9-Euro-Ticket, Sylt und Strafrecht: Wie viel Chaos ist erlaubt?

Gastbeitrag von Katharina Reisch

25.06.2022

Das Internet lacht. Über Sylt, das 9-Euro-Ticket und die "Syltokalypse". Doch wo hört der Spaß auf? Katharina Reisch war mit dem 9-Euro-Ticket auf Sylt und erklärt, wann #syltentern zur Straftat wird.

Anfang Mai formulierte Moritz Luft, Geschäftsführer der Sylt Marketing GmbH, gegenüber der Deutschen Presseagentur seine Sorgen zum 9-Euro-Ticket: Die Insel sei „nicht optimal (aus-)gerüstet für das 9-Euro-Ticket und den damit verbundenen zu erwartenden Ansturm“. Die rasante Eigendynamik sozialer Medien verwandelte seine logistischen Bedenken in ein spottendes Meme und schon trollte die „Syltokalypse“ durchs Internet: Auf Instagram, Twitter und Reddit wurde das Klischee der Insel Sylt als exklusivem Sehnsuchtsort der „Reichen und Schönen“ bedient, die sich nun vor dem 9-Euro-Ticket als „trojanische[m] Pferd“ des „Pöbels“ gruselten. Unter #syltentern und #syltokalypse verabredete sich die amüsierte Netzgemeinde dazu, der Nordseeinsel jetzt erst recht das vermeintlich gefürchtete Chaos zu bescheren.  

Das 9-Euro-Ticket gilt nun seit dem 1. Juni und das Land schaut gebannt nach Sylt. Leidensfähige Journalist:innen reisten per Regio ausdauernd durch die Republik, um eine drängende Frage zu beantworten: Kommen sie oder kommen sie nicht? Sie, das sind die vorm Edeka Flunkyball spielenden „Remmi-Demmi“-Punks; das sind die gut gelaunten Ballermann-Touristen, die in bunt gemusterten Hemden und Badeshorts zu Klassikern von Mickie Krause Dosenbier trinken; sie, das sind aber auch: Die Teilnehmer:innen der auf dem virtuell so schmalen Grat von Ernst und Ironie ausgerufenen Sylter „Chaostage“.

In Facebook-Veranstaltungen und digitalen Flyern kündigten auch linke Gruppen und Punks Sylter „Chaostage […] größer als Woodstock!“ an. Im nebulösen Dunkelraum der über 1.500 Mitglieder starken Telegram-Gruppe „Chaostage Sylt (offiziell)“ etwa reiht sich neben ein mit „Sylt“ beschriftetes Logo der linksextremistisch-terroristischen Organisation Rote Armee Fraktion (RAF) die Ankündigung, ab dem 1. Juni „Bonzen von den Stränden [zu] fegen und Sylt in Schutt und Asche [zu] legen“.  

Aufrufe wie diese lassen aufhorchen: Denn die gegenwärtig viel beschworenen Sylter „Chaostage“ sind nicht nur ein im Sommer 2022 „obligatorischer Witz“, sondern sie wecken auch Erinnerungen an ein Phänomen der politisch motivierten Kriminalität.

"Chaostage" der 80er und 90er eskalierten in Straßenschlachten

Als „Chaostage“ werden seit Anfang der 1980er Jahre mit heftigen Ausschreitungen verbundene Zusammenkünfte in diversen deutschen Städten beschrieben. Hintergrund der ersten Chaostage im Jahr 1982 war die von der Polizei Hannover geführte sogenannte Punker-Kartei, in der diese Informationen zur als gefährlich angesehenen lokalen Punk-Szene erfasste. Um hiergegen zu protestieren, verabredeten sich verschiedene Akteure, insbesondere Punks und linke bis linksextreme Gruppen, zu Chaostagen in der niedersächsischen Landeshauptstadt.  

Ihr gemeinsames Anliegen war es, der Punker-Kartei mit maximal chaotischen Zuständen entgegenzutreten. 1983 und 1995 eskalierten die Chaostage zu mehrtägigen Straßenschlachten zwischen Punks und Polizei. 1995 brannten Barrikaden und Mülltonnen, Pflastersteine wurden auf Polizist:innen geworfen und ein Lebensmittel-Discounter geplündert – Hannover im bürgerkriegsähnlichen Ausnahmezustand.  

Die Bilanz: Mehr als 400 Verletzte und Sachschäden in Höhe von über 800.000 Deutsche Mark. Ein vom niedersächsischen Landtag eingesetzter parlamentarischer Untersuchungsausschuss arbeitete die Randale in einem umfassenden Bericht auf. Auch die Insel Sylt war 1995 von dieser Protestform betroffen, nachdem ein zunächst scherzhafter Aufruf zu Sylter Chaostagen aus dem Ruder gelaufen war.

Während im „außergewöhnlich hohen Reisendenaufkommen“ im RE 6 nach Westerland drei junge Männer mit farbenfrohen „Endlich dicht“-T-Shirts in bewährt niedrigschwelliger Eingängigkeit „Malle auf Sylt“ besingen, fragt man sich vor dem historischen Hintergrund der Chaostage dann doch: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn sich beim Aussteigen offenbarte, dass die 2022er Chaostage nun die Schwelle vom heiteren Meme zur ernsthaften Randale in der Wirklichkeit überschritten hätten? Wie viel Chaos auf Sylt wäre erlaubt und wann würde #syltentern zur Straftat?  

Frühere Chaostage waren schwerer Landfriedensbruch

Während der Chaostage in den 1980er und 1990er Jahren wurden nicht nur strafrechtliche „Klassiker“ wie (gefährliche) Körperverletzungen (§§ 223, 224 StGB), Sachbeschädigungen (§ 303 StGB), Brandstiftungen (§§ 306 ff. StGB) oder Delikte gegen die Staatsgewalt (v.a. §§ 113, 114 StGB) verwirklicht; besondere Relevanz entfaltete vor allem ein eher weniger bekannter Tatbestand: Der schwere Landfriedensbruch nach § 125 i.V.m. § 125a StGB.  

Nach § 125 Abs. 1 StGB wird wegen Landfriedensbruchs bestraft, wer sich als Täter oder Teilnehmer an Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen oder Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit beteiligt, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden. Ebenso wird bestraft, wer auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern.  

§ 125 StGB ist damit Teil des sogenannten Demonstrationsstrafrechts und schützt die öffentliche Sicherheit vor kollektiver Gewalt sowie die Individualrechtsgüter der bedrohten Personen. Dreh- und Angelpunkt des objektiven Tatbestandes ist die Begehung einer der drei Tatmodalitäten „aus einer Menschenmenge“ heraus. Diese konstituiert sich nach der Rechtsprechung ab einer Teilnehmer:innenzahl von etwa 15 bis 20 Personen (BGH v. 29.8.1985, Az 4 StR 397/85).

Die Strafzumessungsnorm in § 125a StGB sieht mit dem besonders schweren Fall des Landfriedensbruch strafschärfende Regelbeispiele vor. Ein besonders schwerer Fall liegt etwa dann vor, wenn der Täter eine Schusswaffe (Nr. 1) oder eine andere Waffe bzw. ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt (Nr. 2) sowie dann, wenn er durch eine Gewalttätigkeit einen Anderen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringt (Nr. 3) sowie wenn er plündert oder bedeutenden Schaden an fremden Sachen anrichtet (Nr. 4).  

Die gewalttätigen, brandstiftenden und plündernden Chaoten im Hannover der 80er und 90er Jahre erfüllten vielfach den Tatbestand des (schweren) Landfriedensbruchs. Trotz der von ihnen intendierten politischen Meinungsäußerung sind ihre Handlungen nicht von Art. 8 des Grundgesetzes gedeckt, da die Versammlungsfreiheit nur friedliche Versammlungen schützt. Sollten 2022 auf Sylt mit den historischen Chaostagen vergleichbare Handlungen stattfinden, drohte den Beteiligten ebenso eine Strafbarkeit nach § 125 StGB (ggf. i.V.m. § 125a StGB).  

Aufruf zu Chaostagen als Störung des öffentlichen Friedens?

Zwar sind die dieser Tage verbreiteten Mobilisierungsversuche oft explizit als Satire gekennzeichnet (z.B. enthält die Facebook-Veranstaltung „Chaostage Sylt 2022“ den Hinweis  „Diese Veranstaltung ist reine Satire und stellt keinerlei Aufruf da [sic!] nach Sylt zu reisen“). Die Hinweise haben sicherlich den Hintergrund, dass sie eine polizeirechtliche Haftung als Zweckveranlasser ausschließen sollen; sie tragen aber auch dem Umstand Rechnung, dass die Aufrufe, sofern sie jemand ernst meinte, den Tatbestand der Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten nach § 126 Abs. 1 Nr. 1 StGB verwirklichen könnten. Denn gemäß § 126 Abs. 1 Nr. 1 StGB wird unter anderem bestraft, wer „in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, einen der in § 125a Satz 2 Nr. 1 bis 4 bezeichneten Fälle des Landfriedensbruchs […] androht“.  

Würde also offiziell zu Chaostagen im Stil der 90er Jahre aufgerufen, würde womöglich ein schwerer Landfriedensbruch angedroht. Zur Störung des öffentlichen Friedens ist diese Androhung dann geeignet, wenn sie aus der Sicht eines objektiven Beobachters die begründete Besorgnis erregt, dass es zu einer allgemeinen Beunruhigung der Bevölkerung kommen könnte. Dabei ist entscheidend, ob eine Störung des öffentlichen Friedens konkret abzusehen ist. Irrelevant ist hingegen, ob es tatsächlich zu Panikreaktionen kommt.  

Angesichts der bereits durch die scherzhafte Ankündigung einer „Syltokalypse“ hervorgerufenen Verunsicherung auf der Insel wären Aufrufe zu „echten” Chaostagen sicher zur massiven Störung des öffentlichen Friedens geeignet. Eine Strafbarkeit wegen Vortäuschens einer bevorstehenden Straftat nach § 126 Abs. 2 StGB käme dann in Betracht, wenn zwar nicht wirklich Chaostage auf Sylt geplant sind, gleichwohl aber der Eindruck ihrer ernsthaften Vorbereitung und damit eine authentische Drohkulisse entsteht. Zu denken ist außerdem an eine Strafbarkeit wegen des Billigens von Straftaten gemäß § 140 Nr. 2 StGB.  

Da es sich aber bei den dieser Tage kursierenden Flyern, Memes und Veranstaltungen ersichtlich um Satire handelt, gilt: Dieses virtuelle Chaos ist erlaubt.  

Verwendung des RAF-Logos nicht strafbar

Doch was ist mit dem in der Telegram-Gruppe geteilten RAF-Logo? Überschreitet ein Meme die Schwelle zur Strafbarkeit, wenn das Logo der RAF mit dem Schriftzug „Sylt“ versehen wird? Die Terrororganisation ist immerhin für zahlreiche Morde, Banküberfälle und Sprengstoffattentate verantwortlich.  

Nahe liegt da der Gedanke an eine Strafbarkeit nach § 86 StGB wegen des Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen oder nach § 86a StGB wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen. Da die RAF aber wegen ihrer 1998 abgegebenen Selbstauflösungserklärung nie für verfassungsfeindlich erklärt worden ist, erfüllt das Verwenden ihrer Symbole weder § 86 StGB noch § 86a StGB.  Deshalb greifen auch § 129 Abs. 1 S. 2 StGB bzw. § 129a Abs. 5 S. 2 StGB nicht ein, die das Werben um „Mitglieder oder Unterstützer“ nur für eine gegenwärtig existierende kriminelle bzw. terroristische Vereinigung pönalisieren.  

Aufgrund der zwischenzeitlichen Auflösung der RAF sah schon 1997 das Bayerische Oberste Landesgericht das Sprühen der Parole „BRD verrecke – hoch lebe die RAF“ nicht als Fall des Werbens für eine terroristische Vereinigung bzw. deren Unterstützung (BayObLG, Beschluss v. 27.11.1997, Az. 3 St 3-97) an. Die Verwendung des RAF-Logos ist also nicht strafbar.

Auch wenn der zeitweise durch Wanderungsbewegungen biblischen Ausmaßes überfüllte RE 6 und die kürzlich in Westerland gehisste Flagge der „Anarchistischen Pogo-Partei Deutschlands“ manchem als syltokalyptische Vorboten erscheinen mögen, bleibt doch festzuhalten: Aktuell drohen der Insel keine Szenen wie im Hannover der 90er Jahre – die Sylter „Chaostage […] größer als Woodstock!“, sie werden hoffentlich ausbleiben. Der Tatbestand des Landfriedensbruchs verbleibt somit im staubigen Muff der strafrechtlichen Mottenkiste, während das Internet im Sommer 2022 weiter lacht. Über Sylt, das 9-Euro-Ticket und Christian Lindners Traumhochzeit.

Die Autorin Dipl. Jur. Katharina Reisch ist Doktorandin bei Prof. Dr. Katrin Höffler (Universität Leipzig) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Sie war 21 Stunden mit dem Regionalverkehr der Deutschen Bahn unterwegs, um auf Sylt nach Chaos und Ballermann zu suchen und stattdessen sonnige Glückseligkeit am Strand von Westerland zu finden. Nun will sie wieder an die Nordsee; zurück nach Westerland.

Zitiervorschlag

9-Euro-Ticket, Sylt und Strafrecht: . In: Legal Tribune Online, 25.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48845 (abgerufen am: 15.11.2024 )

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