Die juristische Presseschau vom 8. Juli 2022: BVerwG bil­ligt Sol­daten-Impfpf­licht / EuGH für Nacht­zu­schläge unzu­ständig / BVerwG stoppt A 20

08.07.2022

Die Corona-Impfpflicht für Soldat:innen ist rechtmäßig, muss aber laufend überprüft werden. Die Vergütung von Nachtschichten ist keine Frage des EU-Rechts. Die Planfeststellung des ersten Teilstücks der A 20 ist rechtswidrig.

Thema des Tages

BVerwG zu Impfpflicht für Soldat:innen: Das Bundesverwaltungsgericht hat nach viertägiger Verhandlung entschieden, dass die seit vorigem November geltende Pflicht für Soldat:innen, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen, rechtens ist. Zwei Luftwaffenoffiziere hatten sich gegen die Impfpflicht gewandt, da die Risiken einer Impfung mit den von der Bundeswehr verwendeten mRNA-Impfstoffen außer Verhältnis zu deren Nutzen stünden. Das Bundesverwaltungsgericht lehnte dies ab, die Impfpflicht sei verhältnismäßig. Das Gericht wies aber darauf hin, dass das Bundesverteidigungsministerium verpflichtet sei, die Impfpflicht zu evaluieren. Sollte sich die Gefahr des Virus verringern und die Wirksamkeit der Impfung nachlassen, müsse dies berücksichtigt werden. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Marlene Grunert) und LTO.

Wolfgang Janisch (SZ) begrüßt in einem gesonderten Kommentar das Urteil, das besonders gut zeige, dass die Immunisierung keineswegs nur eine persönliche Angelegenheit sei, sondern ein wertvoller Dienst an der Gemeinschaft. Wer Zweifler vom Sinn der Corona-Impfung überzeugen wolle, der müsse jedoch auch zeigen, dass er auf veränderte Tatsachen reagiere. Auch Reinhard Müller (FAZ) hält es für selbstverständlich, dass eine solche Pflicht evaluiert werden müsse. Bisher überwögen aber noch die Vorteile der Impfung deren Risiken.

Rechtspolitik

Transgender: Meredith Haaf (SZ) kommentiert die kürzlich von der Bundesregierung vorgestellten Eckpunkte für ein Selbstbestimmungsgesetz, das das viel kritisierte Transsexuellengesetz ablösen soll. Derzeit entzündeten sich gesellschaftlich gefährliche Kämpfe an den Rechte queerer Menschen. Gerade weil es nur wenige trans Menschen gebe und ihre Lebensweisen und Identitäten manchen so fremd erschienen, sei ihnen die Solidarität und der Rückhalt der Mehrheit alles andere als sicher. Demokratien müssten sich jedoch daran messen lassen, wie sie die Schwächsten in ihrer Mitte schützen.

Ersatzfreiheitsstrafe: Auf LTO ordnet Rechtsprofessor Michael Kubiciel den Vorschlag des Bundesjustizministeriums ein, einerseits an der Ersatzfreiheitsstrafe festzuhalten und andererseits durch Änderung des Umrechnungsfaktors die Verbüßungszeit zu halbieren. Er hält den Vorstoß für straftheoretisch wie verfassungsrechtlich klug. Dagegen sei das Ableisten von freiwilliger gemeinnütziger Arbeit anstelle der Ersatzfreiheitsstrafe in der Regel keine Option, u.a. weil häufig psycho-soziale Umstände bereits der regelmäßigen Ableistung irgendeiner Arbeit im Wege stehen. 

Bundestags-Wahlrecht: Florian Gathmann (spiegel.de) hält den aktuellen Vorschlag der Ampel-Koalition für ein neues Wahlrecht für nicht ausgereift, da er vor allem eine Partei benachteilige: die CSU. Der Vorschlag breche mit einem Grundprinzip der Direktwahl in Deutschland, da nicht jede Kandidat:in ins Parlament einziehen würde, die im Wahlkreis am meisten Erststimmen erhalten hat.

Bundesrichterwahlen Wie LTO schreibt, hat der Richterwahlausschuss neun Richterinnen und sechs Richter für den Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht und den Bundesfinanzhof gewählt. Der Artikel gibt auch einen Überblick über gelöste und noch ungelöste Konflikte um Spitzenpositionen an den Bundesgerichten.

Justiz

EuGH zu Nachtzuschlägen: Der Europäische Gerichtshof hat einen Streit um unterschiedlich hohe Zulagen für Nachtschichten in der Lebensmittelindustrie an das Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen. Die EU-Arbeitszeit-Richtlinie enthalte zwar Regelungen zum Gesundheitsschutz bei der Nachtarbeit, aber nicht zu deren Vergütung. Für diese sei ausschließlich nationales Recht maßgeblich. Die Kläger erhielten als regelmäßige Nachtarbeiter nur 20 Prozent Zuschlag, während der Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit bei 50 Prozent liegt. Nun muss das Bundesarbeitsgericht entscheiden, ob in dieser unterschiedlichen Vergütung tatsächlich eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung liegt. Es berichten FAZ (Katja Gelinsky), tagesschau.de (Gigi Deppe) und LTO.

BVerwG zu A 20: Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass die Küstenautobahn A 20 in Niedersachsen vorerst nicht gebaut werden darf. Der Planfeststellungsbeschluss für ein erstes Teilstück zwischen Westerstede und Jaderberg sei "rechtswidrig und nicht vollziehbar". Konkret wurde die Stickstoffberechnung für das Fauna-Flora-Habitat-Gebiet Garnholt bemängelt. Der Umweltverband BUND, der gegen den Autobahnbau geklagt hatte, begrüßte die Entscheidung, bemängelte aber, dass das Gericht sich zu den zentralen Themen wie Kilmaschutz und Bedarf nicht geäußert habe. Es berichten taz (Eiken Bruhn) und LTO.

BVerfG zu Interview mit Häftling: Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidung einer Justizvollzugsanstalt beanstandet, die einem Sicherungsverwahrten ein Interview mit dem WDR über "Alternativen zur Strafhaft" untersagt hatte. Der psychologische Dienst der JVA hatte das Verbot damit begründet, dass das Interview die narzisstische und dissoziale Persönlichkeit des Beschwerdeführers bestärken könnte. Dadurch wurde der Häftling jedoch in seinem Recht auf Meinungsfreiheit verletzt, wie das Bundesverfassungsgericht feststellte. Es hätte eine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und den Gefahren für eine erfolgreiche Resozialisierung stattfinden müssen. FAZ und LTO berichten.

BFH zu Erbschaftssteuer und Familienhaus: Der Bundesfinanzhof hat entschieden, dass ein:e Erb:in auch ohne steuerliche Nachteile ausnahmsweise bereits nach sieben Jahren aus dem Familienhaus ausziehen kann, wenn die eigene Nutzung des geerbten Hauses aus gesundheitlichen Gründen unmöglich oder unzumutbar ist. Laut Gesetz setzt die Steuerbegünstigung voraus, dass der Erbe nach dem Erbfall zehn Jahre in dem Familienhaus wohnt. Nun muss das Finanzgericht Düsseldorf in dem Fall erneut entscheiden. Es berichtet LTO.

OLG Karlsruhe zu Vermummung: Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat laut LTO entschieden, dass auch gegen das versammlungsrechtliche Vermummungsverbot verstößt, wer auf einer Demo das Gesicht aus Angst vor Repressalien durch politische Gegner:innen verhüllt. Allerdings ermögliche es das Versammlungsgesetz der Versammlungsbehörde, Personen in begründeten Fällen von dem Vermummungsverbot zu befreien.

OLG Frankfurt/M. zu Vorfahrt auf Parkplatz: Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat entschieden, dass auf einem Baumarkt-Parkplatz die Vorfahrtsregel "rechts vor links" nicht gilt, wenn die Fahrgassen des Parkplatzes vorrangig der Parkplatzsuche dienen und nicht dem fließenden Verkehr, wie LTO schreibt. Fahrende seien verpflichtet, in solchen Situationen defensiv zu fahren und die Verständigung mit anderen Fahrenden zu suchen.

OLG München zu Wiesn-Reservierungen: Das Oberlandesgericht München hat laut LTO entschieden, dass eine Eventagentur Tischreservierungen für das Münchener Oktoberfest nicht für ein Vielfaches der ursprünglichen Kosten weiterverkaufen darf. Dies sei unlauter, weil die Festzeltbetreiber den Weiterverkauf solcher Reservierungen ausgeschlossen haben und die Event-Agentur deshalb gar keinen rechtsicheren Anspruch auf einen Platz im Festzelt verschaffen könne. Geklagt hatten die Betreiber des Festzeltes "Ochsenbraterei", denen nun ein Unterlassungsanspruch zusteht, jedoch kein Anspruch auf Schadensersatz.

VG Berlin zu Presserecht/Aussagen von Scholz: Das Verwaltungsgericht Berlin hat in einem Eilverfahren entschieden, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Auskünfte über vertrauliche Äußerungen als Bundesfinanzminister in der Cum-Ex-Affäre erteilen muss, wie der Tsp (Jost Müller-Neuhof) schreibt. Dadurch wird das Kanzleramt nun erstmals verpflichtet, über frühere dienstliche Tätigkeiten eines amtierenden Regierungschefs zu informieren. Anlass der presserechtlichen Auskunftsklage des Tagesspiegels war der Vorwurf des Journalisten Oliver Schröm, Finanzminister Scholz habe ihn in einem Hintergrundgespräch belogen.

VG München zu Quarantäne bei Affenpocken: Das Verwaltungsgericht München hat entschieden, dass die Anordnung an Affenpocken-Infizierte, über einen Zeitraum von 21 Tagen die Wohnung nicht zu verlassen, rechtens ist. Das Gesundheitsamt hatte damit argumentiert, dass das Virus nicht nur durch Geschlechtsverkehr, sondern auch durch Kontakt mit kontaminierten Gegenständen übertragen werden könne. Es berichtet LTO.

AG München zu Hetze gegen Polizei: Das Amtsgericht München hat einen Mann zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt, der gegenüber Polizeibeamt:innen unter anderem geäußert hatte, diese sollten genauso erschossen werden wie die Polizeianwärterin und der Polizist in Kusel. Das Gericht verurteilte den Angeklagten unter anderem wegen der Belohnung und Billigung von Straftaten, des Verunglimpfens des Andenkens von Verstorbenen sowie Beleidigung. Der Mann hatte betrunken in und vor seiner Wohnung randaliert und die Polizisten bei der Festnahme unter anderem auch rassistisch beschimpft. Die FAZ (Karin Truscheit) berichtet.

BGH-Jahresbericht 2021: Der Bundesgerichtshof hat seinen Jahresbericht für 2021 vorgelegt, wie LTO (Tanja Podolski) berichtet. Sowohl bei den Zivil- als auch bei den Strafsachen lagen die Zahlen der Eingänge höher als in den Vorjahren, auch konnten die Richer:innen geringfügig mehr Verfahren erledigen. Strafsachen waren in der Mehrheit der Verfahren nach sechs Monaten abgeschlossen, bei Zivilsachen lag die Verfahrensdauer mehrheitlich zwischen einem und zwei Jahren. Außerdem wird ein neuer Anbau für den Gerichtshof errichtet.

Recht in der Welt

Volksrepublik Donezk - Todesurteile: Rechtsprofessor Stefan Oeter widmet sich auf LTO einer Entscheidung des Obersten Gerichts der separatistischen Volksrepublik Donezk, das drei Ausländer zum Tode verurteilt hat, obwohl diese nicht unter die international etablierte Definition des "Söldners" fielen. International werden die Urteile nicht anerkannt, da die Volksrepublik keine Staatsqualität habe.

EGMR/Griechenland – Bootsunglück mit Geflüchteten: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass Griechenland 330.000 Euro Entschädigung an 16 Geflüchtete zahlen muss, die im Winter 2014 ein Bootsunglück vor der griechischen Küste überlebten. Die griechischen Behörden hätten nicht ausreichend aufgeklärt, ob das Boot im Zuge einer Pushback-Aktion kenterte. Außerdem sei die Küstenwache nicht ausreichend ausgestattet gewesen und habe zu langsam auf das Unglück reagiert. Dass sich die Überlebenden nach dem Unglück nackt untersuchen lassen mussten, wurde als erniedrigende Handlung eingestuft. Es berichtet LTO.

EuGH/Österreich – Rente und Kindererziehung: Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass Österreich die Kindererziehungszeiten in anderen EU-Staaten bei der Rente berücksichtigen muss, wie FAZ (Katja Gelinsky) und spiegel.de berichten. Sonst käme es zu einer Benachteiligung der Betroffenen aufgrund der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit. Geklagt hatte eine Rentnerin aus Österreich, die zunächst in Österreich gearbeitet hatte und dann nach Belgien und später nach Ungarn gezogen war, wo sie ihre Kinder großgezogen hatte und nicht berufstätig war. Die österreichische Pensionsversicherungsanstalt hatte die Kindererziehungszeiten außerhalb Österreichs zunächst nicht anerkannt.

Italien – Brückeneinsturz: In Genua hat mit 59 Angeklagten, mehr als 200 Anwält:innen sowie 180 Zeug:innen und Gutachter:innen der Prozess um die Morandi-Brückenkatastrophe vom 14. August 2018 begonnen, bei der 43 Menschen starben, wie FAZ (Matthias Rüb) und spiegel.de berichten. Wegen des Umfangs des Verfahrens und des großen öffentlichen Interesses sei ein beispielloser logistischer Aufwand für den Prozess betrieben worden. Den Angeklagten werden fahrlässige Tötung in 43 Fällen, schwere Verstöße gegen die Verkehrssicherheit, Falschaussage und Dokumentenfälschung sowie die Unterlassung von Amtshandlungen vorgeworfen. Mit einem Urteil sei kaum vor 2024 zu rechnen.

UN-Menschenrechtsrat: Die SZ (Isabel Pfaff) berichtet über die 50. Sitzung des 2006 ins Leben gerufenen UN-Menschenrechtsrats, bei dem es um eine Art Klima-Menschenrecht ging. Der Rat hat die Aufgabe, die weltweite Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen und voranzubringen. Er steht aber unter anderem in der Kritik, da seine Mitglieder zu zwei Dritteln keine Demokratien sind und es Staaten wie China gelingt, Untersuchungen zu ihren Menschenrechtsverstößen zu verhindern. UN-intern gilt der Menschenrechtsrat als eher funktionierendes Gremium, weil mit Mehrheit entschieden wird und es keine Vetorechte (wie im UN-Sicherheitsrat) gibt. 

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/ls

(Hinweis für Journalist:innen) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 8. Juli 2022: . In: Legal Tribune Online, 08.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48981 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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