Achtsamkeit ist die Kunst, das Hier und Jetzt bewusst zu erleben, und damit Kernbestandteil fernöstlicher geistiger Traditionen, besonders des Buddhismus. So manchem Juristen, der stressgeplagt durch den Alltag hetzt, stünde sie gut zu Gesicht – vom Bürger haben die Gerichte sie ohnehin stets eingefordert. Andere wieder haben vor allem Spott für die Achtsamkeit übrig. Eine Meditation von Martin Rath.
Achtsamkeit sei bloß eine übers Land hereingebrochene Mode, die behaupte, den Menschen zu lehren, alle Dinge in seiner Lebenswelt "bewusster wahrzunehmen", um dann "bewusster und am Ende besser mit sich und der Umwelt umzugehen", monierte die Journalistin Silke Burmester in einem bissigen Stück. Eine esoterische Methode machte sie aus, die sich rühme, ihren Praktizierenden mit der besseren (Selbst-) Wahrnehmung zu Achtung zu verhelfen und zu Respekt: "Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß, wie Wolken schmecken. Und wer einmal auf den Geschmack gekommen ist, wird einen Teufel tun und nur weil er ein bequemer Mensch ist, von Hamburg nach Frankfurt das Flugzeug nehmen, auf dass die Wolken nicht mehr essbar sind."
Mehr noch: Die Achtsamkeit sei ein "Schleim", der alles mit "Lotus-Odeur" verklebe. Eine kleine Untersuchung, in deren Verlauf dieser Autor in ungünstige journalistische Verhaltensstrukturen zurückfiel – Kaffeetrinken, kristallzuckerhaltiges Naschwerk vertilgen und Nachtarbeit – schien zunächst einiges zutage zu fördern, das Burmesters Diktum, die Lehre von der Achtsamkeit überziehe "die Menschen mit dem sämigen Sud der Heuchelei", bestätigen könnte. Weiterführende Überlegungen zeigen jedoch, dass insbesondere Juristen von einer recht verstandenen Achtsamkeit profitieren können.
Erster Blick: Achtsamkeit kann verwirren
Sehr verheißungsvoll klingt bereits, was die von Burmester verspottete Achtsamkeits-Literatur verspricht: "Achtsamkeitsübungen bieten einen Weg an, Gefühl und Verstand in ein Gleichgewicht zu bringen und damit zu einem intuitiven Wissen und Verstehen zu gelangen. Wenn Sie einen Zugang zu intuitivem Wissen und Verstehen finden, können Sie Entscheidungen leichter finden und treffen", heißt es etwa in Alois Burkhards "Achtsamkeit. Entscheidung für einen neuen Weg". Beschritten wird dieser Weg dann beispielsweise mit der "Entschleunigung" durch eine "Gehmeditation": "Wir gehen nicht, um irgendwohin zu gelangen, wir gehen um zu gehen. Es gibt kein Ankommen, nur das ununterbrochene Ankommen im gegenwärtigen Augenblick. Gehmeditiation ist ein wirksames Mittel, der Sucht, in kürzester Zeit so viel wie möglich zu erledigen, entgegenzuwirken."
Leicht modifiziert, im Rahmen einer sitzenden Tätigkeit, lässt sich diese Übung auf die juristische Profession übertragen: Eine viele Dutzend Ordner umfassende Strafsache, die ein Anwalt abzuarbeiten hat, der stetig wachsende Berg auf dem Aktenbock des Richters, der E-Mail-Eingang im Postfach jedes juristischen Berufsträgers: Was erzwingt es anderes, als das "ununterbrochene Ankommen im gegenwärtigen Augenblick"?
Leider lässt sich der Wert solch einfacher Übungen nicht unbeschwert generalisieren, ist doch die esoterische Achtsamkeits-Literatur selbst vom Keim der Wissenschaftlichkeit infiziert: Werke wie "Achtsamkeit. Ihre Wurzeln, ihre Früchte" (von Mark Williams, Jon Kabat-Zinn et al.) legen Zeugnis ab vom Bemühen, den positiven Effekten von Achtsamkeitsübungen empirische Evidenz zu verleihen.
Beispielsweise dient ein wissenschaftliches Hilfsmittel, der Erfassungsfragebogen "Freiburg Mindfulness Inventory" dazu, von Aufmerksamkeitspraktizierenden systematisch Statements zu Aussagen abzufragen wie: "Ich bin offen für die Erfahrungen des gegenwärtigen Moments", "Ich spüre meinen Körper, wenn ich esse, koche, saubermache oder spreche" oder "Wenn ich merke, dass ich mit meinen Gedanken abschweife, dann komme ich sanft zur Erfahrung im Hier und Jetzt zurück".
Leider können solche Untersuchungsmethoden der Achtsamkeit empirisch nicht wirklich guten Boden bereiten, führen sie doch zu verwirrenden Ergebnissen: So erreichten in einer Studie "Studenten, die rauchten und an Alkoholexzessen (Komasaufen) teilnahmen, überraschenderweise höhere Werte auf dem Freiburg Mindfulness Inventory als Studenten, die nicht tranken und nicht rauchten". Eine Aussage aus der Achtsamkeits-freundlichen Literatur, nicht etwa von skeptischen Spöttern!
Martin Rath, Juristische Grenzwissenschaften: . In: Legal Tribune Online, 20.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12609 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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