2/2: Zweiter Blick: Juristisches Genie der Achtsamkeit
Wahrscheinlich führt die "wissenschaftliche" Erforschung der Achtsamkeit auf einen falschen Pfad. Überhaupt, sich mit Literatur über östliche Weisheitslehren zu befassen, kann leicht ein Gefühl der Verwirrung hinterlassen. So gibt es böse Zungen, die im Yoga nichts weiter als kalifornische Gymnastik mit einer esoterischen Verkaufsmasche entdecken wollen. Andere behaupten, die Inder hätten ihr Ayurveda bei den antiken Griechen abgekupfert, oder, schlimmer noch, dass der mentale Quellcode des friedlichen Tibet-Buddhismus ein kriegerischer mongolischer Kult sei. Fehlt nur noch die These, der staatskriminelle Revolutionsführer Mao Zedong habe die "Traditionelle Chinesische Medizin" nur gefördert, weil er seinem Volk in der kommunistischen Mangelwirtschaft nichts besseres, also westliche "Schulmedizin", habe bieten können.
Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit zeigt, wie innig zumindest die deutsche Justiz mit dem Prinzip der Achtsamkeit vertraut ist, stammt es doch aus der tiefsten Provinz: Ein Autofahrer baute immer wieder Unfälle, und zwar mehrfach an der gleichen Stelle. In Frage stand, ob es sich um Versicherungsbetrug handeln könnte. Der Richter am Amtsgericht Gelsenkirchen-Buer befragte den Autofahrer, warum der trotz gerichtsbekannt unfallträchtiger Umstände "nicht mit besonderer Achtsamkeit an diesen Orten unterwegs war". Wir erkennen hier bereits: Achtsamkeit ist für Juristen selbstverständlich, normalsterbliche Rechtssuchende müssen noch nach ihr suchen (Urt. v. 19.10.2004, Az. 5 C 432/04).
Erleuchtungen durch juristische Achtsamkeit
Schaut man erst in die tiefen Quellen juristischer Weisheit, also in eine Urteilsdatenbank, kommt man aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, wie umfassend und zugleich feinsinnig sich deutsche Juristen der Lehre von der Achtsamkeit schon bedienten. Gab das Gelsenkirchener Gericht die Weisheit kund, dass Achtsamkeit dazu anleite, nicht im Kreislauf der ewig gleichen Fehler gefangen bleiben zu müssen, entwickelte das Arbeitsgericht Wilhelmshaven einst Inhalt und Grenzen der väterlichen Liebe des Arbeitgebers zu den Arbeitnehmern aus dem Prinzip der Achtsamkeit: Auf dem Gelände seines Unternehmens habe der seine motorisierten Mitarbeiter bei Bedarf vor Schnee und Glatteis zu schützen, soweit es in der Macht seiner Fürsorgepflicht stehe, darüber hinaus müsse der Arbeitnehmer "sich dann durch Anstrengung seiner Aufmerksamkeit nach Möglichkeit vor Gefahren schützen" (Entsch. v. 14.3.1968, Az. Ca 514/67).
Rühmenswert ist auch das Augenmerk, das namentlich die bayerische Justiz schon früh auf die gesundheitsförderlichen Wirkungen von Achtsamkeit legte. Wegen der seinerzeit noch neuen(!) Damenmode, Stöckelschuhe zu tragen, riet beispielsweise das Oberlandesgericht Nürnberg 1966 an, den Gefahren einer breiten, mit Teppich belegten und mit nur einem Handlauf ausgestatteten Treppe doch durch Achtsamkeit zu begegnen, um ja nicht zu stürzen (Urt. v. 7.6.1966, Az. 3 U 39/65). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof lehrte sogar schon 1952, dass ein Beamter bei der Benutzung einer Sauna den dort drohenden Gesundheitsgefahren durch Einhaltung der "Benützungszeiten" sowie Gebrauch der bereitgestellten Handtücher, insgesamt aber durch die ihm obliegende Achtsamkeit zu trotzen habe. Alles drei, "Saunabenützungs"-Zeit, Handtuchangebot und Achtsamkeit hatte der Beamte vernachlässigt, sodass ihm freistaatliche Gesundheitsfürsorge verweigert blieb (Urt. 11.6.1957, Az. 210 VIII 56).
Wahre Tradition juristischer Achtsamkeit
Wie tief verwurzelt der Wunsch, das deutsche Volk zur Achtsamkeit anzuhalten, unter Juristen ist, zeigt auch eine Serie weit älterer Gerichtsentscheidungen. 1925, zu einer Zeit, da beispielsweise Tibet längst nicht als Weisheitsquelle zugänglich war – Expeditionen in den fernen Osten durften sich ab den 1930er-Jahren der Protektion durch SS-Führer Himmler erfreuen – und in Kalifornien noch nicht die Yoga-, sondern die Ägypten-Mode grassierte, begann das Reichsgericht zu Leipzig bereits damit, dem deutschen Steueruntertan im Verhältnis zum Finanzamt "Achtsamkeit" bei der Pflege der kaufmännischen Unterlagen aufzuerlegen (Urt. v. 7.7.1925, Az. I 25/25; v. 2.7.1928, Az. II 1164/27 und v. 12.2.1942, Az. 2 D 518/41).
Weist man auf die steuerstrafrechtliche Dimension der Achtsamkeit hin, muss man sich auch in einen tiefen Ur-Schmerz heutiger Juristen einempfinden: Der Zumutung durch die verwirrendste esoterische Literatur deutscher Sprache, jene des Steuerrechts. Hier überließ die deutsche Anwaltschaft den rechtssuchenden Bürger weitgehend den Machinationen der Steuerberater. Statt die Steuerberatung zur juristischen Domäne zu erheben, war man sich für Steuerdinge lange zu fein – ein böser Fall von Unachtsamkeit der sonst so achtsamen Juristenzunft.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Juristische Grenzwissenschaften: . In: Legal Tribune Online, 20.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12609 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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