Die juristische Presseschau vom 29. September 2022: Berlin vor Wahl­wie­der­ho­lung / Geh­s­teigs­be­läs­t­i­gungen vor Gesetz­ge­bung / Ebay-Bewer­tung vor BGH

29.09.2022

Der Verfassungsgerichtshof Berlin erwägt Wiederholung der Berliner Pannenwahlen. Die Bundesregierung will Proteste von Abtreibungsgegner:innen kriminalisieren. Der Bundesgerichtshof stellt klar, wo die Grenzen einer Ebay-Bewertung liegen.

Thema des Tages

VerfGH Berlin – Wahlen in Berlin: Der Berliner Verfassungsgerichtshof hält eine vollständige Wiederholung der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den zwölf Bezirksparlamenten für erforderlich. Nach vorläufiger Rechtsauffassung gehen die Berliner Verfassungsrichter:innen davon aus, dass es bei der Vorbereitung und der Durchführung der Wahlen flächendeckend zu schwerwiegenden Fehlern kam und diese Fehler auch mandatsrelevant sind. Die Präsidentin des Gerichtshofs, Ludgera Selting, kritisierte die mangelhafte Wahlvorbereitung, die das Gelingen der Wahl von vornherein gefährdet habe. Es sei unmöglich, das genaue Ausmaß der Wahlfehler zu ermitteln. Die Niederschriften der 2.256 Wahllokale zeigten jedoch, dass es flächendeckend zu chaotischen Zuständen gekommen sei. Bei den dokumentierten Fehlern handele es sich laut Selting lediglich um die "Spitze des Eisbergs". Es sehe danach aus, als könne nur eine vollständige Wiederholung der Wahl das Vertrauen in die Demokratie wiederherstellen. Sollte es dazu kommen, blieben das Abgeordnetenhaus und die Bezirksversammlungen jedoch bis zur Wiederholung der Wahlen, die spätestens Ende März 2023 stattfinden müssten, handlungsfähig. Auch müsse das vergangene Jahr in der Berliner Politik nicht rückabgewickelt werden. Die Vertreter der Landeswahlleitung und der Berliner Innenverwaltung widersprachen der Einschätzung des Gerichts. Es habe sich nicht um eine flächendeckende Häufung von Wahlfehlern gehandelt. Nur drei Wähler:innen hätten sich beschwert, dass sie nicht wählen konnten. Bei der Wahl am 26. September 2021 hatten Stimmzettel gefehlt oder waren zwischen Bezirken vertauscht worden, Wähler mussten stundenlang warten, in fast der Hälfte der 2256 Wahllokale wurde noch nach 18 Uhr gewählt, so dass die Wähler:innen bereits die Wahlprognosen kannten. SZ (Jan Heidtmann), FAZ (Markus Wehner), taz-berlin (Stefan Alberti), Welt (Frederik Schindler), spiegel.de (Hannes Schrader) und LTO (Annelie Kaufmann) berichten. 

Rechtspolitik

Gehsteigbelästigungen: Wie die taz (Christoph Schmidt Lunau/Dinah Riese/Anna Lehmann) berichtet, möchte die Ampelregierung noch in dieser Legislaturperiode ein Gesetz erlassen, das es ermöglichen soll, effektiver gegen Proteste von Abtreibungsgegnern vor Praxen, Kliniken oder Beratungsstellen (sogenannte Gehsteigbelästigung) vorzugehen. Aktuell sei dies kaum möglich, insbesondere nachdem die Verwaltungsgerichthöfe Mannheim und Kassel Anordnungen zum Verbot entsprechender Mahnmachen in der Vergangenheit gekippt hatten.

Kündigungsschutz für Mieter:innen: Ein Bündnis aus Verbänden, darunter der DGB, Mietervereine und Juristenverbände, fordert angesichts der aktuellen Energiepreisanstiege einen "effektiven Kündigungsschutz" für Mieter:innen, um Obdachlosigkeit zu verhindern. In einem offenen Brief an Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) heißt es, die "sogenannte Zahlungsverzugskündigung" sei eines der "brisantesten wohnungspolitischen Problemfelder", denn selbst durch eine Nachzahlung des Mietrückstands könnten bislang nur fristlose Kündigungen, nicht aber ordentliche Kündigungen abgewendet werden. Die taz (Gareth Joswig) berichtet. 

Justiz

BGH zu Ebay-Bewertungen: Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass die Bewertung "Versandkosten Wucher!!" auf der Internetplattform Ebay keine Schmähkritik und damit zulässig ist. Die AGB von Ebay enthielten bezüglich der Zulässigkeit von Werturteilen in Bewertungskommentaren die Vorgabe, dass die Bewertung sachlich sein müsse und keine Schmähkritik darstellen dürfe. Es fehle aber bereits an der Definition, was "sachlich" heißen soll. Es gelte daher nur die Grenze der Schmähkritik. Diese sei bei der Bewertung "Versandkosten Wucher!!" jedenfalls nicht überschritten. Denn Schmähkritik liege nur dann vor, wenn eine Bewertung allein auf die Herabwürdigung des Verkäufers abziele, was hier nicht der Fall sei. FAZ (Katja Gelinsky) und LTO berichten. 

BGH zu Maut-Forderungen aus Ungarn: Der BGH hat entschieden, dass Ungarn die nicht bezahlte Mautgebühr von deutschen Fahrzeughaltern in erhöhter Form nachfordern darf - und zwar auch von Mietwagenunternehmen. Geklagt hatte das Mietwagen-Unternehmen Hertz, das zum einen die Höhe der Gebühren für unzulässig hielt und sich zum anderen dagegen wehrte, als Fahrzeughalter für Mautverstöße seiner Kunden zur Kasse gebeten zu werden. Sowohl die Halterhaftung als auch die Höhe der Gebühren sind aber laut BGH mit deutschem Recht vereinbar. Eine Anknüpfung von Einstandspflichten an die Haltereigenschaft sei dem deutschen Recht nämlich grundsätzlich nicht fremd. Das Urteil der Vorinstanz, in der der Autovermieter ebenfalls unterlegen war, wurde dennoch aufgehoben und das Verfahren an das Landgericht Frankfurt zurückverwiesen, weil die Mautschulden in Euro eingeklagt worden waren statt in ungarischen Forint. LTO und spiegel.de berichten. 

OLG Koblenz – IS-Rückkehrerin: Die Bundesanwaltschaft hat Anklage wegen Beihilfe zum Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen eine IS-Anhängerin erhoben. Sie soll im Dezember 2014 mit ihrem Mann nach Syrien gereist sein und sich dort der Terrororganisation IS angeschlossen haben. Dort soll sich das Paar eine jesidische Sklavin gehalten haben. spiegel.de berichtet.

OLG Stuttgart – Dieselskandal/Porsche-Anleger: Im Prozess gegen die VW-Dachgesellschaft Porsche SE (PSE) im Zuge des Dieselskandals will das Oberlandesgericht Stuttgart die früheren Vorstände von Porsche Wendelin Wiedeking und Holger Härter als Zeugen vernehmen. Als Termin für die Zeugenvernehmung setzte das OLG den 7. Dezember fest. In dem Rechtsstreit geht es um Schadenersatzklagen von Porsche-Anteilseignern. Diese werfen dem Großaktionär von Volkswagen vor, zu spät über den Abgasskandal informiert zu haben. Das Gericht wird zu klären haben, ob und unter welchen Umständen PSE als VW-Dachgesellschaft eigenständig zur Veröffentlichung von Börsen-Pflichtmitteilungen über kursrelevante Vorgänge bei Volkswagen verpflichtet war. FAZ und spiegel.de berichten. 

LG Leipzig – Gil Ofarim: Laut LTO halten die Verteidiger des Musikers Gil Ofarim die Entscheidung über die Zulassung der Anklage durch das Landgericht Leipzig für unwirksam. Grund hierfür sei ein noch nicht beschiedener Befangenheitsantrag. Zugleich stellte die Verteidigung einen weiteren – vierten – Befangenheitsantrag und berief sich darin auf Bloßstellung in der Öffentlichkeit und die willkürliche Versagung rechtlichen Gehörs. Der Sänger ist wegen falscher Verdächtigung und Verleumdung angeklagt, weil er einem Hotelmitarbeiter Antisemitismus vorgeworfen hatte.

LG Köln zu Kindesmissbrauch/Achim Lippoth: Der bekannte Kinderfotograf Achim Lippoth wurde vom Landgericht Köln wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilt. Das Gericht sah als erwiesen an, dass der 54-Jährige drei Kindermodelle in vier Fällen missbrauchte und bezeichnete das Vorgehen von Lippoth als "hochgradig manipulativ". Seine Verteidiger kündigten an, Revision einzulegen. FAZ (Reiner Burger) und spiegel.de berichten.

AG Berlin-Tiergarten zu Festkleben an Autobahn: Wie LTO berichtet, hat das Amtsgericht Berlin-Tiergarten einen Klimaaktivisten wegen versuchter Nötigung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 10 Euro verurteilt. Der 22-Jährige hatte sich vor rund drei Monaten in Berlin bei einer Blockadeaktion der Gruppe "Aufstand der letzten Generation" mit einer Hand an einer vielbefahrenen Straße festgeklebt. 

AG Berlin-Tiergarten – Atteste ohne Untersuchung: Ein Berliner Arzt soll Schüler:innen ohne Untersuchung krank geschrieben haben. Darum muss er sich nun vor Gericht verantworten. Zeugen zufolge hatte seine Praxis einen einschlägigen Ruf. Der Arzt bestreitet die Vorwürfe. Die FAZ (Julia Schaaf) berichtet. 

AG Neunkirchen – Jagdwilderei: Gegen den Hauptangeklagten im Mordprozess um die tödlichen Schüsse auf zwei Polizisten in Rheinland-Pfalz hat nun auch die Staatsanwaltschaft Saarbrücken Anklage erhoben. So bestehe gegen den 39-jährigen Andreas S. der Verdacht der Jagdwilderei und der versuchten gefährlichen Körperverletzung. Die Taten sollen bereits im Jahr 2017 begangen worden sein. Eine Neubewertung der Beweise habe zur Anklage geführt. spiegel.de berichtet.

StA Berlin – AfD-Parteifinanzen: Die Staatsanwaltschaft Berlin ließt u.a. die Bundesgeschäftsstelle der AfD durchsuchen. Dies berichten SZ (Markus Balser), taz (Konrad Litschko), Welt und spiegel.de. Hintergrund sei ein Ermittlungsverfahren gegen den früheren AfD-Bundesvorsitzenden Jörg Meuthen und den ehemaligen Bundesschatzmeister Klaus-Günther Fohrmann. Es bestehe der Verdacht der Untreue und des Verstoßes gegen das Parteigesetz. So enthielten die Rechenschaftsberichte der Partei aus den Jahren 2016 bis 2018 "mutmaßlich fehlerhafte Angaben hinsichtlich Parteispenden". Die Durchsuchungen fanden an sieben Orten in Berlin, Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen statt. Gegen Meuthen, der zwar mittlerweile aus der AfD ausgetreten ist, aber noch im Europaparlament sitzt, wird schon seit Monaten wegen undurchsichtiger Finanzierungen mehrerer AfD-Kampagnen ermittelt. 

Recht in der Welt

Belgien – Gefährdeter Justizminister: Der belgische Justizminister Vincent Van Quickenborne hat auf dringendes Anraten der Sicherheitsbehörden sein Wohnhaus verlassen und ist in ein Safe House gezogen, nachdem eine Entführung, vermutlich von Narco-Kriminellen gescheitert war. Die SZ (Josef Kelnberger) berichtet.

Guinea – Prozess gegen Ex-Militärdiktator: In Guineas Hauptstadt Conakry startet der Prozess gegen den früheren Militärdiktator Dadis Camara und andere ehemals ranghohe Mitglieder des Militärs. Ihnen wird vorgeworfen, am 28. September 2009 mindestens 150 Menschen bei der gewaltsamen Niederschlagung eines Demokratieprotestes getötet zu haben. Die taz (Dominic Johnson) berichtet. 

USA – Strafe gegen Banken: Wie die FAZ (Hanno Mußler) berichtet, verhängte die US-Börsenaufsicht SEC wegen mangelhafter Dokumentation und Speicherung von elektronischer Kommunikation mit den Kunden Strafen gegen insgesamt 16 Banken. Die Deutsche Bank muss die Höchststrafe in Höhe von 125 Millionen Dollar zahlen. Die Deutsche Bank erklärte, sie habe schon vor Beginn der aufsichtsrechtlichen Untersuchung Maßnahmen gegen das Fehlverhalten von Mitarbeitern eingeleitet. So sei die Nutzung privater Handys für Kundengespräche verboten und eine neue technische Lösung für Text- und Chatnachrichten eingeführt worden. 

USA – Reparationen für Sklaverei: Der Politik-Professor Claus Leggewie und die Amerikanistik-Professorin Heike Paul befassen sich in der Zeit ausführlich mit der Debatte um Entschädigungen für die Opfer der Sklaverei in den USA. Der öffentliche Diskurs wurde dadurch angestoßen, dass im Jahr 2014 bei Bauarbeiten auf dem Campus der Georgetown University in Washington, D. C. ein Friedhof mit Leichen entdeckt wurde. Anschließende Recherchen ergaben, dass mindestens 272 Sklaven im Jahr 1838 verkauft worden waren, um die Universität vor dem Bankrott zu retten. Die angesehene Bildungsstätte und der berufliche Erfolg ihrer Absolventen beruhte also auf der Versklavung schwarzer Menschen, was in den USA eine öffentliche Diskussion über die Frage ausgelöst hat, wie Entschädigungsleistungen organisiert werden könnten. 

Italien – Parlamentswahlen: Rechtsprofessor Carlo Fusaro beschäftigt sich auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) mit der Frage, inwieweit die neu gewählte italienische Regierung Reformen auf Verfassungsebene durchsetzen könnte. In einem weiteren Beitrag zu den Parlamentswahlen stellt die Rechtsprofessorin Antonia Baraggia auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) die Frage, ob angesichts der neu gewählten Regierung in Italien die Demokratie in Gefahr ist. In diesem Zusammenhang beschäftigt sie sich insbesondere mit Verfassungsgarantien und der Rolle der EU. 

Slowakei – Justizreform: Der Postdoktorand Peter Čuroš schildert auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) in einem ersten von zwei Teilen die Entwicklung der slowakischen Justizreform.

Juristische Ausbildung

Staatsanwaltschaftlicher Sitzungsdienst: Im Interview mit LTO-Karriere (Katharina Uharek) gibt Tolga Akdemir, Staatsanwalt und Gründer der Plattform "youra.info", Rechtsreferendar:innen Tipps für den staatsanwaltschaftlichen Sitzungsdienst. 

Sonstiges

Ungewollte Veröffentlichung sexueller Bilder: Die taz (Clara Engelien) befasst sich mit "bildbasierter sexueller Gewalt" und hebt hervor, wie schwer es sei, gegen die ungewollte Veröffentlichung von Bildern oder Videos mit sexuellem Inhalt vorzugehen. Laut der Juristin Anja Schmidt von der Uni Halle, hinke die veraltete Gesetzeslage bei Straftaten im Internet der digitalen Realität hinterher. Solange es sich nicht um Kinder- oder Jugendpornografie handele, kämen fast ausschließlich Straftatbestände außerhalb des Sexualstrafrechts in Betracht, etwa eine Verletzung des Rechts am eigenen Bild, die schon allein wegen des geringen Strafmaßes dem Hochladen von Aufnahmen auf eine Pornoseite nicht gerecht werde. Hinzu komme, dass es den Strafverfolgungsbehörden oft an Wissen fehle, weshalb solche Fälle oft auch bagatellisiert und ihre Ermittlung eingestellt würden. 

Pflege-Impfpflicht: Obwohl nach dem novellierten Infektionsschutzgesetz ab dem 1.10. nur als vollständig gegen Covid 19 geimpft gilt, wer dreimal geimpft ist, haben einige Bundesländer nun erklärt, im Gesundheitswesen und in der Pflege bei fehlender dritter Impfung keine Betretungs- und Tätigkeitsverbote auszusprechen, um die Einrichtungen und die Gesundheitsämter nicht noch zusätzlich zu belasten. Nach Auffassung von Rechtsprofessor Joachim Wieland ist die Missachtung der Bundesgesetzgebung klar rechtswidrig. Rechtsprofessor Christoph Degenhart ist dagegen der Ansicht, das Infektionsschutzgesetz sei in diesem Punkt nicht eindeutig formuliert und daher der Auslegung durch die Bundesländer zugänglich. Die Welt (Kaja Klapsa) berichtet. 

Das Letzte zum Schluss

Marder löst Polizeieinsatz aus: Laut spiegel.de hat ein Marder in der Nacht auf Mittwoch einen größeren Polizeieinsatz in Fürth verursacht. Nachdem am Dach eines Discounters ein Alarm ausgelöst worden war, entsandte die Polizei mehrere Streifen und sogar einen Polizeihubschrauber. Die Einsatzkräfte vermuteten, dass sich ein Einbrecher auf dem Dach zu schaffen mache. Eine genauere Überprüfung des Tatorts entlarvte jedoch den wahren Täter: einen Marder, der über das Dach in das Gebäude einzudringen versuchte. 

 

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LTO/bo

(Hinweis für Journalist:innen)  

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 29. September 2022: . In: Legal Tribune Online, 29.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49762 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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