprüche in großer Zahl ausgekehrt wurden.
Auch das wegen seiner extrem langen Prozessdauer berüchtigte Reichskammergericht konnte, wenn die Rechte der Verteidigung beschnitten wurden, binnen weniger Tage tätig werden – und wurde es ausweislich historischer Quellen tatsächlich.
Sogar der Teufel verdient Verteidigung
Überhaupt war, so lehrte Carpzov, das Vorbringen der Verteidigung vom Gericht sorgfältig zu erwägen, "weil die Verteidigung als solche vorzugswürdig sei […]. Diesen Rechtssatz könne man um so weniger leugnen, als es vollkommen sicher sei, daß die Defension ein natürliches Recht darstelle, das weder den wilden Tieren noch den Menschen, ja nicht einmal dem Teufel entzogen werden dürfe […]."
Hübsch paradox ist Falks Überlegung, dass die "unzähligen vehementen Klagen, die von Laien und Juristen der frühen Neuzeit vorgetragen wurden, Klagen über eine Unzahl skrupelloser, gottloser, geldgieriger, vor keinem Kunstgriff und keiner Verdrehung der Wahrheit zurückschreckender Advokaten", sowie die Versuche des absolutistischen Polizeistaats, etwa der preußischen Könige, die "Advokatur als eine ihnen geradezu verhaßte Institution abzuschaffen", reichlich sinnlos gewesen sein müssten, "wenn keine realen Wirkungen von ihr ausgegangen wären".
"Wären die Leistungen der Anwälte bedeutungslos gewesen, wäre auch schwer nachvollziehbar, warum die preußische Neuregelung, die auf verbeamtete Rechtsbeistände setzte, alsbald an der fehlenden Akzeptanz der Bevölkerung gescheitert ist."
Kurz: Wir wissen zwar nicht verbindlich, was "Konfliktverteidigung" sein soll. Wir dürfen aber stark vermuten, dass es sie schon ziemlich lange gibt.
*Korrigiert, 10.05.2023, 12:20 Uhr.
Literatur: Walther Rode: Justiz. Fragmente. Berlin (Rowohlt) 1929. Arthur Brandt: Der Tscheka-Prozess. Denkschrift der Verteidigung. Hamburg (Attica) 1979. Ulrich Falk: Zur Geschichte der Strafverteidigung. Aktuelle Beobachtungen und rechtshistorische Grundlagen. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, Band 117 (2000), S. 395–449.
Zur Rolle von Strafverteidigern in politischen Prozessen: . In: Legal Tribune Online, 05.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54485 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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