Charles Dickens, dessen Geburtstag sich in diesem Monat zum 200. Mal jährte, gilt als einer der meistgelesenen englischen Autoren. Auch einer seiner Romane feiert ein Jubiläum: Bleak House. Darin geht der Bestsellerautor mit der britischen Justiz hart ins Gericht. Ein Literaturtipp von André Niedostadek.
Kaum ein anderer englischer Autor, William Shakespeare vielleicht ausgenommen, hat ein so vielfältiges Werk geschaffen wie Charles Dickens (1812 – 1870). "Oliver Twist", "Große Erwartungen" oder "David Copperfield" sind ebenso Klassiker der Weltliteratur wie die Erzählung "Eine Weihnachtsgeschichte" rund um den griesgrämigen Geizhals Ebenezer Scrooge.
Dickens gilt als der Chronist des viktorianischen Englands, einem Zeitalter der gesellschaftlichen Trennung. Die florierende Wirtschaft bringt zwar einer zunehmenden Mittelschicht Wohlstand und gesellschaftlichen Aufstieg. Ein Großteil der Bevölkerung, wie Land- und Fabrikarbeiter, lebt hingegen weiterhin an der Armutsgrenze oder sogar darunter. Für Charles Dickens wird das Aufzeigen sozialer und gesellschaftlicher Zustände zu einem Leitthema. Vieles trägt dabei zugleich autobiografische Züge.
Von der Kinderarbeit zum Selfmademan
Charles John Huffam Dickens wird am 7. Februar 1812 im südenglischen Landport als zweites von acht Kindern geboren. Die Familie zieht zehn Jahre später nach London. Der Vater John Dickens, ein Marinezahlmeister, lebt jedoch über seine Verhältnisse und kann die Großfamilie kaum noch über Wasser halten.
Als er schließlich tief in der Kreide von Gläubigern steht und nicht mehr in der Lage ist, seine Zahlungsverpflichtungen zu bedienen, landet er zeitweise im berüchtigten Schuldgefängnis Marshalsea. Um für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen muss der 12-jährige Charles daraufhin die Schule verlassen und für sechs Schilling pro Woche unter anderem in eine Schuhcreme-Fabrik arbeiten.
Erst als der Vater nach zwei Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird, kann Charles die Schule beenden. Er findet zunächst eine Anstellung als Anwaltsgehilfe und arbeitet sich in den folgenden Jahren vom Parlamentsstenografen bis zum Journalisten hoch. Der Aufsteiger schreibt über Gerichtsprozesse, wird zum Parlamentsreporter und erhält so einen Blick hinter die Kulissen. Dabei entwickelt er zugleich eine Abneigung gegen eine überbordende Bürokratie und den Beamtenapparat.
Zur Dickens' Zielscheibe wird dabei auch die Justiz, von der er in seinem Roman Bleak House ein düsteres Bild zeichnet. Dabei dürften nicht zuletzt eigene Erfahrungen eingeflossen sein: So sollen ihn mehrere Klagen zur Durchsetzung seines Urheberrechts gegen den Raubdruck der bereits 1843 verfassten Weihnachtsgeschichte nahezu den kompletten Erlös des Buches gekostet haben.
Ein Ungeheuer von einem Prozess
Als Bleak House veröffentlicht wird, ist sein Autor gerade einmal 40 Jahre alt und als Verfasser von nahezu einem Dutzend Büchern bereits ein gemachter Mann. Ebenso wie andere Werke entsteht Bleak House in monatlichen Fortsetzungen. Die erste von insgesamt 20 Episoden erscheint am 28. Februar 1852. Dickens führt in seinem Roman verschiedene Erzählstränge vor dem Hintergrund des fiktiven Erbstreits "Jarndyce gegen Jarndyce" zusammen. Dabei lässt er unzählige, teils skurrile Charaktere auftreten, von denen viele auf die eine oder andere Weise mit dem Fall verbunden sind.
Gleich zu Beginn des Romans skizziert Dickens in wenigen Sätzen ein eindringliches und zugleich bedrückendes Bild des Rechtssystems: "Nie kann der Nebel zu dick, nie der Schmutz und Kot zu tief sein, um dem versumpften und verschlammten Zustand zu entsprechen, in dem sich dieser hohe Kanzleigerichtshof, dieser schlimmste aller ergrauten Sünder, an einem solchen Tage dem Himmel und der Erde präsentiert."
Auch für die Juristen selbst findet er markante Worte: Sie "legen einander Schlingen mit schlüpfrigen Präzedenzien; knietief in technischen Ausdrücken watend rennen sie ihre mit Ziegen- und Pferdehaar geschützten Köpfe gegen Wälle von Worten und führen ein Schauspiel von Gerechtigkeit auf; Komödianten mit ernsthaften Gesichtern".
Zum "Ungeheuer von einem Prozess" ist der Fall "Jarndyce gegen Jarndyce" selbst geworden. Kaum jemand hat noch einen Überblick: "Die Parteien verstehen ihn am wenigsten, und nicht einmal zwei Kanzleigerichtsadvokaten können fünf Minuten davon sprechen, ohne nicht schon über die Vorfragen gänzlich uneinig zu werden. Zahllose Kinder sind in den Prozess hineingeboren worden, zahllose junge Paare haben hineingeheiratet, zahllose alte Leute sind herausgestorben. Dutzende von Personen sind zu ihrem Schrecken auf einmal Partei in Sachen 'Jarndyce gegen Jarndyce' geworden, ohne zu wissen, wie und warum; ganze Familien haben sagenhafte Stammesfeindschaft mit dem Prozess geerbt."
Im weiteren Verlauf des Romans spielen Rechtsstreitigkeiten immer wieder eine Rolle, etwa bei einem Nachbarschaftsstreit um einen Grenzverlauf. Wen überrascht es bei alledem, dass auch der Antagonist des Romans ein Jurist ist: Der bedrohliche Anwalt Tulkinghorn.
Dickens ist auch in Zeiten von Hartz-IV noch modern
Das Leben von Charles Dickens bleibt selbst nicht skandalfrei: Nachdem er sich in eine junge Schauspielerin verliebt, trennt er sich 1858 nach 22 Jahren Ehe von seiner Frau mit der er immerhin zehn Kinder hat. Eine Midlife Crisis? Schöpferisch aktiv bleibt Dickens weiterhin. Nur seinen letzten Roman "Das Geheimnis des Edwin Drood" kann er selbst nicht mehr vollenden. Dickens stirbt mit 58 Jahren am 9. Juni 1870 an den Folgen eines Schlaganfalls. Beigesetzt ist er in der Poets' Corner, einem Teil der Londoner Kathedrale Westminster Abbey.
Charles Dickens wird hierzulande zu Unrecht oft als Jugendbuchautor wahrgenommen. Auch sein Werk ist nicht unumstritten. Manchem ist Dickens' Sprachgewalt zu weitschweifig, sentimental und moralisierend. Andererseits gelingt es ihm durchaus mit Humor und viel Liebe zum Detail ein realitätsnahes Bild seiner Zeit zu entwerfen.
Unsere heutige Lebenswirklichkeit erscheint demgegenüber viel weniger drastisch und dennoch klingen seine Themen verblüffend modern: Bildungsnotstand, finanzielle Probleme oder die nach wie vor erkennbare Klassengesellschaft sind dabei nur einige Aspekte. Was hätte Dickens über Hartz IV geschrieben?
Und das Rechtssystem? Es ist selbst in Deutschland wegen seiner Gemächlichkeit verschiedentlich in die Kritik geraten. So hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits mehrfach überlange Prozesse beanstandet. Im September 2010 hoben die Straßburger Richter dann hervor, dass die überlange Verfahrensdauer in Deutschland ein strukturelles Problem darstelle und setzten eine Frist bis Dezember 2011 zur Behebung dieses Defizits. Erst kürzlich ist das "Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Verfahren" in Kraft getreten. 160 Jahre nach Bleak House.
Der Autor Prof. Dr. André Niedostadek lehrt Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Hochschule Harz.
André Niedostadek, 200 Jahre Charles Dickens: . In: Legal Tribune Online, 28.02.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5745 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag