Der Gesetzgeber erlaubt in der StPO zwar Absprachen, hat sie aber dort sehr schwammig ausgestaltet. Wann und wie oft das an deutschen Gerichten zu fragwürdigen Deals führt, hat jetzt eine Studie untersucht, die Peggy Fiebig vorstellt.
Als "verheerend für das Ansehen der Justiz" bezeichnete einstmals der frühere Präsident des Bundesgerichtshofes (BGH), Klaus Tolksdorf, die Absprachen in Strafprozessen. Das war im Januar 2009, noch während der Diskussionen um ein neues Verständigungsgesetz, mit dem die Praxis "in weitem Umfang Vorgaben für Zustandekommen und Inhalt der Verständigung" erhalten sollte.
Der nach Änderung durch den Rechtsausschuss des Bundestages vor gut zehn Jahren schließlich verabschiedete neue § 257c Strafprozessordnung (StPO) regelt seitdem die grundsätzliche Zulässigkeit sowie Inhalt, Verfahren und Rechtsfolgen von Verfahrensabsprachen.
Die kritischen Stimmen sind damit aber nicht verstummt. Prof. Dr. Lutz Meyer-Goßner beispielsweise meint in seinem gleichnamigen Kommentar, dass eine Vereinbarung des Gerichts mit den Verfahrensbeteiligten mit dem Grundsatz der gerichtlichen Aufklärungspflicht nur schwer oder gar nicht vereinbar sei.
BVerfG: Regelung zur Verständigung "gerade noch" verfassungsgemäß
Der BGH griff in der Folgezeit immer wieder korrigierend ein und konkretisierte – manch einer sagt: verschärfte – so nach und nach die gesetzlichen Vorgaben. Vor allem aber eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) von 2013 hat der Absprachenregelung konkrete Grenzpflöcke eingeschlagen: Die Karlsruher Richter bescheinigten dem Verständigungsgesetz damals, "gerade noch" verfassungsgemäß zu sein.
Kritikpunkt war dabei weniger die Norm an sich als vielmehr dessen vom Gericht festgestellter "defizitärer Vollzug". Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verteidigung hätten, so die Verfassungsrichter, in einer "hohen Zahl von Fällen die gesetzlichen Vorgaben" missachtet und die Rechtsmittelgerichte seien "der ihnen zugewiesenen Aufgabe der Kontrolle der Verständigungspraxis nicht immer in genügendem Maße nachgekommen". Das wäre allerdings erst dann verfassungswidrig, wenn die gesetzliche Regelung so lückenhaft oder sonst unzureichend wäre, dass sie "informelle" Absprachen, also Verständigungen, die nicht die gesetzlichen Anforderungen erfüllen, strukturell fördern würde, schloss das BVerfG.
Und damit es dazu gar nicht erst kommt, haben die Karlsruher Richter dem Gesetzgeber aufgegeben, die weitere Entwicklung sorgfältig im Auge zu behalten und gegebenenfalls Fehlentwicklungen entgegenzuwirken.
Studie: Es kommt häufig zum Deal
2018 hat deshalb eine Forschungsgruppe aus drei Rechtsprofessoren im Auftrag des Bundesjustizministeriums (BMJV) begonnen, die Praxis – also ob, wann und wie es zu Absprachen im Strafverfahren kommt - zu untersuchen. Prof. Dr. Matthias Jahn von der Uni Frankfurt/M., Prof. Dr. Karsten Altenhain aus Düsseldorf und der Tübinger Kriminologe Prof. Dr. Jörg Kinzig haben mit ihren jeweiligen Teams in den vergangenen zwei Jahren Akten gewälzt und Richter, Staatsanwälte und Verteidiger zu ihren einschlägigen Erfahrungen befragt.
Ziel der Erhebung war es zum einen, einen repräsentativen bundesweiten Überblick über das Aufkommen von Absprachen im Strafverfahren zu bekommen. Zum anderen wollten die Forscher ermitteln, ob es auch nach der Entscheidung des BVerfG in der gerichtlichen Praxis noch Fälle informeller Absprachen gibt.
Diese Evaluation liegt jetzt vor – und das zentrale Ergebnis ist: Ja, Verständigungen jenseits der gesetzlichen Regelungen gibt es nach wie vor. In einer Online-Befragung bestätigten 40 Prozent der interviewten Richter, fast 60 Prozent der Staatsanwälte und sogar mehr als 80 Prozent der Strafverteidiger diesen Befund.
Dabei werde an Amtsgerichten deutlich öfter über die gesetzlichen Stränge geschlagen wird als an Landgerichten.
Regelwidrige Verständigung zwecks Arbeitserleichterung
So werden beispielsweise Transparenz- und Dokumentationspflichten nicht befolgt, gegen das in § 302 StPO enthaltene Verbot eines Rechtsmittelverzichts verstoßen, aber auch eigentlich gesetzlich ausgeschlossene Punktstrafen vereinbart. Und selbst bei nur grober Nennung eines Strafrahmens sei den Beteiligten häufig klar gewesen, in welcher Höhe die Strafe genau ausfallen wird, es sich also um eine verkappte Punktstrafe gehandelt habe, heißt es in der Studie.
Als Grund für eine nicht regelkonforme Verständigung nannten vor allem Richter und Staatsanwälte häufig eine fehlende Praxistauglichkeit: Über 50 Prozent der in Telefoninterviews befragten Richter gaben an, deshalb eine Absprache durchgeführt zu haben. Für Staatsanwälte ist die Bewältigung des Arbeitspensums der Hauptgrund für einen regelwidrigen Deal, für Strafverteidiger die reduzierte Tatsachenaufklärung. Alle Berufsgruppen weisen im Übrigen darauf hin, dass die jeweils anderen Verfahrensbeteiligten ein informelles Vorgehen gewünscht hätten.
Bedauerlich findet Studienmitautor Jahn, dass sich insbesondere Gerichte und Staatsanwaltschaften nicht im gewünschten Rahmen an der Untersuchung beteiligt hätten. "Die fehlende Bereitschaft zur Zusammenarbeit einiger Gerichte ist angesichts der schriftlich vorgelegten Unterstützung, die die Landesjustizverwaltung versprochen hatte, zumindest irritierend und wirft auf die betroffenen Gerichte angesichts der Transparenzforderung des BVerfG kein gutes Licht", so der Rechtswissenschaftler.
"Absprachen ganz zu verbieten, halte ich für den falschen Weg"
Für Jahn folgt aus der Studie, dass der Gesetzgeber jetzt für eine praxistauglichere Regelung der Verständigungen sorgen müsse. "Absprachen ganz zu verbieten, halte ich für den falschen Weg", sagt er gegenüber LTO. "Ich würde mir stattdessen wünschen, dass man zum ursprünglichen Konzept des Verständigungsgesetzes zurückkehrt und die nicht zuletzt durch die Rechtsprechung aus dem Ruder gelaufenen Anforderungen wieder auf ihre ursprünglichen Funktionen zurückführt."
Aus dem BMJV heißt es zurückhaltender, man wolle jetzt prüfen, ob weitere gesetzliche Regelungen erforderlich sind, um Defiziten in der gerichtlichen Verständigungspraxis wirksam zu begegnen. "Die Erkenntnisse aus der Studie ermöglichen uns dazu eine umfassende rechtspolitische Diskussion", sagte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht. Entsprechend haben die Abgeordneten des Rechtsausschusses die Studie nun erhalten.
Studie zu Absprachen im Strafprozess: . In: Legal Tribune Online, 05.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43332 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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