Die juristische Presseschau vom 5. Oktober 2022: Alter­tüm­liche deut­sche Justiz / VG Düs­sel­dorf zu Pflege-Impfpf­licht / Trump gegen CNN

05.10.2022

IBM-Studie beklagt die mangelnde Digitalisierung der deutschen Justiz. Das Tätigkeitsverbot für eine ungeimpfte Klinik-Verwaltungsangestellte ist rechtswidrig. Der Ex-US-Präsident fordert von CNN 475 Millionen Dollar wegen Verleumdung.

Thema des Tages

Digitalisierung der Justiz: Die FAZ (Corinna Budras) fasst das Ergebnis der Studie "Unter Druck – Justiz auf dem Weg ins digitale Zeitalter" des Computerkonzerns IBM zusammen, in der Gerichtspräsidenten und andere Leitungspersonen befragt wurden. Demnach werde mit Bürgern "praktisch kaum" auf digitalem Weg kommuniziert. Die Justiz werde als "altertümlich" wahrgenommen, obwohl eine Digitalisierung "elementar" für den Rechtsstaat sei. Eine Änderung der Strukturen sei daher erforderlich. Die Studie sei auch für die Diskussion um den Digitalpakt relevant, über den Bund und Länder derzeit verhandeln.

Rechtspolitik

Kartellrecht: Auf dem Verfassungsblog analysiert der wissenschaftliche Mitarbeiter Tristan Rohner den Referentenentwurf des Wirtschaftsministeriums zur 11. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Dieser verfolgt das Ziel, den Missbrauch von Marktmacht stärker zu bekämpfen, indem das Bundeskartellamt in Märkte eingreifen darf, ohne dass bereits ein Rechtsverstoß vorliegen muss. Seiner Meinung nach stellt das sogenannte Wettbewerbsdurchsetzungsgesetz einen "Paradigmenwechsel im deutschen Kartellrecht" dar. Das Ministerium beweise "Mut". Der Entwurf schließe "Lücken", die bisher "hingenommen wurden" und stärke den Wettbewerbsschutz.

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Auf Libra befasst sich der Habilitand Frederik Ferreau mit der Frage, ob und wie viel öffentlich-rechtlicher Rundfunk heutzutage noch notwendig ist. So schreibe das Grundgesetz keine Pflicht vor, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten zu errichten. Es müsse jedoch ein Rundfunksystem bestehen, das der Rundfunkfreiheit entspreche. Wichtige Prinzipien seien hierbei "die gesellschaftliche Vielfalt, Staatsferne und ein Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit und Sachlichkeit der Berichterstattung". Die Spielräume der Medienpolitik für eine Reform seien weitreichend. Seiner Meinung nach fehle es jedoch am "Reformwillen der Länder". Er plädiert für weniger lineare Kanäle und eine größere Vernetzung der Anstaltsmediatheken.

Distanzunterricht: Auf Libra diskutiert Rechtsprofessorin Anna Leisner-Egensperger den Entwurf zur NRW-Distanzunterrichtsverordnung, nach der Schulen in Nordrhein-Westfalen künftig selbst entscheiden dürfen, ob Distanzunterricht beispielsweise aufgrund der Corona-Pandemie oder bei extremer Wetterlage stattfindet. Sie weist vor allem auf die psychischen Folgen hin, die mit dem Verzicht auf Präsenzunterricht bei Jugendlichen einhergehen. Der Entwurf habe verfassungsrechtliche Mängel, schließlich könne Distanzunterricht nur "ultima ratio" sein. Die Hürden für einen Wechsel zum Distanzunterricht müssten daher "hoch" angesetzt werden.

Justiz

VG Düsseldorf zu Pflege-Impfpflicht: Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat in einem Eilverfahren entschieden, dass die Stadt Duisburg kein Tätigkeitsverbot wegen fehlender Corona-Schutzimpfung für eine medizinisch-technische Assistentin in der Verwaltung einer Klinik aussprechen durfte. Die Stadt sei mit ihrer Ordnungsverfügung über § 20a Abs. 5 S. 3 Infektionsschutzgesetz (IfSG) hinausgegangen. Ein Tätigkeitsverbot sei dem Schutzzweck der Infektionsbekämpfung entsprechend auf Räumlichkeiten des Betriebes beschränkt und könne nicht generell für alle Tätigkeiten und Tätigkeitsorte, also die ganze Einrichtung und das Home-Office, gelten. Dem Gericht zufolge habe die Stadt daher auch ihr Ermessen im Rahmen der §§ 20a Abs. 1 Nr. 1a, 1h IfSG, auf die sie später abstellte, überschritten. Die Frau hatte geklagt, da sie als Schreibkraft bei einer Betriebsärztin arbeitete und keinen Patientenkontakt hatte. Es berichtet LTO.

BGH zu Ebay-Bewertungen: Nun berichtet auch der SWR-RadioReportRecht (Klaus Hempel) über die Entscheidung des Bundesgerichtshofes zu Nutzerkommentaren auf der Verkaufsplattform Ebay und fasst weitere verbraucherrelevante Urteile zusammen.

LG Hanau zu Sektenmord: Das Landgericht Hanau hat im Prozess um den Mord an einem Vierjährigen vor 34 Jahren die angeklagte 61-jährige Mutter des Jungen aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Laut Anklage soll sie ihn getötet haben, indem sie ihn in einen Sack steckte, diesen zuschnürte und der Anführerin der Sekte übergab. Er erstickte daraufhin an seinem Erbrochenen. Die Mutter sei überzeugt gewesen, der Junge sei die "Reinkarnation Hitlers, ein Machtsadist, von den Dunklen besessen" und würde "von Gott geholt" werden. Dem Gericht zufolge könne jedoch nicht mit der nötigen Sicherheit festgestellt werden, dass die Angeklagte den Sack zuschnürte. Ein alternativer Tathergang sei möglich. Sie habe zudem nichts von einer möglichen Tat der Anführerin gewusst, sodass ein gemeinschaftlich begangener Mord zu verneinen sei. Es schreibt spiegel.de.

LG Neuruppin – Raser: Vor dem Landgericht Neuruppin hat der Prozess gegen einen 24-Jährigen unter anderem wegen Mordes und verbotenen Kraftfahrzeugrennens begonnen. Ihm wird vorgeworfen, im  Juli 2021 betrunken mit seinem Sportwagen einen Unfall verursacht zu haben, bei dem zwei Menschen getötet und zwei weitere verletzt wurden. Laut Anklageschrift wollte er seinen Beifahrer beeindrucken, indem er versuchte, mit dem 510 PS starken Fahrzeug "die höchstmögliche Geschwindigkeit" zu erreichen. Der Angeklagte ließ lediglich verlauten, er könne sich an den Unfall nicht erinnern. Es berichtet spiegel.de.

AG Berlin-Tiergarten – Nazigewalt: Vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten hat der Prozess gegen den Berliner Neonazi Maurice P. unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung und Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen begonnen. Laut Anklage wollte er den Jamaikaner Steve W. aus "Hass gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe"  tödlich verletzen und fügte diesem mit einem Cuttermesser eine Schnittwunde am Hals zu, wobei er die Halsschlagader nur knapp verfehlte. Außerdem wird ihm vorgeworfen, im Juli 2021 vor drei Männern und zwei Frauen zweimal den Hitlergruß gezeigt zu haben. spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet.

AG Ansbach zu Impfstatus auf Kreuzfahrt: Das Amtsgericht Ansbach hat entschieden, dass ein Ehepaar keinen Anspruch auf Rückerstattung des Reisepreises für eine Kreuzfahrt in Höhe von 2000 Euro hat. Dem Ehepaar war der Zugang zum Schiff verwehrt worden, weil es nicht zwei Impfungen mit dem gleichen Impfstoff erhalten hatte. Die Vorgaben der in den USA ansässigen Reederei gingen also über die Regeln des deutschen Robert-Koch-Instituts hinaus. Laut Gericht hätte sich das Ehepaar nicht darauf verlassen dürfen, dass eine internationale Reederei den Vorgaben des Robert-Koch-Instituts folgt, so das Gericht. Es schreibt spiegel.de.

Recht in der Welt

USA – Trump vs. CNN: Der frühere US-Präsident Donald Trump hat gegen den Nachrichtensender CNN im Bundesstaat Florida eine Klage auf Schadensersatz in Höhe von umgerechnet 483 Millionen Euro wegen Verleumdung eingereicht. Er wirft dem Sender eine Kampagne gegen ihn vor. So habe CNN Trump etwa als "Rassisten" oder als "russischen Lakaien" bezeichnet und mit Hitler verglichen. Der Einfluss als angeblich vertrauenswürdige Nachrichtenquelle sei genutzt worden, um ihn "politisch zu besiegen" und habe für Trump "Rufschädigung, Schmerz, Demütigung und seelische Qualen" zur Folge gehabt. Es schreibt spiegel.de.

USA – Zoom-Heirat: Wie die SZ (Kathrin Werner) berichtet, ist es im US-Bundesstaat Utah für Paare unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft möglich, sich über den Videokonferenz-Dienst Zoom trauen zu lassen. Lediglich eine Person (z.B. die Standesbeamt:in) muss in Utah persönlich anwesend sein und die Ehe darf nicht durch das Gesetz von Utah verboten sein. Unterschrieben wird per elektronischer Signatur. Weil in Utah gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt sind, können dort auch Menschen aus Staaten heiraten, in denen solche Ehen verboten sind, ohne nach Utah reisen zu müssen.

USA – Sturm aufs Kapitol: Im Zusammenhang mit den Ausschreitungen des 6. Januars 2021 müssen sich Stewart Rhodes, Gründer der rechten Miliz "Oath Keepers", und vier weitere Mitglieder vor Gericht wegen des Vorwurfs der aufrührerischen Verschwörung verantworten. Rhodes beteuert, die "Oath Keepers" sollten lediglich als Ordnungs- und Sicherheitskräfte eingesetzt werden. Es berichtet die SZ (Fabian Fellmann).

USA – Trump/Dokumente: Wie spiegel.de schreibt, hat Donald Trump im Streit um die Auswertung von Regierungs-Dokumenten, die bei einer Hausdurchsuchung in seiner Residenz "Mar-a-Lago" gefunden wurden, den US-Supreme Court eingeschaltet. Dieser soll die Entscheidung des Berufungsgerichts in Atlanta aufheben, dass die Auswertung der Dokumente ohne Unterbrechung weitergehen kann. 

Russland – Referenden über Annektion: Reinhard Müller (FAZ) sieht in den Referenden über die Zugehörigkeit russisch besetzer Gebiete zur Russischen Föderation eine Pervertierung der internationalen Ordnung und Verhöhnung des Völkerrechts. So werde "das Gewaltverbot, die territoriale Integrität der Ukraine, ihre staatliche Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes" verletzt. Im Ergebnis handele es sich um einen "gewaltsamen Gebietserwerb", der durch die Scheinreferenden lediglich einen "legalen Anstrich" bekommen sollte. Eine gezielte Vertreibung und Ermordung von Bewohnern, entziehe jedoch jeglichem Referendum die "Grundlage".

Niederlande – Bodegraven vs. Twitter: Das Bezirksgericht von Den Haag hat entschieden, dass Twitter von sich aus keine weiteren Schritte einleiten muss, um rechtswidrige Inhalte zu entfernen, die den Ruf der Gemeinde Bodegraven-Reeuwijk schädigen könnten. Im Fall ging es um die Löschung von Tweets, in denen behauptet wurde, in Bodegraven sei in den Achtzigerjahren ein Ring satanistischer Pädophiler aktiv gewesen. Twitter hatte zuvor bereits einen Twitter-Account mit verleumderischen Tweets sperren lassen. Twitter müsse aber lediglich konkreten Löschungsanträgen der Gemeinde nachkommen, berichtet spiegel.de.

Sonstiges

Bundestags-Wahl 2021 in Berlin: Im Wahlprüfungsausschuss des Bundestags haben die Ampelfraktionen vorgeschlagen, dass die Bundestagswahl nur in 300 der 2256 Berliner Wahlbezirke wiederholt werden soll. Bisher hatte die Koalition eine Wiederholung in rund 400 Stimmbezirken für erforderlich gehalten. Ausreichend sei es, wenn in diesen Wahlbezirken nur die Zweitstimme für Parteien neu abgeben werden soll. Eine Neuabgabe der Erststimme sei nicht erforderlich, weil die Wahlfehler für die Direktmandate in den betroffenen Wahlkreisen nicht relevant waren. Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags soll über den Vorschlag der Ampelkoalition noch im Oktober abstimmen. Es schreiben FAZ (Markus Wehner) und taz.

Verfassungsrecht und Geschichte: Tristan Wissgott (FAZ) rezensiert das neue Werk des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht Dieter Grimm "Die Historiker und die Verfassung". Grimm hatte schon lange kritisiert, dass die Historiker die Wirkung des Verfassungsrechts vernachlässigen. Das Buch sei nun Grimms Antwort auf die selbst gestellte Frage und komme zum Schluss: Die Bundesrepublik wird geprägt durch eine umfassende Verrechtlichung von Staat und Gesellschaft sowie deren Sanktionierung durch ein im internationalen Vergleich singulär machtvolles Verfassungsgericht. Die Scharfsinnigkeit von Grimms Werk verpflichte nicht nur die Zeitgeschichte zu einem "constitutional turn", findet Wissgott, sie verpflichte in gleichem Maße die Staatsrechtslehre zu einer historischen Wende.

Rechtsgeschichte - Justiz von 1943 bis 1948: Peggy Fiebig (LTO) befasst sich mit dem neuen Buch des Rechtsprofessors Benjamin Lahusen "Der Dienstbetrieb ist nicht gestört", in dem es um den Alltag in der deutschen Justiz zwischen 1943 und 1948 geht. Mit "ungeheuer viele Detailangaben" und einer "Fülle an Fakten" werde der Rechtsalltag jener Zeit dargestellt und rege Jurist:innen auf kurzweilige und spannende Art und Weise dazu an, über das eigene Berufsbild nachzudenken.

Verfassungsschutz und Klimaaktivist:innen: Ronen Steinke (SZ) kritisiert die Befassung des Verfassungsschutzes mit radikalen Klimaaktivist:innen, die einen Wandel des Wirtschaftssystems fordern. Der Klimaschutz sei ein verfassungsrechtliches Gebot, was auch das Bundesverfassungsgerichts bestätigte. Dagegen sei das Grundgesetz wirtschaftspolitisch nicht auf ein bestimmtes System festgelegt, wie Artikel 15 (Sozialisierung) zeige. 

Kinderpornografie: In einem Interview mit der FAZ (Reiner Burger) äußert sich Sven Schneider, Leiter der Zentralen Auswertungs- und Sammelstelle Kinderpornographie des Landeskriminalamts NRW. Inzwischen seien über fünfzig Prozent der Tatverdächtigen Kinder und Jugendliche, die kinderpornographische Aufnahmen oder Nacktaufnahmen von sich weiterleiten, weil sie nicht wissen, dass dies strafbar ist. Wegen des Legalitätsprinzips müsse die Polizei stets ermitteln. 

BUJ-Kongress: LTO (Martin W. Huff) berichtet über den diesjährigen Kongress des Bundesverbands der Unternehmensjuristen (BUJ) in Berlin, dem größten Zusammenschluss der Unternehmensjuristen. Hauptdiskussionspunkte waren dabei die fehlende Digitalisierung im öffentlichen Sektor und die Überregulierung beim Nachweisegesetz (NachweisG), nach dem Unternehmen ihre Beschäftigten über die wesentlichen Arbeitsbedingungen informieren müssen.


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LTO/ok

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 5. Oktober 2022: . In: Legal Tribune Online, 05.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49797 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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