Die juristische Presseschau vom 12. August 2022: BGH zu Sui­zid­hilfe / BGH zum ewigen Wider­spruchs­recht / Rus­si­scher Spion vor Gericht

12.08.2022

Der BGH erweitert den Anwendungsbereich strafloser Suizidbeihilfe. Laut BGH gibt es kein "ewiges" Widerspruchsrecht ohne schutzwürdiges Eigeninteresse. Am OLG Düsseldorf begann der Prozess gegen einen mutmaßlichen russischen Spion.

Thema des Tages

BGH zu Suizidhilfe: In einer nun veröffentlichen Entscheidung von Ende Juni hat der Bundesgerichtshof die Kriterien zur Abgrenzung einer strafbaren Tötung auf Verlangen nach § 216 Strafgesetzbuch (StGB) von einer straflosen Beihilfe zum Suizid konkretisiert. Die Abgrenzung erfordere eine normative und keine naturalistische Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln. Hintergrund ist der Fall einer ehemaligen Krankenschwester, die ihrem schwerkranken und bettlägerigen Ehemann auf dessen Wunsch eine tödliche Dosis Insulin gespritzt hatte. Darin sah das Landgericht Stendal eine nach § 216 StGB strafbare Tötung auf Verlangen, wobei die Ehefrau das Geschehen aktiv in der Hand gehabt und der Ehemann trotz vollem Bewusstsein nicht mehr die Möglichkeit gehabt habe, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Der BGH sah dies anders. Die von ihm etablierte wertende Betrachtung zeige, dass die Einnahme von Tabletten durch den Mann und die Insulininjektion durch die Frau nach dem Gesamtplan einen einheitlichen lebensbeendenden Akt gebildet hätten, über dessen Ausführung allein der Ehemann bestimmte. Auch eine Strafbarkeit durch Unterlassen schloss der Senat mit der Begründung aus, der freie Sterbewille ihres Mannes habe zu einer situationsbezogenen Suspendierung ihrer Einstandspflicht für sein Leben geführt. Auch zur Verfassungsmäßigkeit des § 216 StGB äußerte sich das Gericht in einem obiter dictum und deutete an, dass die vom Bundesverfassungsgericht für § 217 StGB (geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung) entwickelten Grundsätze auch hier anwendbar seien und § 216 StGB entsprechend verfassungskonform auszulegen ist. § 217 StGB war als Verletzung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben für nichtig erklärt worden. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz zeigt sich nach dem Urteil alarmiert und sieht die Grenze zwischen Suizidbeihilfe und aktiver Sterbehilfe verschwimmen. Es berichten LTO (Alexander Cremer) und spiegel.de.

Rechtspolitik

Corona – Schutzmaßnahmen Herbst/Winter: Für LTO analysiert Rechtsprofessor Thorsten Kingreen die Pläne der Bundesregierung zur nächsten Änderung des Infektionsschutzgesetz (IfSG). Anstatt abstrakt-generelle Regelungen zu schaffen, die auch für künftige Pandemien vorsorgten, führten die geplanten Änderungen vor allem dazu, diejenigen Ermächtigungsgrundlagen zu schaffen, die in den kommenden Wochen und Monaten für nötig erachtet würden. Auch würden Regelungen aus älteren Phasen der Pandemie nicht gestrichen, es kämen lediglich neue hinzu. Dies führe dazu, dass man etwa der Aussage des Bundesjustizministers Marco Buschmann (FDP), dass es keine Schulschließungen mehr geben dürfe, zwar politisch zustimmen könne. Die rechtlichen Grundlagen dafür blieben hingegen weiterhin im Gesetz.

Aus der Hessischen Staatskanzlei kommt Kritik an den geplanten Regelungen zur möglichen Wiedereinführung einer Maskenpflicht in Innenräumen, die so für Betreiberinnen und Veranstalter im Vollzug nicht umsetzbar seien. Auch das Versäumnis, einheitlich zu definieren, von welchem Schwellenwert an entsprechende Verordnungen erlassen werden dürfen, wird laut FAZ (Marie Lisa Kehler) kritisiert.

Chatkontrolle: Auf dem Verfassungsblog erläutern und kommentieren Matthias Bäcker und Ulf Burmeyer, Rechtsprofessor und Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte, den Vorschlag der EU-Kommission für eine "Verordnung zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern". Das Anliegen von hohem Gewicht könne ihrer Ansicht nach auch intensive Grundrechtseingriffe legitimieren. Schon im Ansatz zu weit gehe jedoch die Ermächtigung zu Aufdeckungsanordnungen bei interpersonellen Kommunikationsdiensten ("Chatkontrolle"), die die Vertraulichkeit der betroffenen Daten potenziell flächendeckend und ohne konkreten Anlass aushebele.

Justiz

BGH zu ewigem Widerspruchsrecht: Laut Urteil des Bundesgerichtshofs von Ende Juni kann sich der Versicherungsnehmer einer Lebensversicherung nicht auf ein "ewiges" Widerspruchsrecht gegen den Versicherungsvertrag nach der alten Fassung des § 5a Versicherungsvertragsgesetz (VVG) berufen, wenn er damit eine bloß formal bestehende Rechtsposition ohne schutzwürdiges Eigeninteresse ausnutzen will. Das Widerspruchsrecht folgte im Fall aus der fehlenden Angabe zur Zugehörigkeit des Versicherers zu einem Sicherungsfonds. Eine Frist zur Ausübung hätte somit eigentlich gar nicht zu laufen begonnen. Die Ausübung dieses Widerspruchsrechts sei jedoch rechtsmissbräuchlich i.S.d. § 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), da sie dem Versicherungsnehmer keinen Anlass gegeben hätte, vom Vertragsschluss abzusehen. Rechtsanwalt Holger Grams hat die Entscheidung für beck-aktuell aufgearbeitet.

OLG Düsseldorf – Russischer Spion: Vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf hat das Verfahren gegen Ralph G. begonnen. Dem Reserveoffizier und Mitglied u.a. der Außenwirtschaftskammer der IHK zu Düsseldorf wird vorgeworfen, für den russischen Militär-Nachrichtendienst GRU als Agent in einem besonders schweren Fall i.S.d. § 99 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB) gegen die Bundesrepublik Deutschland und gegen die USA als NATO-Vertragsstaat tätig gewesen zu sein. Zunächst wurde nur die Anklage verlesen. Bis in den Dezember hinein sind 20 Verhandlungstage terminiert. Es berichten FAZ (Reiner Burger), LTO (Tanja Podolski) und zeit.de (Manuel Bogner).

LAG Frankfurt/M. zu Pflege-Impfpflicht: Das schützenswerte Interesse der Bewohner:innen eines Seniorenheims, vor einer Gefährdung ihrer Gesundheit und ihres Lebens bewahrt zu werden, überwiegt das Interesse von Pflegekräften, ihre Tätigkeit ohne Impfung gegen SARS-CoV-2 ausüben zu können. Das entschied laut LTO das Hessische Landesarbeitsgericht und bestätigte damit die erstinstanzlichen Urteile, nach denen die Heimleitung ungeimpfte Pfleger:innen – trotz Arbeitsvertrags – nicht einsetzen muss. Die beiden klagenden Pfleger wurden kurz nach Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht Mitte März von der Arbeit freigestellt, weil sie sich nicht impfen lassen wollten.

VG Düsseldorf zu Affenpocken-Quarantäne: Nun schreibt auch LTO über die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Düsseldorf, das die Quarantäne-Anordnung für den Mitbewohner eines an den Affenpocken Erkrankten trotz Impfung für rechtmäßig erklärte, weil der Impfstoff in der EU noch nicht zugelassen sei.

LG Kaiserslautern – Polizistenmorde von Kusel: spiegel.de berichtet vom elften Prozesstag im Mordprozess zu den zwei getöteten Polizist:innen in Kusel. Vernommen wurde ein Beamter, der den im Prozess bislang schweigenden Mitangeklagten Florian V. nach seiner Festnahme vernommen hat. V. habe zunächst alle Vorwürfe abgestritten, dann aber glaubhaft ausgesagt, dass der Hauptangeklagte Andreas S. den Polizeikommissar und die Polizeianwärterin während der Polizeikontrolle erschossen habe. Die SZ (Gianna Niewel) rekonstruiert zudem anhand des bisherigen Prozessverlaufs das Verhältnis der beiden Männer, die lange Zeit gemeinsam illegal jagten; Florian V. soll vor Andreas S. Angst gehabt haben.

LG Trier – Amokfahrt: Im Prozess um die tödliche Amokfahrt in Trier hat die Verteidigung die Unterbringung des Angeklagten in der Psychiatrie gefordert. Die Staatsanwaltschaft hatte lebenslange Haft für den 52-Jährigen und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld gefordert. Das Urteil soll laut spiegel.de am 16. August verkündet werden.

LG Berlin zu Hells Angels-Mord: LTO berichtet vertieft über die erneute lebenslange Verurteilung eines Hells Angels-Mitglied im Zusammenhang mit einem Überfall auf ein Wettbüro im Jahr 2014, nachdem der Bundesgerichtshof das erste Urteil gegen den Mann aufgehoben hatte. Der Rocker habe zwar Aufklärungshilfe geleistet, seine Angaben gingen aber nicht über den damaligen Erkenntnisstand der Polizei hinaus, so nun das Landgericht Berlin. Der Rocker habe den Ermittlern also nur gezeigt, dass sie auf dem richtigen Weg seien. In der Hauptverhandlung habe er dann sogar versucht, die Aussage rückgängig zu machen oder zu relativieren. Das genüge nicht für eine Strafmilderung als Kronzeuge.

StA Bonn – CumEx/Warburg Bank: Die Staatsanwaltschaft Bonn verlangt insgesamt 190,6 Millionen Euro von der Hamburger Bank M.M Warburg (176,6 Mio.) und einem britischen Aktienhändler (14 Mio.) für Aktienhandel mit der strafbaren Cum-Ex-Methode. Wie das Hbl (Sönke Ingwersen/Volker Votsmeier) erläutert, gehe die Bank derzeit davon aus, ihre Steuerschulden mit Zahlungen von insgesamt 155 Millionen Euro bereits beglichen zu haben. Zusätzlich eine Einziehung zu verlangen, sei nicht rechtens, da es um dasselbe Geld gehe.

Recht in der Welt

Ukraine/Russland - humanitäres Völkerrecht: Im Anschluss an die Kritik von Amnesty International an der Kampftaktik der Ukraine untersucht der akademische Mitarbeiter Simon Gauseweg auf LTO die Vorwürfe am Maßstab des humanitären Völkerrechts. Ein Verstoß etwa gegen das Gebot, die Zivilbevölkerung bestmöglich zu schützen, könne darin liegen, mehrere Kilometer hinter der Front in dicht bewohnten Gebieten militärische Stützpunkte anzulegen.

Russland/Ukraine - Prozess gegen Asow-Kämpfer: Der Kreml plant einen neuen Schauprozess gegen die Kämpfer des Asow-Regimes aus Mariupol. Laut SZ (Sonja Zekri) soll dieser ausgerechnet in der Kammerphilharmonie der Stadt Mariupol stattfinden.

USA – Donald Trump: Nun berichtet auch LTO über die unter Eid geführte Befragung von Donald Trum durch New Yorks Generalstaatsanwältin Letitia James. Dabei habe der frühere US-Präsident wie angekündigt Antworten auf Fragen zu den Geschäftspraktiken seines Unternehmens in New York, die ihn selbst belasten könnten, verweigert. 

In einem Kommentar bezeichnet Claus Hulverscheidt (SZ) die Taktik Trumps, sich als politisch Verfolgten darzustellen als "hanebüchen"; sie werde aber leider von Millionen Amerikanern geglaubt. Der Verwurf wirke allerdings auch deshalb plausibel, weil Letitia James im Wahlkampf um das Amt der Generalstaatsanwältin versprochen hatte, sie werde Trump zur Strecke bringen. Die Wahl von Justizposten stehe dem Bild einer unabhängigen Justiz zunehmend im Wege.

USA – Lynchmord an Emmett Till: Ein weiteres Mal hat es eine Grand Jury abgelehnt, Carolyn Bryant Donham im Zusammenhang mit dem Lynchmord an dem afroamerikanischen Jugendlichen Emmett Till anzuklagen. Die damals 22-jährige weiße Verkäuferin Donham hatte 1955 den 14-jährigen Till beschuldigt, sie in dem Lebensmittelgeschäft begrapscht zu haben, woraufhin ihr Ehemann und ihr Schwager den Jugendlichen verstümmelten und töteten. Zeugen sagten aus, dass Donham und Till nur miteinander gesprochen hatten. Schon 2007 hatte eine Grand Jury darauf verzichtet, Donham anzuklagen. Die FAZ (Christiane Heil) schildert den Fall.

Österreich – hoher Staatsanwalt verurteilt: Wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses und der Falschaussage vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss ist der Oberstaatsanwalt für Wien, Niederösterreich und das Burgenland, Johann Fuchs, zu einer Geldstrafe von 360 Tagessätzen (knapp 72.000 Euro) verurteilt worden. Im Zusammenhang mit einer Anzeige wegen übler Nachrede gegen eine Journalistin soll er laut taz (Ralf Leonhard) seinem ehemaligen Vorgesetzten, dem zu dem Zeitpunkt die Fachaufsicht über die Staatsanwaltschaft bereits entzogen war, per Handy Informationen zugeleitet haben. Vor dem sogenannten Ibiza-Untersuchungsausschuss hat Fuchs dann später wahrheitswidrig behauptet, sich daran nicht mehr erinnern zu können.

Sonstiges

Tesla-Ladesäulen: Weil sie keinen eichrechtskonformen Zähler haben, der eine verlässliche Abrechnung der exakten Strommenge ermöglicht, sind Teslas Ladestationen hierzulande rechtswidrig in Betrieb. Die Ämter verzichten aber derzeit auf die Verhängung von Bußgeldern (bis zu 50.000 Euro) oder die Stilllegung der Ladesäulen, um den Ausbau der Elektromobilität nicht zu behindern, schreibt das Hbl (Claudia Scholz). Es werde dennoch auf eine schnellstmögliche Nachrüstung hingewirkt.

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/jpw

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 12. August 2022: . In: Legal Tribune Online, 12.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49299 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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