Seit ihrer ersten Auflage im Jahr 1931 hat sich die Gesetzessammlung zum beliebten Accessoire für Juristen entwickelt, die der Eitelkeit von eifrigen Jurastudenten ebenso dient wie älteren Semestern als Nachschlagewerk. Bei kulturhistorischer Betrachtungsweise bietet "der Schönfelder" jedenfalls mehr als nackte Normen. Einen Blick aufs beste Stück deutscher Juristen wirft Martin Rath.
Wollte ein Ethnologe die Stammesgebräuche der deutschen Juristerei untersuchen, käme er um dieses Stück ihrer "materiellen Kultur" nicht herum: "der Schönfelder", eine Sammlung mit den Texten wichtiger, alltagsgängiger Gesetze. Heute regelmäßig als Loseblattsammlung mit tausenden Seiten in Gebrauch. Das Dünndruckpapier erinnert an Bibelausgaben und kirchliche Gesangbücher. Der fiktive Ethnologe könnte juristische Erstsemester befragen, warum sie den schweren Klotz mit sich herumtragen wie Studenten anderer Fächer ihre Plastikwasserflaschen. Man darf vermuten: Es geht weniger um den Nutzwert als darum, sich symbolisch der juristischen Stammesgemeinschaft anzuschließen.
Und jede Wette: Die Wenigsten dürften wissen, warum der rote Zelluloseziegel "Schönfelder" heißt. Dass in dieser Gesetzessammlung unter der Ordnungsnummer "1" einst das Parteiprogramm der NSDAP zu finden war, hat sich vielleicht herumgesprochen. Aber um "den Schönfelder" ranken sich noch ganz andere Geschichten.
Heinrich Schönfelder – Musterschüler, Verbindungsstudent, Esoteriker
Heinrich Schönfelder
Seine Ideen machten ihn für einige Jahre zu einem recht gut verdienenden Amtsrichter: Im April 1931 schrieb Heinrich Schönfelder das Vorwort zur ersten Auflage seiner Sammlung "Deutsche Reichsgesetze". Das Werk erschien zunächst als fest gebundenes Buch, verkaufte sich gut, wurde in rascher Folge mit Nachlieferungen aktualisiert, ab der vierten Auflage von 1935 kam es dann als Loseblattsammlung heraus. Nach der "Machtergreifung" von 1933 schwoll die Gesetzesproduktion an. Bis zu seinem Tod, 1944, betreute Schönfelder 17 Auflagen der Sammlung. Zeitweilig müssen die Honorarzahlungen das Gehalt des sächsischen Amtsgerichtsrats deutlich überschritten haben.
In seiner Biografie aus dem Jahr 1997 hat der Bremer Senatsrat Hans Wrobel zusammengetragen, was sich über Leben und Werk Heinrich Schönfelders herausfinden ließ: 1902 im sächsischen Nossen geboren, besuchte Schönfelder die elitäre Fürstenschule St. Afra in Meißen. Er war ein höchst sprachbegabter Schüler, der sich auch per Fernstudium um autodidaktische Bildung mühte. Wrobel sieht hier die Wurzel von Schönfelders pädagogischem Instinkt, sollte er doch – noch vor dem zweiten Staatsexamen – für den Verlag C.H. Beck die noch heute existierende Studienreihe "Prüfe Dein Wissen" starten.
Als Student in der jungen Republik von Weimar war Schönfelder ähnlich radikalisiert wie ungezählte Kommilitonen. Selbstredend war er Mitglied einer schlagenden Verbindung. Für diese Studentengeneration, die zu jung war, um am Ersten Weltkrieg teilzunehmen, hat der Historiker Ulrich Herbert eine umfangreiche Studie vorgelegt, die am Beispiel des Justitiars der Gestapo, Werner Best (Jahrgang 1903), Muster politischer Radikalisierung aufzeigt. Wie Best war auch Schönfelder im völkischen "Hochschulring Deutscher Art" engagiert, wurde aber – anders als der spätere SS-Jurist Best – erst nach der "Machtergreifung" Mitglied der NSDAP.
Bei Wrobel erscheint Schönfelder nicht als radikaler Vordenker des NS-"Rechts", eher als opportunistischer Pragmatiker: In seine Sammlung "Deutsche Reichsgesetze" nahm er unter Nummer 1 das Parteiprogramm der NSDAP auf – eben als Leitmotiv des "neuen Staats". 1949 sollte die Loseblattsammlung unter dieser Ordnungsnummer das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland bringen. Unter den Nummern 2 bis 19 fanden sich unter Schönfelders Herausgeberschaft so 'illustre' Normen wie das Ermächtigungsgesetz oder die antisemitischen Nürnberger Gesetze. Unter Nummer 20, wie heute, das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB).
Bernd Rüthers hat in seiner Habilitationsschrift von 1968 belegt, wie nach 1933 etwa Arbeitsverträge mit jüdischen Angestellten oder Mietverträge mit "Nichtariern" unter Berufung auf das NS-Parteiprogramm vor ordentlichen Gerichten aufgekündigt wurden – die Generalklauseln des BGB dienten der Umsetzung. Wrobel beschreibt Schönfelder nur als den juristischen Textarbeiter, der die Unrechtsnormen griffbereit gemacht hat. Akten aus seiner Arbeit als sächsischer Amtsrichter liegen nicht vor. Auch Schönfelders Tätigkeit als Kriegsgerichtsrat bei einer Luftwaffeneinheit im besetzten Italien ist nicht dokumentiert. Sein unmittelbarer "Gerichtsherr" machte später als deutscher General bei der NATO Karriere. Heinrich Schönfelder hat das nicht erlebt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er Anfang Juli 1944 von italienischen Partisanen getötet.
Eine Überraschung bietet Schönfelder am Rande. Eine gar nicht kleine Zahl von Juristen sucht Orientierung in Gefilden, die Außenstehende als bestenfalls esoterisch wahrnehmen: Nicht wenige Juraprofessoren werden noch heutzutage als Angehörige christlicher Ritterorden zu Grabe getragen. Ein bekannter Staatsrechtslehrer entdeckte unlängst als Emeritus die Gefilde der Engel-Forschung. Heinrich Schönfelder engagierte sich – bis sie im NS-Staat verboten wurde – in der Masdasnan-Tempel-Vereinigung, einer deutsch-amerikanischen Sekte, die auf pseudo-"indisch-arischer" Basis strenge Ernährungs- und Sexualdisziplin lehrte.
"Schönfelder" ein denkmalschutzwürdiges Kulturgut?
In Zeiten onlinegestützter Normverfügbarkeit wird es schon bald ähnlich esoterisch anmuten, wenn Juristen ihren "Schönfelder" von Zeit zu Zeit mit einer Ergänzungslieferung versorgen, Blatt für Blatt händisch einarbeiten. Wäre das Ende der Handarbeit nicht wünschenswert?
Mit dem Aussterben des "Schönfelders" als ergänzungsbedürftiger Loseblattsammlung wäre ein wichtiges Kulturgut in seiner Überlieferung bedroht. Man nehme nur die ineinander zu steckenden "Dorne", die das biblisch dünne Papier zusammenhalten. Die im vergangenen Jahr viel zu früh verstorbene Medienwissenschaftlerin Cornelia Vismann hat eine luzide Studie darüber hinterlassen, wie der rein materielle Umgang mit juristischem Papier auch das juristische Denken und Arbeiten mit bestimmt hat. Das Aufspießen auf "Dorne" ist noch gar nicht so alt. Vor 100 Jahren wurde noch mit Bindfäden gearbeitet, die infolgedessen schlechtere Verfügbarkeit des einzelnen Vorgangs blieb gewiss nicht ohne Einfluss auf die juristische Denkungsart. Mit Schreibmaschine geschriebene Akten konnten sich erst nach dem Ersten Weltkrieg verbreiten, mit ihnen wurde erst das einheitliche Papierformat DIN A 4 in deutschen Amtsstuben gebräuchlich.
Wer eigenhändig seine "Nachlieferung" über die Dorne seiner Loseblattsammlung hebt, streift also den Mantel der Geschichte – Generationen von Juristen vor ihm waren zum langsamen, meditativen Umgang mit den Papieren der Jurisprudenz verdammt. Unformatierte Papiere wurden aufgespießt, ihre Inhalte mühselig indiziert, manches unauffindbar archiviert. Man kann das als Beitrag zum Rechtsfrieden durch unzureichende Datenverarbeitung sehen.
Wem in Zeiten allfälliger Norm-Apps die alten Loseblattsammlungen als antiquierte, viel zu langsame Darreichungsform juristischer Texte erscheinen, mag über eine Glosse eines Juristen meditieren, der als "hM"-Interpret des Artikels 1 Grundgesetz gilt: Günter Dürig äußerte 1953, "daß nur 'Bücher' und niemals 'Loseblattausgaben' Charakter und Seele haben". Der große Grundgesetzkommentator meinte fast sehnsuchtsvoll:
"Gesetzessammlungen mit Blättern zum Herausnehmen sind nichts anderes als das Spiegelbild einer Zeit, in der Gesetze auf Abbruch gemacht werden. Endet die Gesetzesinflation, dann bekommen wir zusammen mit dem Glauben an das Gesetz auch die Gesetzbücher wieder."
Bei so viel meditativer Wehmut bleibt natürlich eine Information nachzutragen: Der von Günter Dürig mitbegründete Grundgesetzkommentar liegt heute in der 60. Auflage vor. In Gestalt einer Loseblattsammlung.
Martin Rath ist freier Journalist und Lektor in Köln.
Handapparat:
Hans Wrobel: "Heinrich Schönfelder". Sammler deutscher Gesetze 1902-1944, München (C.H. Beck) 1997
Ulrich Herbert: "Best". Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn (Dietz) 2001
Bernd Rüthers: "Die unbegrenzte Auslegung". Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 6. Auflage, Tübingen (Mohr Siebeck) 2005
Cornelia Vismann: "Akten". Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main (Fischer) 2010
Günter Dürig: "Die losen Blätter" in: Juristenzeitung 1953, Seite 126
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Martin Rath, 80 Jahre Schönfelder: . In: Legal Tribune Online, 27.03.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2876 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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