Das BVerfG lehnte es ab, AfD-Politiker vorläufig als Bundestags-Ausschussvorsitzende einzusetzen. In den USA ist das öffentliche Tragen von Waffen ein Grundrecht. Umstrittene Werke bei der Documenta könnten strafbar sein.
Thema des Tages
BVerfG zu AfD-Ausschussvorsitz: Das Bundesverfassungsgericht hat es im Eilverfahren abgelehnt, die von den anderen Abgeordneten nicht gewählten AfD-Kandidaten für den Vorsitz in Bundestagsausschüssen vorläufig einzusetzen. Bei Wahlgängen am 15. Dezember letzten sowie am 12. Januar dieses Jahres waren die AfD-Kandidaten für den Vorsitz des Innen-, Gesundheits- und Entwicklungsausschusses durchgefallen. Dagegen hatte die AfD-Fraktion eine Organklage erhoben und eine einstweilige Anordnung beantragt. Der Zweite Senat des BVerfG entschied nun, dass der Verfahrensausgang zwar offen sei, dass es die Folgenabwägung aber nicht dringend gebiete, eine einstweilige Anordnung zu erlassen. Die Einsetzung der AfD-Politiker als Ausschussvorsitzende würde dem im Wahlergebnis zum Ausdruck gekommenen Mehrheitswillen der Ausschussmitglieder widersprechen. Fehlendes Vertrauen in den vorübergehend eingesetzten Vorsitz könne die Arbeitsfähigkeit des Ausschusses gefährden. Zugleich werde die AfD durch die Vorenthaltung der Ausschussvorsitze nicht daran gehindert, an der politisch-parlamentarischen Willensbildung mitzuwirken. Es berichten LTO (Manuel Göken) und spiegel.de.
Jost Müller-Neuhof (Tsp) meint, das Gericht habe deutlich gemacht, dass an der Organklage der AfD etwas dran sei. Unabhängig vom Verfahrensausgang könnten die übrigen Parteien samt ihrer Fraktionen dies zum Anlass nehmen, ihren damaligen Regelbruch kritisch in den Blick zu nehmen. Parlamentarische Teilhabe sei sensibles Terrain, das nicht leichtfertig zum Kampfplatz gemacht werden sollte.
Rechtspolitik
CETA: Einem Bericht von spiegel.de zufolge haben sich die Fraktionen von SPD, Grünen und FDP darauf verständigt, das CETA-Freihandelsabkommen der EU mit Kanada zu ratifizieren. Dazu wollen sie allerdings Nachbesserungen an dem schon ausgehandelten Abkommen erreichen. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge sagte, dass Investoren nicht mit Klagen Druck auf Umweltauflagen ausüben können sollen. Das Abkommen ist seit 2017 nur vorläufig und ohne den Investorenschutz in Kraft.
Atomkraft: Die FAZ (Timo Frasch) berichtet über ein vom bayerischen Umweltministerium in Auftrag gegebenes Gutachten des Rechtsanwalts Christian Raetzke von Anfang April. Demnach könne das Atomgesetz im Einklang mit dem Grundgesetz geändert werden, um die Laufzeiten einiger Atomreaktoren zu verlängern. Wenn der Gesetzgeber die Berechtigung zum Leistungsbetrieb verlängere oder wiederherstelle, müssten die vorhandenen Genehmigungen nicht geändert oder neu erteilt werden. Bundeswirtschafts- und Bundesumweltministerium halten hingegen eine Neugenehmigung für erforderlich.
Asyl: Die EU-Mitgliedstaaten haben sich auf verschärfte Regeln an den europäischen Außengrenzen geeinigt. So hat der Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten (AStV), das Koordinationsgremium des Rates, beschlossen, dass künftig für alle die EU-Außengrenzen überschreitenden Asylsuchenden die sogenannte Fiktion der Nichteinreise gelten soll. Die Ankommenden sollen einer Art extraterritorialem Vorprüfungsverfahren unterworfen werden, in dem entschieden wird, ob der Zugang zu einem regulären europäischen Asylverfahren gewährt wird. Das sogenannte Screening soll in Registrierungszentren an den Außengrenzen durchgeführt werden. Über die Einigung schreibt die taz (Christian Jakob).
Indigene Völker: In Deutschland ist am gestrigen Donnerstag die Konvention zum Schutz der Rechte indigener Völker der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Kraft getreten. Darin verpflichtet sich Deutschland unter anderem, sicherzustellen, dass indigene Gemeinschaften in Bauprojekte einbezogen werden, die ihre Gebiete betreffen. Dafür soll es Konsultations- und Beteiligungsverfahren geben. Für deutsche Unternehmen im Ausland hat die Konvention wohl keine verbindlichen Folgen. Es berichtet die taz (Jonas Wahmkow).
Normenkontrollrat: beck-aktuell (Tobias Freudenberg) bringt ein Gespräch mit dem neu gewählten Vorsitzenden des Nationalen Normenkontrollrats, Lutz Goebel. Er äußert sich zu den Aufgaben des Gremiums, dessen Beteiligung im Gesetzgebungsverfahren und seiner personellen Zusammensetzung. Entscheidendes Thema wird die Digitalisierung sein. Goebel will sich für einen Leistungsvergleich zwischen Verwaltungen einsetzen und auch für Bürokratieabbau sowie die Stärkung des Bundes gegenüber den Ländern.
Justiz
EuGH – Diesel-Skandal/Nutzungsersatz: Rechtsprofessor Michael Heese schreibt auf beck-aktuell über das Votum des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof zum Dieselskandal. Dieser hatte Anfang Juni befunden, die einschlägige EU-Verordnung schütze auch die individuellen Interessen der Käufer. Schadenshaftung müsse abschrecken und dem Effektivitätsgebot angemessen Rechnung tragen. Eine den Kaufpreisschaden ausschließende Anrechnung der Nutzung sei mit dem Unionsrecht deshalb unvereinbar. Eine solche Anrechnung hatte bislang der Bundesgerichtshof vorgenommen und entschieden, der Kaufpreisschaden könne gegebenenfalls vollständig aufgezehrt werden.
EuGH zu Fluggastdaten-Verarbeitung: Auf dem Verfassungsblog schreibt nun auch der wissenschaftliche Mitarbeiter Christian Thönnes (in englischer Sprache) über das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur sogenannten PNR-Richtlinie. Das Urteil werfe mit seinem Versuch, Sicherheit und Freiheit in Einklang zu bringen, mehr Fragen auf, als es beantworte und schaffe so vorerst erhebliche Rechtsunsicherheit. Der Gerichtshof hätte besser daran getan, die Richtlinie für ungültig zu erklären.
netzpolitik.org (Matthias Monroy) berichtet über mögliche Folgen der Entscheidung für das geplante Europäische Reiseinformations- und Genehmigungssystem (ETIAS). Dieses setzt auf die automatisierte Vorabbewertung von Reisenden mithilfe von Algorithmen. Dem unkontrollieren Einsatz von Selbstlernsystemen und künstlicher Intelligenz hatte der Gerichtshof eine Absage erteilt.
EGMR – Energiecharta: Fünf von Klimakatastrophen betroffene Aktivist:innen (u.a. aus dem Ahrtal) ziehen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um dort die Energiecharta zu Fall zu bringen. Dieser völkerrechtliche Vertrag schütze Investitionen in fossile Brennstoffe und blockiere Maßnahmen für die Energiewende. Mit dem Vertrag ließen sich die Ziele des Pariser Klimaabkommens nicht erreichen. Es berichtet die taz (Kai Schöneberg). Der Energiecharta gehören 53 überwiegend europäische Staaten an. Die Klage begleitet Verhandlungen zu einer Reform.
BVerfG zu Neutralitätspflicht von Merkel: Nun befasst sich auch der Rechtsreferendar* Marvin Damian Hubig auf Juwiss mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Äußerungen der damaligen Bundeskanzlerin Merkel über die AfD. Die Abwägungsgesichtspunkte des Gerichts seien dem Grunde nach bekannt. Dagegen zeige das Sondervotum der Richterin Wallrabenstein treffsicher die Schwächen der Rechtsprechung auf. Auch weiterhin blieben die Wechselwirkungen zwischen Staat und Gesellschaft, die sich aus dem demokratischen Willensbildungs- und Kommunikationsprozess ergeben, unberücksichtigt. Es bleibe zu hoffen, dass eine Veränderung der Rechtsprechung eintrete.
BGH – Haftung von Hostprovidern/LibGen und SciHub: Bei der mündlichen Verhandlung des Bundesgerichtshofs über eine Klage von Wissenschaftsverlagen gegen die Deutsche Telekom hat der Vorsitzende Richter Thomas Koch deutlich gemacht, dass Netzsperren als Mittel gegen Urheberrechtsverletzungen im Internet aus Sicht des Gerichts nur als letztes Mittel in Betracht kommen. Es bestehe die Gefahr, dass auch der Zugang zu legalen Inhalten gesperrt würde. Die Verlage versuchen, eine Sperrung der Seiten der Dienste "LibGen" und "SciHub" zu erreichen, weil dort Artikel und Bücher ohne Zustimmung der Rechteinhaber veröffentlicht wurden. Über das Verfahren berichtet LTO.
BFH zu Trauerrednern: Einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs zufolge können Trauerredner ihre schwarze Kleidung nicht von der Steuer absetzen. Bürgerliche Kleidung, die auch privat getragen werden könne, sei auch dann nicht als Betriebsausgabe absetzbar, wenn sie bei der Berufsausübung getragen werde. Nur Aufwendungen für typische Berufskleidung könnten berücksichtigt werden, so das Gericht laut LTO.
OLG Dresden – militante Antifa/Lina E.: spiegel.de (Wiebke Ramm) schildert Hintergründe zum Kronzeugen Johannes D., der spätestens im August im Verfahren gegen Lina E. und drei Mitangeklagte aussagen will. Die linke Szene hatte sich vor einigen Monaten von D. abgewandt, weil diesem sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden. Dies hatte der Verfassungsschutz ausgenutzt und D. zu umfangreichen Aussagen gebracht. Das Verfahren soll nun noch mindestens bis November dauern.
OLG Frankfurt/M. – Franco A.: Die SZ (Annette Ramelsberger) fasst in einer Seite-Drei-Reportage das Verfahren gegen Franco A. vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. zusammen. Dort steht nach den Plädoyers Anfang Juli nun das Urteil bevor. Nachdem das Gericht anfangs das Verfahren gar nicht eröffnen wollte, hat sich Franco A. dort in den vergangenen 13 Monaten immer weiter um Kopf und Kragen geredet. Die Staatsanwaltschaft hat nun sechs Jahre und drei Monate Haft beantragt.
Recht in der Welt
USA – Waffenrecht: Der US-Supreme Court hat das Recht auf das Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit ausgeweitet. Danach verstößt ein aus dem Jahr 1911 stammendes Gesetz des Bundesstaates New York, wonach Menschen einen triftigen Grund nachweisen müssen, um eine Handfeuerwaffe verdeckt tragen zu dürfen, gegen die Verfassung. Der zweite und der vierzehnte Verfassungszusatz schützten das Recht des Einzelnen, in der Öffentlichkeit eine Waffe mitzuführen. US-Präsident Joe Biden sagte, das Urteil widerspreche "sowohl dem gesunden Menschenverstand als auch der Verfassung". Es berichten FAZ (Sofia Dreisbach) und LTO.
Österreich – Impfpflicht: Der österreichische Gesundheitsminister Johannes Rauch hat die Abschaffung der seit Februar geltenden Impfpflicht angekündigt. Diese bringe niemanden zum Impfen, so Rauch laut LTO. Die ÖVP-Grünen-Regierung hatte die Impfpflicht schon im März ausgesetzt, weil sie bei der herrschenden Omikron-Variante unverhältnismäßig sei.
Sonstiges
Documenta und Antisemitismus: In einem Gastbeitrag für die SZ ordnet Rechtsanwalt Peter Raue die Skandalwerke der diesjährigen Documenta als Volksverhetzung im Sinne von § 130 Strafgesetzbuch (StGB) ein. Die Arbeit des Kollektivs Taring Padi sei ein frontaler Angriff auf "Juden, weil sie Juden sind" und könne sich deshalb nicht auf die Kunstfreiheit berufen. Sie hätte keine Sekunde gezeigt werden dürfen.
Die FAZ (Patrick Bahners) befasst sich mit der Idee der Documenta-Leitung, das Werk durch eine erweiterte Installation zu einem Denkmal umzufunktionieren. Dabei hätte sie sich auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur "Judensau" in Wittenberg berufen können, wonach Kontextualisierung eine Schmähung in ein Mahnmal verwandeln könne.
Gezielte Werbung und Diskriminierung: Die Doktorandin Rachel Griffin schreibt auf dem Verfassungsblog eingehend (in englischer Sprache) über bislang unzureichende Schritte in der Regulierung von Diskriminierung bei gezielter Werbung in der EU. Demgegenüber ist es Meta (ehemals Facebook) infolge einer Einigung mit der US-Regierung verboten, diskriminierende Werbung in Bezug auf Wohnungsanzeigen zuzulassen.
Illegale Inhalte bei Soundcloud: In einem Beitrag für LTO befassen sich Rechtsanwalt Martin Gerecke und Referendarin Anne-Kristin Polster mit dem Umgang mit strafbaren Inhalten auf der Plattform Soundcloud. Bei Soundcloud ist fraglich, ob es dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz unterfällt, da dieses für die meisten Pflichten eine Nutzerzahl von mindestens zwei Millionen voraussetzt. Im Übrigen hängt die Verantwortlichkeit der Plattform von der Kenntnis der jeweiligen Rechtsverletzung ab. Weitergehende Pflichten könnte der Digital Services Act der EU begründen, der im kommenden Jahr in Kraft treten soll.
Billigung des russischen Angriffskriegs: Die Rechtswissenschaftlerinnen Dovilė Sagatienė, Anna Wójcik und Paula Rhein-Fischer stellen auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) unterschiedliche Herangehensweisen in Bezug auf die Verbannung russischer Kriegssymbole in Litauen, Deutschland und Polen dar. Während die baltischen Staaten und Polen die Verwendung derartiger Symbole ausdrücklich verboten haben, hat Deutschland keine derartigen Vorschriften erlassen. Eine angemessene Antwort könne gleichwohl über die Vorschriften zum Schutz des internationalen Friedens, der inneren Ordnung und der Menschenwürde gefunden werden.
Recht und Psychologie: Rechtsprofessor Jens Kersten beschreibt auf dem Verfassungsblog eine Hinwendung des Rechtsdiskurses hin zur Psychologie. Es bestehe in der Gesellschaft eine Notwendigkeit individueller Verhaltensänderungen, um die Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens zu gewährleisten. Dem Recht komme die Aufgabe zu, individuelle Gewohnheiten und soziale Praxen zu verändern. Um die bestehende Lücke zwischen Sein und Sollen zu schließen, rezipiere das Rechtssystem psychologische Konzepte.
Kosten des Dieselskandals: Der Dieselskandal ist laut dem Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft der teuerste Schaden in der Geschichte der deutschen Rechtsschutzversicherungen. Bislang haben die Rechtsschutzversicherer rund 1,4 Milliarden Euro ausgezahlt. Seit Bekanntwerden des Skandals im Jahr 2015 haben 407.000 Kunden und Kundinnen die Rechtsschutzversicherungen in Anspruch genommen. Es berichten FAZ-Einspruch (Philipp Krohn) und spiegel.de.
Spendentransporte: Der juristische Mitarbeiter David Wagner erläutert bei LTO ausführlich, was Helfer bei Spendentransporten in die Ukraine beachten müssen, um sich nicht wegen ungenehmigter Ausfuhr nach dem Außenwirtschaftsgesetz strafbar zu machen. Dieses Risiko besteht bei Hilfsgütern, die auch militärisch nutzbar sind, wie Schutzwesten und Schutzhelmen.
Umsätze in Kanzleien: Das Hbl (René Bender/Volker Votsmeier) berichtet über deutlich und stetig steigende Umsätze von Wirtschaftskanzleien. Von den 100 umsatzstärksten Kanzleien legten im Geschäftsjahr 2020/21 insgesamt 81 zu. Besonders erfolgreich war das M&A-Geschäft.
Kanzleigehälter: Das Hbl (René Bender/Volker Votsmeier) berichtet über den Wettbewerb der Großkanzleien um die besten Jura-Absolvent:innen und die infolge dessen immer weiter steigenden Einstiegsgehälter.
D&O-Versicherung: Das Hbl (Volker Votsmeier) schreibt über die elementare Bedeutung von D&O-Versicherungen für Führungskräfte. Mit einer solchen Versicherung können sich Führungskräfte gegen Forderungen des Unternehmens absichern.
*Hier stand zunächst fälschlicherweise "Jurastudent". Das bitten wir, zu entschuldigen. Korrigiert am Tag der Veröffentlichung, 11.03 Uhr.
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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/jng
(Hinweis für Journalist:innen)
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Die juristische Presseschau vom 24. Juni 2022: . In: Legal Tribune Online, 24.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48838 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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